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25.08.2015

Entwicklungspsychologie — Wieso, weshalb, warum?

Wie verändern sich Menschen im Verlauf der Lebensspanne? Wie kommt es zu diesen Veränderungen? Verläuft Entwicklung gleichmässig oder in Sprüngen? Warum entwickeln sich Kinder so verschieden? Wie ...
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Wie verändern sich Menschen im Verlauf der Lebensspanne? Wie kommt es zu diesen Veränderungen? Verläuft Entwicklung gleichmässig oder in Sprüngen? Warum entwickeln sich Kinder so verschieden? Wie kann Entwicklung beeinflusst oder gefördert werden? – Standpunkte von der Antike bis zur aktuellen Kindheitsforschung und einige Implikationen für die pädagogische Praxis.

Von Christine Wolfgramm*

Bereits im vierten Jahrhundert vor Christus interessierten sich Platon und Aristoteles dafür, wie sich Veranlagung und Umweltfaktoren auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Während Platon glaubte, Kinder seien bereits mit angeborenem Grundwissen ausgestattet, war Aristoteles davon überzeugt, dass Kinder sich Wissen allein durch Erfahrung aneigneten. Beide Philosophen waren sich jedoch darin einig, dass Kinder zu Selbstkontrolle und Disziplin erzogen werden müssen, da sie sonst rebellisch und gesetzlos würden (Siegler, DeLoache, & Eisenberg, 2011). Mit derselben Frage nach dem Einfluss von Anlage und Umwelt befassten sich etwa 2000 Jahre später auch der englische Philosoph Locke (1632 - 1704) und der französische Philosoph Rousseau (1712 - 1778). Während Locke wie zuvor Aristoteles davon ausging, das Kind entspreche bei seiner Geburt eine „tabula rasa", also einem unbeschriebenen Blatt, und müsse vor allem Disziplin lernen, war Rousseau davon überzeugt, dass Kinder alles für ihre Entwicklung Notwendige mitbrächten. Entsprechend sollten Eltern ihren Kindern nach Rousseau maximale Freiheit gewähren, um die natürliche Entfaltung ihrer Anlagen nicht zu beeinträchtigen. Rousseaus Entwicklungsroman "Emile" hatte Einfluss auf die Werke von Pestallozzi, Froebel und Montessori und ist dadurch für die Pädagogik bis heute bedeutsam. Beide Positionen wurden auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Forschern vertreten. Watson beschrieb Lernen und Entwicklung in seiner behavioristischen Theorie als Ergebnis von Erfahrungen mit der Umwelt, insbesondere von Strafe und Belohnung. Sein Zeitgenosse Freud dagegen beschrieb Entwicklung als durch biologische Reifung bestimmt. Menschliches Verhalten, wird nach Freuds Theorie von angeborenen, unbewussten, insbesondere sexuellen Trieben gesteuert.

Anlage und Umwelt – Warum sich Kinder so verschieden entwickeln
Die Diskussion um den Einfluss der Anlage – unserer biologischen Grundausstattung oder auch Genetik – im Verhältnis zur Umwelt – die materielle und soziale Umgebung – ist bis heute aktuell. Sie zeigt sich beispielsweise in der Frage, ob Intelligenz vorrangig angeboren ist oder durch die Erfahrungen in der Kindheit bestimmt wird. Heute sind sich Forschende darüber einig, dass Entwicklung durch ein Zusammenspiel von Anlage und Umwelt geprägt wird. Kinder bringen einerseits unterschiedliche genetische Voraussetzungen mit. Sie werden aber auch in ganz unterschiedliche soziale Umgebungen, Familien, Gesellschaftsschichten und Kulturen geboren. Dabei hängt die genetische Ausstattung eines Kindes von derjenigen der Eltern ab. Kinder mit einem schwierigen Temperament beispielsweise haben mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Eltern, die selbst wenig ruhig und gelassen agieren. Zudem ruft das Verhalten eines Kindes auch bestimmte Reaktionen in ihrer sozialen Umwelt hervor. Ein unruhiges Kind, das schlecht schläft und viel schreit provoziert ein weniger sensibles Elternverhalten als ein einfacheres, ruhiges Kind. Dadurch wird die Veranlagung durch Interaktion mit der Umwelt zusätzlich verstärkt. Mit zunehmendem Alter suchen sich Kinder zudem aktiv Umgebungen aus, die ihrer Veranlagung entsprechen. Motorisch begabte Kinder beschäftigen sich in ihrer Freizeit beispielsweise wahrscheinlicher mit Sport, wodurch ihre Begabung weiter verstärkt wird. Introvertierte Kinder scheuen sich tendenziell davor, in ihrer Freizeit mit anderen Kindern zu interagieren und haben dadurch weniger Gelegenheit, soziale Fertigkeiten zu trainieren. Intellektuell begabte Kinder verbringen mehr Zeit mit Büchern oder Lernmaterialien und können ihre kognitiven Fertigkeiten so weiterentwickeln usw.


