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02.11.2017

Kompetenzen — in der Berufsbildung schon lange

Kompetenz ist immer an eine Situation gebunden, sagt André Zbinden*, Dozent am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung. Im Interview gibt er Auskunft zu einem Thema, das in der ...
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Kompetenz ist immer an eine Situation gebunden, sagt André Zbinden*, Dozent am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung. Im Interview gibt er Auskunft zu einem Thema, das in der Berufsbildung schon lange angekommen ist.

Von Lukas Fürrer

Mit dem Lehrplan 21 soll der Unterricht der Volksschule hin zu einem kompetenz-orientierten Unterricht weiterentwickelt werden. In der Berufsbildung hat die Kompetenzorientierung bereits eine längere Tradition. Was verstehen die Fachleute der Berufsbildung unter Kompetenzorientierung?
Gegenfrage: Woran erkennen Sie, dass eine gelernte Fachperson kompetent ist? Wenn sie den Parkettboden in Ihrem Wohnzimmer ästhetisch und technisch einwandfrei eingebaut hat? Wenn sie Ihren Garten nach Ihren Bedürfnissen und nach den Erfordernissen der Umgebung neu gestaltet hat? Wenn sie Sie im Smartphone-Shop freundlich und fachlich korrekt beraten hat?
Ja? Dann haben wir das gleiche Kompetenzverständnis. In der Berufsbildung – und insbesondere in der beruflichen Grundbildung, um die es im Folgenden geht – verstehen wir unter Kompetenz kurz gesagt die Fähigkeit, berufliche (oder auch private und gesellschaftliche) Handlungssituationen zu bewältigen.

Dies bedeutet erstens, dass die gelernte Fachperson aktiv einen Beitrag zur Lösung eines Problems/einer Aufgabe leistet. Sie handelt und zeigt damit Handlungskompetenz oder Performanz. Damit sind wir bei einer Gemeinsamkeit der Volksschulen mit dem Lehrplan 21 und der Berufsbildung: Lernen soll zu Können führen. Das zweckfreie Auswendiglernen von Faktenwissen ist passé.

Lernende – und auch Schülerinnen und Schüler in der Volksschule – sollen also Kompetenzen aufbauen.
Genau. Der Begriff „Handlungssituation" weist dabei darauf hin, dass das Problem oder die Aufgabe in einen spezifischen Kontext eingebettet ist: Ein Wohnzimmer ist kein Garten, Holz ist nicht Software, die Anforderungen an die Gartengestaltung sind nicht dieselben wie die an die Kundenberatung im Smartphone-Shop. Kompetenz ist immer an eine Situation gebunden.

Und wie lässt sich erkennen, dass jemand kompetent ist?
Um den situativen Anforderungen gerecht werden zu können, müssen die gelernten Fachleute neben geeigneten Tools und Hilfsmitteln auch bestimmte eigene Ressourcen einsetzen: Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen. Expertinnen und Experten beobachten, ob und wie jemand diese Ressourcen beim Handeln einsetzt („aktiviert"). Die Fachfrau/der Fachmann unterscheidet sich von einem Laien wie mir darin, dass er/sie über die richtigen Ressourcen verfügt und diese situationsgerecht aktiviert. Auch ich kann bei Ihnen einen Parkett verlegen. Irgendwie. Aber weil mir die professionellen Ressourcen fehlen, werde ich viel mehr Zeit und Material benötigen, ich werde irreparable Fehler machen, und ich werde die Qualität meiner Arbeit auch nicht an den hohen Ansprüchen des Berufsstandes messen.

Wo ist definiert, welche Kompetenzen in einem Berufsfeld wichtig sind?
Die berufsspezifischen Handlungssituationen sind als Kompetenzbeschreibungen für jede berufliche Grundbildung in einem Bildungsplan dargelegt. Nicht in allen Bildungsplänen werden die Situationen auch so genannt. Manchmal liegen sie „übersetzt" als Kombination von Fach-, Methoden- Sozial und Selbstkompetenzen beziehungsweise als ausformulierte Ziele vor. Die Grundlage der Kompetenzen und Ziele sind aber immer die Handlungssituationen.

Was bedeutet nun Kompetenzorientierung im Berufsbildungsalltag konkret?
Nichts anderes, als dass sich die Lernenden und die Berufsbildungsverantwortlichen in den Betrieben, in den überbetrieblichen Kursen und in den Berufsfachschulen im Lern- und Lehrprozess auf die Handlungssituationen ausrichten. Diese Orientierung ist zentral. Als Lehrperson oder als Lernende/r muss mir immer bewusst sein, wozu oder weshalb ich eine bestimmte Kenntnis oder eine bestimmte Fertigkeit erwerben beziehungsweise vermitteln soll. In der Grundbildung der Informatiker/innen EFZ spricht man treffenderweise von „hanoK" – handlungsnotwendigen Kenntnissen. Welche Inhalte ich als Lehrperson für den Unterricht auswähle, hängt also zuallererst vom Gewicht ab, das diese Inhalte im Leben meiner Lernenden nach dem Abschluss der Grundbildung haben werden.

