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31.08.2020

Geschichte und Geschichten

31.08.2020
Beitrag Jo Lang für www.schulinfozug.ch
Jo Lang Foto Christian H. Hildebrand / fotozug.ch
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Sich von einer Gegenwart, die zu denken gibt, auf Spurensuche in der Vergangenheit begeben. Verknüpfung als Aufgabe des Geschichtsunterrichts. Wie ging der Autor als Lehrer einen solchen Geschichtsunterricht an und welche Anknüpfungspunkte sieht er in der Gegenwart?

Von Josef Lang*

Als Historiker unterrichtete ich 37 Jahre lang an einer Gewerblichen Berufsschule, in der die Geschichte im Rahmenlehrplan nicht vorkam. Aber die zwei Aspekte Ethik und Politik dienten ihr als Einfallspforten. Die Tatsache, dass sie nicht vorgeschrieben, aber möglich war, bot die Chance der Gestaltungsfreiheit. Und diese nützte ich aus, um Geschichte so zu thematisieren, wie ich es mir für die Schule wünsche. Ich gehe aus von der Gegenwart, und zwar von einer, die Schülerinnen und Schülern selber zu denken gibt.

Dabei bin ich mir bewusst, dass ich dreifach privilegiert war: Die Schülerinnen waren in einem Alter, in dem sie sich selber, aber auch die Welt entdeckten. Da ich frei war in der Auswahl des Themas, konnte ich von Fragen der Klassen ausgehen. Und selber bin ich promovierter Historiker. Trotzdem glaube ich, dass die Beispiele, die ich bringe, auch für andere Ausgangslagen Anregungen bieten können. Ich verzichte bewusst auf Vorschläge und berichte bloss von eigenen Erfahrungen.

An zwei Beispielen führe ich aus, wie das abgelaufen ist. Und an einem Beispiele lege ich dar, was und wie ich es täte, wenn ich jetzt noch unterrichten würde.

Der Balkankrieg und die Konfessionskriege in der Schweiz

In den 90er und Nuller Jahren stand unsere Schule, die Baugewerbliche Berufsschule im Zürcher Kreis 5, stark im Zeichen des Krieges auf dem Balkan. Viele Lehrlinge hatten Verwandte im Kosovo, in Serbien, Montenegro, Kroatien, Bosnien, Mazedonien. Dazu kam eine wachsende Zahl von Jugendlichen, die mit ihren Familien aus Kriegsgebieten geflohen waren. Nicht zuletzt dank der Volksschule konnten wir die sprachlichen Probleme mit der Zeit ganz gut lösen. Und es gab erstaunlich wenige Konflikte in Klassen, in denen häufig mehrere Kriegsparteien vertreten waren. Was übrigens die Einschätzung bestätigt, dass die Kriege von nationalistischen Eliten geschürt worden waren.

Wenn es im zweitletzten Semester der drei- und vierjährigen Lehren um die Vertiefungsarbeit ging, entschieden sich viele für ihr Herkunftsdorf oder ihre Familiengeschichte, die oft eine tragische war. Viele, Zugewanderte wie Einheimische, stellten sich und mir die Frage: Warum gibt oder gab es Krieg auf dem Balkan und in der Schweiz haben wir Frieden? Ich packte sie als Chance, die konfessionellen Schlachten in der Schweiz zu thematisieren: Den Zweite Kappelerkrieg und die Schlacht am Gubel von 1531, die beiden Villmergerkriege 1656 und 1712, aber auch das Massaker an einer andersgläubigen Minderheit im damals bündnerischen Veltlin mit 500 Toten. Bekanntlich spielten auch im Balkankrieg konfessionelle Zugehörigkeiten eine wichtige Rolle.

Am stärksten ging ich auf die Schlacht am Gubel und auf den Zweiten Villmergerkrieg, die letzte Konfessionsschlacht im damaligen Europa ein. Am 24. Oktober 1531 wurden in unserem Kanton innert kürzester Zeit gegen 800 Protestanten umgebracht. Die Zahl der katholischen Opfer betrug 87. Am 25. Juli 1712 wurden im benachbarten Freiamt innert kürzester Zeit 2000 Katholiken umgebracht. Die Zahl der protestantischen Opfer betrug 200. Gerade die Gefälle in den Zahlen der Gefallenen zeigen, wie viel Hass zwischen den Konfessionen geherrscht hat. Es wurde weiter gemordet, als das Gefecht entschieden war.