Wichtige Entwicklungsaufgaben in der Kindheit – kontinuierliche Entwicklung versus Entwicklungsstufen
Die grossen Entwicklungstheorien, die bis heute Einfluss auf Vorstellungen von Entwicklung haben, entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurden an verschiedenen europäischen Universtäten Lehrstühle zur Erforschung der Kindheit gegründet und Forschende begannen, die psychische Entwicklung systematisch zu erforschen. Freud behandelte als Neurologe psychisch kranke Menschen und gelangte zu der Überzeugung, dass deren Probleme weitgehend in der Kindheit begründet seien. So entwarf er seine Stufentheorie der Entwicklung der Kindheit. In jeder Phase erlebt das Kind nach Freud Konflikte, deren Lösung bestimmend für die psychische Gesundheit bis ins Erwachsenenalter ist. In der oralen Phase steht zum Beispiel die Entwöhnung vom Saugbedürfnis im Zentrum, in der analen Phase die Sauberkeitserziehung usw. Die Primarschulzeit ist nach Freuds Theorie eine Latenzzeit, in der keine spezifischen Konflikte auftreten. Erikson, ein Schüler Freuds, entwarf aufbauend auf Freuds Stufen eine Theorie der psychosozialen Entwicklung. Er formulierte für jede Stufe eine zentrale Entwicklungsaufgabe. Angefangen bei der Aufgabe Urvertrauen zu entwickeln, gefolgt von den Aufgaben Autonomie zu erlangen und Initiative zu ergreifen. In der Primarschulzeit ist die zentrale Aufgabe nach Erikson, sich Wissen und Kulturtechniken anzueignen und Anerkennung durch Leistung zu erlangen. Eine weitere Entwicklungstheorie, die sich an die Stufen Freuds anlehnt, ist die Theorie der moralischen Entwicklung von Kohlberg. Danach orientieren sich Kinder in der Entscheidung, was richtig oder falsch, gut oder böse ist, zuerst an ihren Autoritätspersonen. Etwas wird beispielsweise als falsch angesehen, weil die Kindergärtnerin es verboten hat. Auf der zweiten Stufe stehen eigene Interessen im Vordergrund. Kinder zeigen prosoziales Verhalten, weil sie sich davon eine Gegenleistung versprechen. Auf der dritten Stufe werden Regeln einer Gruppe beachtet. Kinder orientieren sich an den Regeln und Normen ihrer konkreten Bezugsgruppen wie Schule, Familie oder Sportverein. Erst ab der vierten Stufe, die frühestens ab elf Jahren erreicht wird, wird die gesellschaftliche Perspektive, und damit allgemeingültige Regeln und Gesetze berücksichtigt. Anders als bei den bisher genannten Theorien werden die Stufen nicht in aufsteigender Reihenfolge durchlaufen. Je nach Situation kann das moralische Urteil im selben Alter auf unterschiedlichen Stufen beruhen.

Piaget — Theorie, Kritik und Einfluss
Die wohl einflussreichste Entwicklungstheorie ist Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung. Piaget verstand Kinder als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihr Wissen durch ständige, aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt konstruieren. Das Wissen ist in Schemata – Strukturen, die Informationen über Dinge und Ereignisse enthalten – abgespeichert. Schemata können von einem Gegenstand (oder einer Situation) auf einen anderen übertragen werden (Assimilation). Das Schema für einen Apfel enthält beispielsweise Informationen zu Grösse, Form und Textur und beinhaltet, dass ein Apfel essbar ist. Dieses Schema kann auf andere Früchte, beispielsweise einen Pfirsich übertragen, also assimiliert werden. Schemata sind zu Beginn noch unvollständig und fehlerhaft und werden mit jeder neuen Erfahrung wenn nötig angepasst (Akkommodation). Ein Tennisball ist in Grösse und Form einem Apfel beispielsweise ebenfalls ähnlich, er ist aber dennoch keine Frucht und ungeniessbar. Piagets Theorie beschreibt Entwicklung wie die psychoanalytischen Theorien in qualitativen Stufen, also in Sprüngen. Der Säugling befindet sich nach Piaget im sensumotorischen Stadium, da er die Welt vor allem durch seine Sinne und Bewegungen seines Körpers, also motorisch entdeckt. Ab etwa zwei Jahren befinden sich Kinder im präoperativen Stadium. In diesem Alter entwickeln sie symbolische Repräsentationen, sie können sich beispielsweise vorstellen eine Kartonschachtel sei ein Boot und ein Besen das Ruder dazu. Das Denken ist aber noch anschauungsgebunden, es berücksichtigt ausschliessliche die eigene Perspektive und fokussiert auf einen einzigen Aspekt einer Situation. Beim berühmten Umschüttungsversuch denken die Kinder beispielsweise wenn eine Flüssigkeit von einem breiten, tiefen in ein schmales, hohes Gefäss umgeschüttet wird, es sei nun mehr Flüssigkeit geworden. Dies weil sie nur die Einfüllhöhe, nicht aber die Breite des Gefässes berücksichtigen. Ab etwa sieben Jahren gelingt es Kindern im konkretoperativen Stadium, mehrere Aspekte einer Situation gleichzeitig zu bedenken. Sie können auch kompliziertere, logische Regeln anwenden und verschiedene Schemata miteinander kombinieren. Hypothetische Annahmen und abstrakte Vorstellungen auf theoretischer Ebene sind allerdings erst ab etwa elf Jahren im formaloperativen Stadium möglich.