Schulen und Lehrpersonen gehen folgerichtig mehr und mehr dazu über, eine eigentliche Situationsdidaktik einzusetzen: Gelernt wird anhand von Beschreibungen, Analysen und Bewertungen von realen Situationen, Fällen und konkreten Aufgabenstellungen.

Lässt sich der Zeitpunkt festmachen, an welchem die Kompetenzorientierung in der Berufsbildung Einzug hielt?
Die kürzeste Antwort darauf lautet: Nein. Die Ausrichtung auf „kompetentes" Handeln ist für die Berufsbildung konstitutiv. Seit Menschen andere Menschen Schritt für Schritt in einen Beruf begleiten, dreht sich das Lehren und Lernen darum, die beruflichen Handlungssituationen zu bewältigen. Auch in den Berufsfachschulen und sogar im Allgemeinbildenden Unterricht (ABU) war es von Anfang an ein zentrales Anliegen, sich auf die Handlungssituationen – auf das „Können" – auszurichten. Nicht umsonst wurden die Fächer, die später durch den ABU abgelöst wurden, seit den 1940er-Jahren unter dem Begriff Geschäftskunde zusammengefasst. Paradoxerweise führten aber die zunehmende Professionalisierung der Lehrpersonen an den Berufsfachschulen und die zunehmende Untergliederung des Unterrichts dazu, dass die schulische Bildung sich stärker an disziplinären Inhalten zu orientieren begann, was sich auf die Ausrichtung auf das Können erschwerend auswirkte.

Die ab den 1970er-Jahren geführten Diskussionen um den Kompetenzbegriff haben natürlich auch die Berufsbildung beeinflusst. Mit dem Berufsbildungsgesetz von 2002 und den vorbereitenden Arbeiten etablierte sich der Kompetenzbegriff in den Rechtsgrundlagen und in der breiten Umsetzung. Einen zentralen Einfluss übte die Reform der kaufmännischen Grundbildung aus. Die Reform basierte unter anderem auf der Feststellung einer Studie von Cavadini & Arnold (1997), dass die schulisch erworbenen Kompetenzen schlecht mit der Praxis verknüpft waren („träges Wissen"). Dem wollte man nun auch damit begegnen, dass die Handlungskompetenzen als Orientierungspunkte für alle Lernorte – also auch für die Schule – verbindlich wurden.

Der Begriff „Kompetenzorientierung" taucht meines Wissens in offiziellen Dokumenten des Bundes erst nach 2004 auf, während beispielsweise im Bereich der Gesundheitsberufe oder auch im Zusammenhang mit der Modularisierungsidee der Begriff bereits vor dem neuen Berufsbildungsgesetz verwendet wurde.

In einem Interview mit www.schulinfozug.ch sagte Hans Hess, Präsident SWISSMEM, dass sich die kompetenzbasierte Bildung in der Berufsbildung schon längst bewährt hätte. Trifft das auf das praktische Lernen am Arbeitsplatz gleichermassen wie auf den Unterricht an der Berufsfachschule zu?
Wenn kompetenzbasierte Bildung das Gleiche meint wie kompetenzorientierte Bildung und man als Indikator die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich verwendet: Ja. Denn sonst hätte das dynamische und flexible Berufsbildungssystem schon längst mit Anpassungen reagiert. Die Organisationen der Arbeitswelt hätten in Kommissionen und in der Politik Einfluss auf die schulische Bildung genommen. Oder die Kantone als die wesentlichen Träger der Schulen hätten grössere Veränderungen verlangt.

Wenn die Frage auf den konkreten Stand der Umsetzung anspielt, wird es schwieriger. Wir wissen sehr wenig darüber, wie die verschiedenen Lernorte Kompetenzorientierung verstehen und leben. Zurzeit befasst sich eine nationale Arbeitsgruppe unter der Federführung der Kantone mit der Frage nach dem Umsetzungsstand der Kompetenzorientierung an den Schulen. Vielleicht wissen wir bald mehr.

