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19.06.2017

Lange genug auf der Wartebank

19.06.2017
Beitrag in der Zuger Zeitung vom 19. Juni 2017 über den syrischen Hospitanten Abdulmalik Baker an der Kantonschule Zug.
Abdulmalik Baker fühlt sich im Kreise seiner Schulkollegen wohl (Bild: Maria Schmid)
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Abdulmalik Baker fühlt sich im Kreise seiner Schulkollegen wohl

Der bald 21-jährige Syrer Abdulmalik Baker bietet alles, was die Gesellschaft von einem Flüchtling erwartet: Er spricht Deutsch, sogar Schweizerdeutsch, hat Schweizer Freunde und die Zusage für eine Lehrstelle. Trotzdem packt er vielleicht seinen Rucksack.

«Hätte ich diese Freunde hier nicht, wäre ich wahrscheinlich längst in einem anderen Land, um es dort zu probieren», Abdulmalik Baker, bald 21 Jahre alt, aus der Stadt al-Hasaka im kurdischen Teil von Syrien, steht in einem Klassenzimmer der Kantonsschule Zug vor der Tafel. Es ist gerade Biologieunterricht, das Thema heisst Evolution. Die Schüler der Klasse 5L müssen zum Einstieg ins Thema Begriffe auf die Tafel schreiben, die ihnen dazu einfallen, so auch Baker, der die meisten seiner Kollegen überragt.

Er fühlt sich sichtlich wohl im Klassenverbund, hin und wieder lacht er einem seiner Mitschüler zu und dieser zurück. «Er ist mein Kollege, es ist ein tolles Erlebnis, ihn hier zu haben», sagt etwa der 17-jährige Pascal Strauch aus Zug. Auch Gregor Achleitner, der Fachlehrer Biochemie der Klasse, zeigt sich begeistert: «Er ist aufgestellt, freundlich, interessiert, beherrscht die Sprache gut, ist offen und kommt gut bei den Mitschülern an.» Und vor allem sei er kompetent. «Der Unterricht hier ist anspruchsvoll, ich bin immer wieder erstaunt, wie viel er schon weiss.» Er sei ehrlich gesagt etwas unsicher gewesen, als es vor den Frühlingsferien geheissen habe, es käme ein syrischer Flüchtling als Hospitant in die Kantonsschule. «Diese Situation dort durchschaut man ja nicht.» Doch als er Abdulmalik dann kennen lernte, sei er einfach nur positiv überrascht gewesen. «Manchmal politisieren wir sogar ein bisschen, es ist spannend, sich mit ihm auszutauschen.»

Entweder zur Armee oder zur PKK
Diese Einschätzung teilt er mit all seinen Lehrerkollegen, vor allem mit dem Geschichtslehrer Alexander Brogli, ohne den der junge Syrer heute nicht in der Kantonsschule wäre. Doch um zu wissen, wie Baker überhaupt in Broglis Obhut gelangte, muss man erst einmal wissen, wie er überhaupt in die Schweiz kam. Er ist kein Armutsflüchtling. Sein Vater arbeitete als Ingenieur und war beruflich auch oft im Ausland. «Als ich geboren wurde, war er gerade in Korea», erinnert er sich. Seine Mutter war Lehrerin. Die Familie gehört also zur Mittelschicht. Doch der Krieg in Syrien unterscheidet nicht zwischen Arm und Reich oder Alt und Jung. Als Abdulmalik in Aleppo seinen Mittelschulabschluss machte, bekam den Krieg zum ersten Mal in voller Wucht zu spüren. Dann wollte er Informatik studieren. Wie sein Vater hat er eine technische Affinität. Doch vor dem Studium hätte er erst ins Militär gemusst. «Sowohl die PKK, die in unserem Gebiet aktiv ist, als auch die syrische Armee beanspruchen die jungen Leute, um sie in den Krieg schicken. Ich wollte aber niemanden umbringen.» Seine Mutter schickte also ihn und seinen Bruder, der vier Jahre älter ist und heute in Luzern in einem Kebab-Imbiss arbeitet, Richtung Europa. Das war vor etwa drei Jahren.

Über drei Ecken die Familie Könz kennen gelernt
Auf der Flucht hatten die beiden dann diverse schlechte Erlebnisse, unter anderem wurden sie mehrmals ausgeraubt. In der Türkei lernte er dann aber eine Amerikanerin kennen, die ihn bat, etwas vom Englischen ins Türkische zu übersetzen. «Sie sagte mir, dass ich mich bei ihr melden solle, wenn ich es nach Europa geschafft hätte.» Über das Meer kam er dann nach Griechenland, auf einem Laster nach Österreich und dann mit dem Zug in die Schweiz. Als er dann vom Bund dem Kanton Zug zugeteilt war, wo er derzeit in der Asylunterkunft Choller lebt, griff er zum Handy. «Ich rief die Amerikanerin an.» Doch sie kannte niemanden in der Schweiz, jedoch in Frankreich. Und die Frau, die sie in Frankreich kennt, ist verwandt mit der Familie Könz in Oberägeri. «Plötzlich erhielt ich ein SMS, ob ich mich treffen wolle.» Es entstand ein reger Kontakt zur Familie.

