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15.06.2020

Wie der SPD mit Daten umgeht

15.06.2020
Wie der Schulpsychologische Dienst des Kantons Zug mit Daten umgeht
PM
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Beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) werden pro Jahr rund 800 verschiedene Schülerdossiers bearbeitet. Welche Daten werden erhoben und was geschieht damit? Welche Daten interessieren den SPD ganz besonders?

Von Peter Müller*

Beim SPD lagern im Moment genau 6933 Dossiers. Für jeden Schüler oder Lernenden führen wir ein separates Dossier. Darin befinden sich alle gesammelten Daten. Im Moment drucken wir die Daten noch aus und legen sie in das Papierdossier ab. Ein grosser Teil der Daten ist auch digitalisiert. Dies erlaubt uns, von extern darauf zuzugreifen; eine wichtige Voraussetzung für die schulnahe Beratungsarbeit. Die Dossiers beinhalten den Anmeldebericht mit den Beilagen, die Auswertungen unserer Tests sowie die Aktennotiz. Diese Notiz ist das wichtigste Dokument im Dossier. Sie zeigt den «Geschäftsverlauf». Durch die Einträge in der Aktennotiz kann unsere Beratungsarbeit nachvollzogen werden. Nur so ist es möglich, dass auch, wenn nötig, ein anderer Berater oder eine andere Beraterin «den Fall» übernimmt. Das Dossier ist so geführt, dass jederzeit der Lernende oder die Erziehungsberechtigten in das Schülerdossier Einblick nehmen können. Da wir Beratung auch auf der Sekundarstufe II anbieten, bewahren wir die Dossiers bis zum 25. Altersjahr auf. Jährlich im Sommer sortieren wir aus und packen die «25-Jährigen» in einen roten Sack, dessen Inhalt dann vom Hausdienst geschreddert wird.

Soweit so gut. Nichts Spezielles, nichts Besonderes. Aber halt: Wir sind doch Psychologen. Welche Daten sammeln Psychologen speziell? Ich weiss: Sie denken an die Tests. Sie haben Recht! Ja, Sie haben das Recht zu erfahren, was wir in der Abklärung tun, welche Daten da gesammelt werden, welche Tests wir durchführen, was wir daraus lesen, wie wir das machen. Die Frage kommt «gerade richtig»: Im Zeitraum März 2019 bis Februar 2020 zählten wir aus: Wir wendeten 1225-mal testpsychologische Verfahren an. Eine ganze Menge heikler Daten kommt da zusammen.

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Fast die Hälfte aller Verfahren (43,8 %) sind Intelligenztests. Der Rest teilt sich auf in Tests zur Messung funktioneller Fähigkeiten (z. B. exekutive Funktionen, Funktionen des Gedächtnisses, 15, 8 %), in Verfahren zur Messung einzelner Persönlichkeitsbereiche (z. B. Emotionsregulation, Lern- und Leistungsmotivation, Aufmerksamkeit, 14,2 %), in Sprachtests (10,9 %), in projektive Verfahren (8,2 %) und in Rechentests (7,2 %). Das grosse Thema, wen wundert’s, sind die Intelligenztests (IQ-Tests).

«Gemäss unseren Unterlagen haben Sie sich mit dem Versicherten schon befasst. Zur Ergänzung unserer Unterlagen bitten wir Sie um Zustellung der vorhanden Berichte (inkl. IQ-Testungen)». Das schreibt die Invalidenversicherung (IV) regelmässig an den SPD. Viele bei uns angemeldete Schüler oder Schülerinnen benötigen bei der beruflichen Eingliederung Unterstützung, mitunter durch die IV. Die IV klärt den Anspruch ab und fragt bei vielen Fällen den SPD für Hinweise zur Intelligenz an. Die am SPD generierten Daten können mithelfen, damit Leistungen zugesprochen werden. Wie gehen wir aber mit der Herausgabe von «IQ-Testungen» um? Sind die Daten geeignet, den Anspruch zu begründen?