Kompetenzorientierung bedeutet also, dass es um Anwendung und Kombination von Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen zur Bewältigung von herausfordernden beruflichen Situationen geht. In solchen Situationen (bspw. während eines Verkaufsgesprächs oder bei der Behebung eines mechanischen Defekts) können allerdings nur Ressourcen kombiniert werden, die auch vorhanden sind. Wie tragen die kompetenzorientierten Lehrpläne der Berufsbildung der Fachlichkeit als Fundament für Kompetenz Rechnung?
Im Bildungsplan der Boden-Parkettleger/innen EFZ taucht als Titel des ersten Leistungsziels in der Schule Fachrechnen auf. Das Bewusstsein dafür, dass ein Parkett nicht ohne fachliche Kenntnisse (z.B. des Materials), fachliche Fertigkeiten (z.B. Fachrechnen) und entsprechende Haltungen professionell eingebaut werden kann, ist also zweifellos sehr hoch.

Grundsätzlich gilt dies für alle Berufe, unter anderem weil die Lehrpersonen in die Er- oder Überarbeitung der Bildungspläne immer einbezogen werden. Fachlichkeit – auch im Sinne des Disziplinären, nicht ausschliesslich im Sinne des Berufsfachlichen – verliert nicht an Bedeutung. Ohne fachliche Ressourcen gibt es keine Kompetenz. Die Kompetenzorientierung ermöglicht uns lediglich, die Auswahl der Lerninhalte und das entsprechende Lernen und Unterrichten durch die anvisierten Handlungssituationen und nicht aus einer rein disziplinären Logik heraus klar zu begründen. Kompetenzorientierung bedeutet also nicht, auf Fachlichkeit zu verzichten, es geht um eine andere Blickrichtung: Wir blicken von den Situationen her auf das Fach, nicht umgekehrt.

Anwendbares Wissen ist ein wichtiges Merkmal der Kompetenzorientierung. Gleichzeitig kann Anwendbarkeit nicht das einzige Kriterium für Bildung sein. Bildung ist zwar alles andere als zweckfrei, aber es geht auch ums exemplarische Denken und Lernen, um Grundlagen und Orientierung, um das Hinterfragen, ja auch um innere Erweiterung und Veränderung — kurz: um mehr als unmittelbare Anwendung. Ist das ein Spagat für die Berufsbildung?
Selbstverständlich treffen Lehrpersonen in der konkreten Praxis für jede Unterrichtseinheit Entscheidungen und setzen Prioritäten. Das gehört zum Job. Lehrpersonen sind heute aber mehr denn je gefordert, ihr berufliches Handeln professionell zu begründen. Womit, wenn nicht mit den zukünftigen Herausforderungen (den Handlungssituationen) der Lernenden, begründe ich als Lehrperson mein Tun und mein Lassen? Zu diesen Situationen gehören durchaus auch private und gesellschaftliche Herausforderungen – insbesondere im ABU. Und Situationen zu Beginn eines Studiums oder eines Weiterbildungskurses. Arbeitsmarkt- und Berufsfähigkeit gehen also Hand in Hand mit Gesellschaftsfähigkeit und Studier- bzw. Weiterbildungsfähigkeit.

Für die Bewältigung jeder Situation sind verschiedene Ressourcen notwendig. Die Bedeutung des Faktenwissens als Ressource nimmt ab. Die von Ihnen genannten Ressourcen wie zum Beispiel das Hinterfragen würde ich Kenntnissen vom Typ Konzeptwissen und Kenntnissen oder Fertigkeiten vom Typ prozedurales Wissen zuordnen. Die Bedeutung dieser Ressourcen nimmt zu – wie auch die Bedeutung der eigenen Haltungen. Damit steigen auch die Chancen und der Bedarf für Bildung in einem ganzheitlichen Sinn – Kompetenzorientierung sei Dank!
Der Bundesrat hat schon in seiner Botschaft zum Berufsbildungsgesetz (2000, S. 16) ähnlich argumentiert:

«Der Schule kommt die Aufgabe zu, das situationsbezogene Erfahrungslernen in übergeordnete Zusammenhänge zu stellen, die für eine dauerhafte Orientierung wichtig sind. Im dualen System stellt sich die Frage heute nicht mehr, was Vorrang habe, sondern wie Praxis und Theorie in eine gesamtheitliche Bildung eingebaut werden. (...) Die Berufsschule braucht sich nicht mehr wie früher gegen die Imperative der Praxis und die Lockrufe der Allgemeinbildung mit ihrem eigenständigen Bildungsauftrag zu profilieren.»

Schön, nicht?

*André Zbinden (lic.rer.oec.) arbeitet am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB als Dozent und Leiter des Diplomstudiengangs Allgemeinbildung (ABU). Zuvor war er unter anderem als Lehrer an Berufsfachschulen, Berater in Berufsentwicklungsprozessen und als Verantwortlicher für die Ausbildung von Schulleitenden tätig.

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