Der 24-jährige Andreas Könz erinnert sich noch gut. «Ich war einige Zeit im Ausland gewesen und wusste noch nichts, dementsprechend war ich überrascht, als es hiess, ein syrischer Flüchtling würde uns in die Weihnachtsferien im Engadin begleiten.» Das war Weihnachten vor zwei Jahren. Sie verstanden sich auf Anhieb gut. Auch er beschreibt Abdulmalik Baker als sehr engagierten Menschen. «Er wollte unbedingt Deutsch lernen und investiert sehr viel Zeit.» Auf seine guten Sprachkenntnisse angesprochen, antwortet Abdulmalik in der gleichen Sprache, wie die Frage gestellt wurde, auf Schweizerdeutsch: «Bevor ich herkam, konnte ich Kurdisch, Arabisch und Englisch, ich wusste also, wie Sprachen funktionieren. Dann besorgte ich mir in der Bibliothek sofort Bücher, mit diesen und mit Hilfe von Youtube-Videos klappte es.» Denn dass Flüchtlinge ohne Aufenthaltsstatus den Deutschunterricht finanziert erhalten, ist nicht vorgesehen. «Die Integrationspauschale vom Bund ist für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene bestimmt, und nicht für Personen im laufenden Asylverfahren», erklärt Jris Bischof, die Leiterin des kantonalen Sozialamtes. «Optimal ist dies nicht, besser wäre es, wenn sie Deutsch lernen könnten und somit sinnvoll beschäftigt wären. Deswegen haben wir unter anderem auch ein neues Konzept erarbeitet.» (Siehe Ausgabe vom 3. Juni.)

Erst wollte er hier studieren
Anfang 2017 dann äusserte Abdulmalik der Familie Könz gegenüber den Wunsch, an die Kantonsschule zu gehen. «Ich habe Kollegen, die in Deutschland an einem Gymnasium den Unterricht mitbesuchen konnten. Sein Ziel war dadurch das Studium, das er in Syrien nicht machen konnte, doch zu absolvieren. Abklärungen mit der Hochschule Luzern hatten ergeben, dass sein Abschluss zwar akzeptiert wird, er jedoch ein Deutsch-C1-Diplom vorweisen muss. Sie riefen also an der Kantonsschule an. Der Fall ging an den Geschichtslehrer Alexander Brogli, der auch für die Betreuung der Austauschschüler zuständig ist. «Ich hatte schon einige ungewöhnliche Austauschschüler, aber das war eine neue Herausforderung, ich wusste, dass es schnell gehen musste.» An der Kantonsschule gebe es den Status des Hospitanten. «Wenn ein Schüler unter Jahr entscheidet, im Sommer in eine Lehre zu wechseln, kann er beispielsweise in diesem Status weiter bis dann am Unterricht teilnehmen, aber ohne benotet zu werden. Er gab Abdulmalik Baker den Status erst probeweise bis zu den Frühlingsferien und dann nach guten Rückmeldungen definitiv bis Sommer und organisierte, dass er das Fach «Deutsch als Zweitsprache» besuchen kann.

Dass der Syrer kein normaler Austauschschüler war, merkte der Lehrer auch im Geschichtsunterricht. «Ich fragte ihn, welche Themen er denn im Geschichtsunterricht an der Mittelschule in seiner Heimat behandelt hätte. Er antwortete: Ach, wissen Sie, die Themen dort waren alle ideologisch verzerrt.» Mittlerweile will Baker nicht mehr in erster Linie studieren. Alexander Brogli findet diese Entscheidung richtig. «Als ich Abdulmalik letztens traf, war er ziemlich durch den Wind. Die türkische Luftwaffe bombardierte an dem Tag seine ­Heimatstadt, dadurch brachen alle Kommunikationswege ab. Er war in grosser Sorge.» Für Abdulmalik sei deshalb besonders wichtig, dass er ein gutes Umfeld und eine klare Ansprechperson in Person eines Lehrmeisters habe. Später könne er dann immer noch studieren.

Fälle ohne Erfolgsaussicht werden priorisiert
Baker bewarb sich daraufhin bei einer IT-Firma in Luzern und bekam die Zusage. Doch freuen kann er sich noch nicht. «Die Schweizer sind die besten Leute auf der Welt», er meint damit die Familie Könz, die Menschen von der Kanti und seinen zukünftigen Lehrmeister, «aber die Bürokraten die schlimmsten.» Damit meint er die Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration (SEM) in Bern. Er wartet noch immer auf seinen Entscheid. Gemäss SEM haben schwach begründete Asylgesuche etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien derzeit Priorität, bei mutmasslichen Bleibefällen aber müsste bei neueren Gesuchen mit einer längeren Wartezeit gerechnet werden. «Die damit verbundene Ungewissheit ist belastend und erschwert die Integration», sagt Jris Bischof. Alexander Brogli hat sogar schon einen Empfehlungsbrief im Namen der Lehrerschaft nach Bern geschickt.

Bekommt Abdulmalik Baker die Aufenthaltsbewilligung bis Anfang August nicht, kann er die Lehre nicht anfangen. Deshalb hat er schon daran gedacht, weiterzuziehen. In der Hoffnung, in einem anderen Land vielleicht schneller die Wartebank verlassen zu können.

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