Viele Aspekte der Theorie Piagets, beispielsweise die Schemata, haben bis heute Gültigkeit, wenn auch die heutige Befundlage für eine kontinuierliche Entwicklung und gegen Entwicklungsstufen spricht. Ausserdem entwickeln Kinder ihre Fähigkeiten laut dem aktuellen Erkenntnisstand nicht in allen Domänen gleichzeitig, sondern können in verschiedenen Bereichen einen sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand aufweisen. Ein Zeitgenosse und Kritiker Piagets, Wygotski, erkannte als stärksten Schwachpunkt der Theorie die Vernachlässigung des sozialen Lernens. Kinder treiben ihre Entwicklung zwar auch, aber nicht ausschliesslich in der Auseinandersetzung mit der physikalischen Welt, sondern auch durch Beobachtung und in Interaktion mit anderen an. So ist es einerseits in Anwendung der Theorie der kognitiven Entwicklung wichtig, dass Kinder aktiv und selbstgesteuert durch eigene Erfahrungen lernen können. Gleichzeitig haben aber auch Anleitung und Unterstützung einer erfahreneren Person einen positiven Effekt auf Entwicklung. Im Gegensatz zu Freuds Theorie, die kaum Forschung anregte, entstand aufgrund von Piagets Anregungen ein ganzer Forschungszweig, der bis heute aktiv ist und viele Erkenntnisse über das Denken von Kindern hervorgebracht hat.

Überzeugungen beeinflussen Lehrpersonen und Kinder
Viele entwicklungspsychologische Erkenntnisse haben Auswirkungen auf schulisches Lernen. So haben beispielsweise die Überzeugungen zu Anlage und Umwelt — sowohl der Lehrperson wie auch der Kinder — Einfluss auf den Lernerfolg der Kinder. Sind Schülerinnen und Schüler davon überzeugt, Intelligenz hänge vor allem von Anstrengung ab, haben sie länger Ausdauer beim Bearbeiten von Aufgaben als diejenigen, die glauben, Intelligenz sei angeboren. Damit haben sie eine grössere Chance auf Erfolg und mehr Lerngelegenheit, was sich positiv auf ihre Intelligenzentwicklung auswirkt (z.B. Dweck, 1999). Ebenso können auch die Erwartungen der Lehrperson bezüglich der Begabung eines Kindes den Lernerfolg der Kinder beeinflussen.

Entwicklung fördern
Auch das Vermächtnis von Watson, Piaget und Wygotski hat bis heute Bedeutung für schulisches Lernen. Wer die Mechanismen operanter Konditionierung kennt, kann vermeiden, dass unbewusst unerwünschtes Verhalten konditioniert wird und Belohnungen gezielt einsetzen, um erwünschtes Verhalten zu verstärken. Sowohl das von Piaget beschriebene konstruktivistische, aktive, selbstentdeckende Lernen, wie auch soziales Lernen haben im zeitgemässen Unterricht ihren Stellenwert.
Diese Beispiele zeigen, dass Kenntnisse aus der Entwicklungspsychologie einen Beitrag zur Ausbildung kompetenter Lehrpersonen leisten können. Deshalb gehören die zentralen Lern- und Entwicklungstheorien sowie aktuelle Erkenntnisse aus Psychologie und Erziehungswissenschaften zum Curriculum der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule Zug.

 

 

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