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Bera ist 18 Jahre alt. Nach dem Schulabschluss fand sie keine Anschlusslösung. Bei der IV finden deshalb Abklärungen im Hinblick auf Massnahmen zur beruflichen Eingliederung statt. In diesem Zusammenhang wandte sich die IV an uns und verlangt von uns das Zusenden der «IQ-Testungen». Wenn der IQ-Wert unter 70 (geistige Behinderung) liegt, erhält Bera Leistungen von der IV, wenn nicht, «wird’s schwierig». Eigentlich einfach, verständlich … oder nicht? Wir schicken den IQ-Auswertungsbogen mit dem Wert und Bera erhält IV-Leistungen.

Bera kennen wir seit dem Schnuppertag im Kindergarten im Jahre 2007. Ihr Dossier ist 6.5cm dick. Im Verlaufe ihrer Schulkarriere führten wir 12 IQ-Testungen mit 7 unterschiedlichen Verfahren durch. Alle diese Testverfahren messen wissenschaftlich nachgewiesen «objektiv», «reliabel» (zuverlässig) und «valide», d.h. sie messen jene Dimensionen objektiv und zuverlässig, welche das Testverfahren vorgibt zu messen. Die Werte bei Bera: 2007, 2009, 2018: IQ 90-97 (normale Intelligenz), 2006, 2008 und 2010: IQ 79 – 89 (Lernbehinderung), 2010, 2011, 2012, 2019: IQ 58-69 (geistige Behinderung).

Jetzt kommt unsere Profession ins Spiel. Im Studium haben wir gelernt, mit den generierten Daten umzugehen, was mitunter zentral bedeutet, die Daten in einen Kontext zu setzen und zu interpretieren. Wir wissen, dass die Intelligenztestverfahren sehr unterschiedliche Dimensionen und Fähigkeiten messen. Beeinflussend wirkt die aktuelle Verfassung der Schülerin während der Testung und die aktuelle Lern- und Leistungsmotivation. Ganz entscheidend ist auch die Aufwachsgeschichte. Bei sehr vielen Schülerinnen und Schülern ist Deutsch nicht die Erstsprache. Auch haben viele unglaublich schwierige Geschichten erlebt. All diese Faktoren wirken auf die Leistungsfähigkeit und letztlich auf Werte in den einzelnen Verfahren. Es ist die Kunst unserer Profession, all diese Faktoren mit einzubeziehen und daraus den tatsächlichen Bedarf abzuleiten.

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Bera möchte ich helfen. Ich habe mir deshalb überlegt, der IV «einfach» die Testwerte des WNV (Wechsler Nonverbal Scale of Ability) von 2019 zuzuschicken. Der IQ-Wert 66 würde die geistige Behinderung ausweisen. Bera erhielte sehr wahrscheinlich dadurch Leistungen von der IV. Im selben Jahr führten wir aber auch den WAIS-IV (Wechsler Adult Intelligence Scale – fourth Edition) durch. Der Protokollbogen weist einen IQ-Wert deutlich über 70 (Lernbehinderung) aus. Wir wissen, dass die «objektiven» Tests immer im Kontext gesehen und interpretiert werden müssen. Wir schicken keine Auswertungsblätter, sondern erstellen einen Bericht mit Hinweisen zum Entwicklungsprofil, schulischen Werdegang und zur Bildungsfähigkeit. Es wäre so einfach, auch wünschenswert, einen psychologischen Test durchzuführen, um dann genau zu wissen, was los ist. Zum guten Glück ist das nicht möglich. So einfach lässt sich der Mensch nicht vermessen, katalogisieren und beschreiben.

Wir verstehen uns als Fachleute, die gelernt haben, Daten mit wissenschaftlichen Mitteln zu generieren, diese dann aber im Kontext zu sehen und zu interpretieren; mit dem Ziel, Schlussfolgerungen für die Förderung der Schülerinnen, Schüler und Lernenden zu ziehen.


*Peter Müller ist Leiter des schulpsychologischen Dienstes des Kantons Zug. Die Fotos "UrbanJungle" stammen von Michel Gilgen, aufgenommen 2015 zum Thema Entwicklungspsychologie.

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