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Art. 9 BV. Art. 23 ZGB. Art. 2 BewG. Art. 3 Abs. 2 DBG, § 3 Abs. 2 StG

Art. 62 lit. b und 96 Abs. 1 AuG

Regeste:

Art. 62 lit. b und 96 Abs. 1 AuG – Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren wegen versuchter vorsätzlicher Tötung gilt ohne weiteres als längerfristige Freiheitsstrafe im Sinne des Gesetzes. Wegen der Schwere des Delikts und des Verschuldens des Ausländers ist im vorliegenden Fall eine Rücksichtnahme auf die Trennung der Ehegatten nicht möglich. Im vorliegenden Fall überwiegen die öffentlichen  Interessen an der  Wegweisung die privaten Interessen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau an dessen  Verbleib in der Schweiz (Erw. 3).

Aus dem Sachverhalt:

X. Y., irakischer Staatsangehöriger, reiste im Jahre 1998 in die Schweiz ein und stellte erfolglos ein Asylgesuch. Nach einer längeren Sistierung der Ausreise für abgewiesene irakische Asylbewerber ordnete das Bundesamt für Migration im November 2005 wiedererwägungsweise die vorläufige Aufnahme an. Im Juli 2006 heiratete X.Y. die Schweizer Bürgerin M. B., worauf ihm eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde. Am 3. November 2011 verurteilte das Obergericht des Kantons Zug wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Mit Verfügung vom 27. August 2012 verlängerte das Amt für Migration des Kantons Zug die Aufenthaltsbewilligung von X. Y. nicht mehr und wies ihn aus der Schweiz weg. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies der Regierungsrat mit Beschluss vom 9. Juli 2013 ab. Gegen diesen Beschluss liessen X. Y. und M. Y. Beschwerde einreichen und beantragen, der Beschluss sei aufzuheben; X. Y. sei die Aufenthaltsbewilligung zu belassen; den Beschwerdeführenden sei die unentgeltliche Rechtspflege für das vorinstanzliche und das vorliegende Verfahren zu bewilligen und es sei ihnen in der Person des Unterzeichnenden ein unentgeltlicher Anwalt beizugeben; unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Staatskasse.

Aus den Erwägungen:

(...)

3. Vorliegend ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren den Widerrufsgrund von Art. 62 lit. b AuG erfüllt. Bestritten wird von den Beschwerdeführenden, dass der Beschwerdeführer den zusätzlichen Widerrufsgrund nach Art. 62 lit. c AuG, der bei erheblichen oder wiederholten Störungen oder Gefährdungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie bei Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit vorliegt, ebenfalls erfüllt. Wie oben in Erw. 2b) erwähnt, ist die Grundvoraussetzung eines Bewilligungswiderrufs das Vorliegen eines Widerrufsgrundes. Damit Art. 62 lit. b AuG ein solcher Widerrufsgrund vorliegend unbestrittenermassen gegeben ist, kann offen bleiben, ob der Beschwerdeführer mit seinem Verhalten allenfalls auch einen zweiten Widerrufsgrund gesetzt hat. Gerügt wird von den Beschwerdeführenden zudem, die Vorinstanz habe ihrem Entscheid eine erheblich unrichtige oder ungenügende Feststellung des Sachverhaltes zu Grunde gelegt (§ 63 Abs. 2 VRG) und damit in formell-rechtlicher Hinsicht die bundesrechtlichen Anforderungen an die Begründungspflicht sowie den Gehörsanspruch zum Nachteil des Beschwerdeführers im Sinne von § 15 VRG verletzt: Hätte die Vorinstanz die von den Beschwerdeführenden geschilderte Rückkehrsituation, die besonderen Umstände der Beziehung des Beschwerdeführers zur Beschwerdeführerin und die gesundheitliche und berufliche Situation der Beschwerdeführerin in die Interessenabwägung miteinbezogen, hätte sie zu einem anderen Ergebnis der Verhältnismässigkeitsprüfung kommen müssen. Des weiteren halte der angeordnete Widerruf der Aufenthaltsbewilligung nicht vor Art. 8 Ziff. 1 EMRK stand. Gesamthaft betrachtet ergebe die Interessenabwägung, dass das öffentliche Interesse an der Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz hinter sein privates Interesse am Verbleib zurücktreten müsse (...).