Jo Lang. Foto: Christian H. Hildebrand / fotozug.ch
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Jo Lang. Foto: Christian H. Hildebrand / fotozug.ch

Hellebarde und Maschinengewehr

Dabei wies ich die Schülerinnen und Schüler darauf hin, dass es damals viel aufwändiger war, einen Feind umzubringen als in den 1990er Jahren auf dem Balkan. Die Schweiz hat ihre konfessionellen Konflikte zu einem Zeitpunkt ausgetragen, als die Zerstörungskraft eines Tötungsinstruments viel kleiner war, als sie vor 25 Jahren gewesen ist. Um einen Menschen mit einer Hellebarde umzubringen, brauchte der Krieger in der Regel mehrere Schläge. Mit einem Maschinengewehr kann er innert einer Minuten Dutzenden von Menschen das Leben nehmen. Nur so lässt sich ermessen, wie viel mörderische Leidenschaft hinter den 800 Toten Protestanten am Gubel und den 2000 Toten Katholiken in Villmergen steckte.

Natürlich wies ich auch auf die Bestrebungen um eine friedliche Lösung der Konflikte hin. Allerdings kam auch diese – in Form des liberalen Bundesstaates – erst 1848 nach einem Bürgerkrieg und zahlreichen Gefechten und zwei Massakern im Wallis und im Tessin in den 1840er Jahren zustande. Für die Gestaltung der Lektionen standen mir viele Illustrationen und Quellentexte zur Verfügung. Ich wage zu behaupten, dass meine Handwerker und Zeichnerinnen, unabhängig von ihrer Herkunft, am Schluss nicht weniger über die eidgenössischen Konfessionskonflikte wussten als ein Kanti-Maturand. Vor allem aber hatten sie gelernt, dass die Menschen auf dem Balkan nicht von Natur aus gewaltbereiter als die eines Alpenlandes sind. Und dass Versöhnung möglich ist, sofern friedensverträgliche Alternativen entwickelt werden. Dass aber dafür der gute Wille nicht reicht. Es braucht dazu auch gute Institutionen.

Die „Judenbengel“ im „Missisippi Burning“

Das zweite Beispiel ist etwas kürzer, auch weil es weniger Lektionen brauchte. In den beiden Jahrzehnten nach 9/11, mit den Afghanistan-, Irak-, Libanon- und Gaza-Kriegen wuchsen nicht nur die Muslim-, sondern auch die Judenfeindlichkeit. So begannen junge Muslime Stereotypen zu gebrauchen, die früher vor allem bei uns verbreitet waren. Beispielsweise die Juden sind reich, mächtig und schauen nur für sich. Die Ursache ihrer Judenfeindlichkeit war nicht theologisch, weil der Gottesmordvorwurf im Islam keinen Sinn macht. Sie ist politisch und liegt im Nahost-Konflikt. Um die Schülerinnen und Schüler darauf hinzuweisen, dass in Europa und in den USA lebende Jüdinnen und Juden keine Verantwortung für die Politik Israels tragen, aber eine starke Rolle im Kampf gegen den Rassismus gespielt haben, pflegte ich allen Klassen den Film „Missisippi Burning“ über das Jahr 1964 in den Südstaaten zu zeigen. Dem folgten Informationen und Diskussionen über das Schicksal der Schwarzen in den USA und über die Solidarität von weissen Bürgerrechtlern.

In der Schlüsselszene, in der Klux-Klux-Clan-Mitglieder den schwarzen und die weissen Insassen eines Autos stoppen, um sie darauf umzubringen, wird der Autofahrer „Judenbengel“ genannt. Vor allem die muslimischen Schülerinnen und Schüler, die sich mit den unterdrückten Schwarzen solidarisieren, merken auf! Und stellen danach Fragen. Und ich erklärte ihnen, dass ein Grossteil der weissen Bürgerrechtler, die in den Süden gereist waren, um den Schwarzen bei der Registrierung für die Wahlen zu helfen, Juden waren. Daraus entwickelten sich sehr interessante Diskussionen, auch über die Shoa.