a) (...)
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann Art. 8 Ziff. 1 EMRK nur angerufen werden, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme zur Trennung von Familienmitgliedern führt. Die Norm begründet kein absolutes Recht auf Aufenthalt in einem Konventionsstaat in dem Sinn, dass dieser verpflichtet wäre, Nicht-Staatsangehörigen die Einreise, die Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsverlängerung vorbehaltlos zu gewähren bzw. die von Ehepaaren getroffene Wahl des gemeinsamen Wohnsitzes zu respektieren (BGE 137 I 247 Erw. 4.1; 135 I 143 Erw. 2.1; 130 II 281 Erw. 3; 126 II 377 Erw. 2b/cc; Urteil des EGMR Gezginci gegen Schweiz vom 9. Dezember 2010 [16327/05], §§ 54 ff.). Hat eine ausländische Person nahe Verwandte in der Schweiz, primär die Kernfamilie (BGE 135 I 143 Erw. 1.3.2), ist die familiäre Beziehung zu diesen intakt und wird die Beziehung tatsächlich gelebt, kann es das in Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens verletzen, wenn ihr die Anwesenheit in der Schweiz untersagt wird. Die sich hier aufhaltende nahe verwandte Person muss dabei über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügen, was der Fall ist, wenn sie das Schweizer Bürgerrecht oder eine Niederlassungsbewilligung bzw. eine Aufenthaltsbewilligung besitzt, die ihrerseits auf einem gefestigten Rechtsanspruch beruht (BGE 135 I 143 f. Erw. 1.3.1; 130 II 281 Erw. 3.1 mit Hinweisen). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann sich die schweizerische Ehefrau eines Ausländers nur dann auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK berufen, wenn die Beziehung zu ihrem Ehemann tatsächlich gelebt wird und es ihr nicht zuzumuten ist, ihrem Ehemann ins Ausland zu folgen (BGE 109 Ib 183). Dabei beurteilt sich die Frage der Zumutbarkeit der Ausreise nicht nach den persönlichen Wünschen der Betroffenen, sondern ist unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse und aller Umstände objektiv zu beurteilen (BGE 110 Ib 201 Erw. 2.a).