Corona und die Pest

Was würde ich heute thematisieren, wenn ich noch unterrichten würde? Wahrscheinlich würde ich vor dem Corona-Hintergrund die Grosse Pest, die 1246 bis 1353 einem Drittel der Europäischen Bevölkerung das Leben kostete, thematisieren. Ich würde die Klassen darauf hinweisen, dass man damals von Bakterien keine Ahnung hatte. Dieses Nichtwissen führte zum Vorwurf an die Juden, Brunnenvergifter zu sein, was zahlreiche Pogrome, auch in der Schweiz zu Folge hatte. Und ich würde – möglicherweise zuerst in Kleingruppen - eine Diskussion führen lassen: Was wären die gesellschaftlichen und menschlichen Folgen von Corona, wenn wir – wie die Menschen im Mittelalter - keine Ahnung über Viren hätten? Würden auch heute wieder Sündenböcke geschaffen? Wer wären diese? Wie lautet die Prävention gegen Sündenbock-Theorien?

Weiter würde ich aufzeigen, dass schon damals versucht wurde, die Menschen mit rationalen Massnahmen zu schützen. Beispielsweise mit der Erfindung der Quarantäne in Italien. Während 40 Tagen wurden die Menschen gleichsam eingesperrt. Das ist der Ausgangspunkt für Diskussionen um heutige Massnahmen wie auch das Spannungsfeld Freiheit – Sicherheit.

Wie aus meinen Ausführungen ersichtlich wird, halte ich wenig von einem chronologischen Geschichtsunterricht, die in der Bronzezeit oder noch früher anfängt und es dann bis zum Ersten, vielleicht Zweiten Weltkrieg schafft. Die Chronologie spielt eine Logik vor, die die menschliche Geschichte nicht kennt. Vor allem ist es eine Illusion zu glauben, derartige Zeitfolgen seien für Jugendliche nachvollziehbar. Andererseits sind die Schülerinnen und Schüler sehr wohl fähig, von einer Epoche in eine ganz andere zu zappen. Viel wichtiger ist es, die Jugendlichen aufgrund aktueller Fragen in Vergangenheiten zu führen, in denen sich diese Fragen auch schon gestellt haben. So fällt ihnen das Kennenlernen anderer Zeiten leichter. Und sie können sogar aus Vergangenheiten ein paar Lehren ziehen.

Die wichtigste Eigenschaft im Geschichtsunterricht ist der Mut zur Verknüpfung. Und der Mut zur Lücke!

*Josef Lang machte 1973 an der Kanti Zug die Matura. Danach studierte er Geschichte, Philosophie und Literatur an der Uni Zürich. 1978 forschte er in San Sebastian. 1980 schloss er mit dem Lizenziat ab und machte 1981 das Doktorat zum Thema: Die Basken unter Franco. 1981/82 unterrichtete er als Stellvertreter an der Kanti Luzern Geschichte, 1982 bis 2017 an der Baugewerblichen Berufsschule Zürich Allgemeinbildung. Gleichzeitig publizierte er zu historischen und politischen Themen. 1982 bis 1994 gehörte er dem Grossen Gemeinderat der Stadt Zug, 1994 bis 2004 dem Kantonsrat und 2003 bis 2011 dem Nationalrat an. 2012 zog er nach Bern um.

Jüngste Bücher

Publikationen über Zug

  • Georg Joseph Sidler (1782-1861). Bundesprophet im eigenen Zugerland, in: 23 Lebensgeschichten. Der Kanton Zug zwischen 1798 und 1850 (Balmer Verlag, 1998)
  • Die Zuger Wallfahrten nach Einsiedeln – Spiegel der religiösen Entwicklung, in: Zug erkunden. Bildessays und historische Beiträge zu 16 Schauplätzen (Balmer Verlag 2002)
  • Sakrales und Profanes aus dem Zugerland. Beiträge zur Religions- und Kulturgeschichte, Bann Verlag 2007

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