b) Die Beschwerdeführerin ist Schweizer Bürgerin und somit im Besitz eines gefestigten Anwesenheitsrechts in der Schweiz. Die eheliche Beziehung der Beschwerdeführenden scheint, trotz der durch den Gefängnisaufenthalt des Beschwerdeführers verursachten Trennung der Ehegatten, intakt zu sein. Die sich nach eigenen Angaben innig liebenden Beschwerdeführenden halten die eheliche Beziehung heute übereinstimmend als tragfähig. Gemäss diesen Aussagen kann davon ausgegangen werden, dass zwischen den Beschwerdeführenden eine tatsächlich gelebte Ehe besteht. Die weitere Frage, ob es der Beschwerdeführerin objektiv zuzumuten ist, ihrem Ehemann ins Ausland, aller Voraussicht nach in den Irak, nachzufolgen, ist nicht einfach zu beantworten. Es ist mit den Beschwerdeführenden davon auszugehen, dass sie im Irak über kein Beziehungsnetz verfügt und – auch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse – vollständig von ihrem Ehemann und dessen Familie abhängig wäre. Zudem ist nicht abschätzbar, ob sie von der Familie des Ehemannes aufgenommen oder als europäische Christin eher ausgegrenzt würde. Sicher würden die Kontakte zu ihrem verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungsnetz durch die Ausreise in den Irak erschwert, da diese Kontakte mit Hilfe des Telefons, des Internets und mit sporadischen Besuchen in der Schweiz aufrechterhalten werden müssten. Ebenfalls ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin wegen Invalidität zu 100 % erwerbsunfähig ist und ihren Lebensunterhalt mit einer IV-Rente sowie mit Ergänzungsleistungen bestreitet. Als Argument, das gegen die Zumutbarkeit der Nachreise der Beschwerdeführerin spricht, wird von ihrem Rechtsvertreter vorgebracht, dass sie bei einem Wegzug ins Ausland keinen Anspruch auf die Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente mehr hätte (...). Die Beschwerdeführerin würde zwar bei einem Wegzug in den Irak zwar den Anspruch auf Ergänzungsleistungen verlieren, wäre aber in Bezug auf die Invalidenrente immer noch anspruchsberechtigt. Aufgrund des Mehrwerts der Invalidenrente im Irak wären die verlustig gegangenen Ergänzungsleitungen jedoch wieder kompensiert. Bei der objektiven Zumutbarkeitsprüfung ist auch die aktuelle Lage im Irak zu betrachten. Das Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schätzt die Lage im Irak (am 3. Oktober 2013) wie folgt ein: «Die Lage bleibt unübersichtlich. Die Sicherheit ist nicht gewährleistet; das Risiko von Entführungen und Terroranschlägen ist hoch. (...) Von Reisen in den Irak wird abgeraten. Eine Ausnahme bildet die teilautonome Region Kurdistan (Provinzen Dohuk, Erbil, Suleimanieh). Die Region ist sicherer als die übrigen Landesteile. Je nach Entwicklung der Lage im übrigen Irak kann sich aber auch die Lage in Kurdistan ändern. Anschläge können nicht ausgeschlossen werden. Reisen nach Kurdistan sind unter Beachtung folgender Vorsichtsmassnahmen möglich: Die An- und Abreise erfolgt auf dem Luftweg. Sie lassen sich von einer ortskundigen Person begleiten und klären mit ihr die Sicherheitslage vorgängig ab. Sie halten sich an die Anweisungen der lokalen Behörden. Sie meiden die Grenzgebiete zu Iran und der Türkei, wo gelegentlich Stellungen von kurdischen Rebellen bombardiert werden. Ausserdem besteht die Gefahr von Minen und Blindgängern. Sie informieren die Schweizerische Botschaft in Amman über Ihren Aufenthalt und teilen ihr folgende Angaben mit: Reiseplan sowie Kontaktadressen im Irak und in der Schweiz.» In Anbetracht der gesamten Umstände darf man der Beschwerdeführerin nicht zumuten, mit ihrem Mann in den Irak ziehen zu müssen.

c) Aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin die Ausreise in den Irak nicht zuzumuten ist, können die Eheleute Y. aber noch keinen Anspruch auf Gewährung einer Aufenthaltsbewilligung für X. Y. ableiten. Eine solche Unzumutbarkeit bedeutet lediglich, dass die Sache nunmehr unter dem Gesichtswinkel von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geprüft wird. Eine Aufenthaltsbewilligung ist erst zu gewähren, wenn die in Art. 8 Ziff. 2 EMRK vorgesehene Rechtsgüterabwägung zugunsten des privaten Interesses der Beschwerdeführer am Aufenthalt in der Schweiz ausschlägt. Eine Wegweisung des ausländischen Ehemannes kann somit unter dem Gesichtswinkel von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV auch dann in Frage kommen, wenn der schweizerischen Ehefrau die Ausreise nicht zuzumuten ist. Die Unzumutbarkeit der Ausreise für das anwesenheitsberechtigte Familienmitglied ist eine Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Rechtsgüterabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK erfolgt (BGE 110 Ib 201 Erw. 3.a). Artikel 8 Ziff. 2 EMRK sieht Einschränkungen vor, die weitgehend den Eingriffsvoraussetzungen von Art. 36 BV entsprechen (BGE 135 I 143 Erw. 2.1; 126 II 425 Erw. 5a). Demgemäss ist ein Eingriff in das von Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Recht auf Familienleben statthaft, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung oder zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral sowie der Rechte und Freiheiten Anderer notwendig erscheint (...). Bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK sind die Schwere des begangenen Delikts, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des Ausländers während dieser Periode, die Auswirkungen auf die primär betroffene Person sowie deren familiäre Situation zu berücksichtigen. Zudem sind die Dauer der ehelichen Beziehung und weitere Gesichtspunkte relevant, welche Rückschlüsse auf deren Intensität zulassen (Geburt und Alter allfälliger Kinder, Kenntnis der Tatsache, dass die Beziehung wegen der Straftat unter Umständen nicht in der Schweiz gelebt werden kann). Von Bedeutung sind auch die Nachteile, welche dem Ehepartner oder den Kindern erwachsen würden, müssten sie dem Betroffenen in dessen Heimat folgen (BGE 135 II 377 Erw. 4.3 mit Hinweisen; Urteil 2C_778/2011 vom 24. Februar 2012 Erw. 3.3, mit Hinweisen). Artikel 13 BV verschafft in diesem Bereich dem Beschwerdeführer keine über Art. 8 EMRK hinausgehenden Ansprüche. Es gilt im Folgenden auf die der Interessenabwägung zugrundeliegenden Kriterien einzugehen.

d) Mit den im zehnten Kapitel «Beendigung des Aufenthalts» des AuG normierten Bestimmungen wurde vom Schweizer Gesetzgeber die gesetzliche Grundlage für allfällige Eingriffe in das durch Art. 8 EMRK und Art. 13 BV geschützte Recht auf Familienleben geschaffen. Bezüglich der Schwere des vom Beschwerdeführer am 22. Januar 2010 begangenen Delikts (versuchte vorsätzliche Tötung) lässt sich dem Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 3. November 2011 Folgendes entnehmen: «Im Ergebnis steht somit fest, dass der Beschuldigte mit der Messerattacke auf [das Opfer] eine sehr schwerwiegende Sorgfaltspflichtverletzung begangen und ein hohes Tötungsrisiko geschaffen hat. Zur Tat wurde er hauptsächlich aus Wut getrieben, wobei auch die Äusserung «ich werde dich jetzt töten» oder ähnlich grundsätzlich ernst zu nehmen ist. Die einzelnen Stichbewegungen führte der Beschuldigte unkontrolliert und mit mittlerer bis grosser Wucht aus. Der angerichtete Körperschaden von fünf Stichwunden im Oberkörper seines Gegners genügte dem Beschuldigten schliesslich nicht und er setzte diesem, wenn auch über eine nicht allzu lange Distanz, nach, bevor er sein Unterfangen aufgab. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte bei der Ausführung der Tathandlung die Tötung von [dem Opfer] zumindest für möglich hielt und sich dennoch dazu entschloss zu handeln, weil er den Tod seines Opfers für den Fall seines Eintritts in Kauf nahm bzw. sich mit ihm abfand. (...) Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass zwar gewisse Anhaltspunkte bestehen, dass der Beschuldigte mit direktem Vorsatz handelte. Es verbleiben jedoch bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel daran, dass der Beschuldigte die Tötung von [dem Opfer] unbedingt anstrebte. In dubio pro reo ist daher davon auszugehen, dass der Beschuldigte die Tötung von [dem Opfer] bei seiner Messerattacke bloss in Kauf nahm bzw. mit Eventualvorsatz handelte. Das Tatverschulden des Beschuldigten ist als erheblich zu qualifizieren. Er hat mit einem Messer fünf Mal auf den Oberkörper und den Unterarm von [dem Opfer] eingestochen. Die Stichbewegungen führte er mit mittlerer, evtl. sogar grosser Wucht, enthemmt und unkontrolliert sowie in einem dynamischen Bewegungsablauf aus. (...) Die Vorinstanz hat sodann zu Recht auf die bemerkenswerte Hartnäckigkeit hingewiesen, mit welcher der Beschuldigte sein Vorhaben verfolgte, indem er sich einerseits von seinen Kollegen nicht aufhalten liess und diese mit unrichtigen Angaben über den Grund täuschte, weshalb er [dem Opfer] folgen wolle, und andererseits das Opfer weiter verfolgte, als dieses flüchtete. Beweggrund für die Messerattacke war eine vorgängige wechselseitige tätliche Auseinandersetzung zwischen dem Beschuldigten und [dem Opfer], in deren Verlauf [das Opfer] den Beschuldigten mit einem Faustschlag an der Nase verletzte. Darüber geriet der Beschuldigte in Wut. Insofern hat das Opfer zur tatauslösenden Situation beigetragen. (...) von einer Notwehrsituation kann in der Tat nicht die Rede sein.» Die (eventual)vorsätzliche Tötung, wenn auch versucht, ist zweifellos eines der schwersten Delikte gegen Leib und Leben und das Obergericht qualifizierte das Tatverschulden des Beschwerdeführers als erheblich. Um dieses «erheblich» einstufen zu können, ist von folgender Reihenfolge der Verschuldensabstufungen auszugehen: sehr leicht, leicht, nicht mehr leicht, erheblich, mittelschwer, recht schwer, schwer, sehr schwer. Das erhebliche Verschulden befindet sich also ungefähr in der Mitte der Verschuldensabstufungen.

e) Seit der begangenen Tat am 22. Januar 2010 sind nun ca. drei Jahre und acht Monate vergangen. Am 25. Januar 2010 meldete sich der Beschwerdeführer freiwillig bei der Zuger Polizei, wurde umgehend festgenommen und befand sich bis zum 27. August 2010 in der Strafanstalt Zug. Seither befindet er sich in der Strafanstalt Bostadel und arbeitet in der Kartonage. Gemäss dem Bericht der Konkordatlichen Fachkommission zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern (KoFako) vom 14. November 2012 sei eine vertiefte Tataufarbeitung bisher nicht möglich gewesen. Der Beschwerdeführer habe einige Sachverhalte nach wie vor anders geschildert und fühlte sich zu Unrecht bestraft. Er gebe an, dass das Opfer von ihm und seiner Frau finanziell entschädigt worden sei. Weiter führt die KoFako in diesem Bericht aus, die Tat habe sich aus einer bisher einmaligen spezifischen Konfliktsituation heraus entwickelt. Aus den vorliegenden Berichten ergäben sich keine Hinweise, dass er immer wieder in ähnliche Konfliktsituationen gerate, in denen er dann mit delinquentem Verhalten reagiere. Gemäss Therapiebericht der Strafanstalt Bostadel vom 23. Juli 2012 habe bisher noch keine Tataufarbeitung stattgefunden. Laut vorliegenden Berichten habe er bis zur Schlusseinvernahme seine rechtskräftig festgestellte Täterschaft geleugnet. Danach habe er zu Protokoll gegeben, dass er der Meinung sei, mit einem Mobiltelefon auf sein Opfer eingeschlagen zu haben. Des Weiteren habe er seine angebliche Angetrunkenheit in den Vordergrund und in Abrede gestellt, dem Opfer in feindlicher Absicht gefolgt zu sein. Die finanzielle Entschädigung des Opfers durch X. Y. sei aufgrund des vorliegenden kulturellen Kontextes erfolgt und beabsichtige, weitere Schwierigkeiten (z.B. Blutrache) nach der Freilassung von X. Y. zu verhindern. Ob dieser Abgeltung ein ernsthaftes Bedauern oder Reue zugrunde liege, sei fraglich. Insgesamt habe noch keine tiefgreifende und nachhaltige Auseinandersetzung mit der Anlasstat stattgefunden. Am 14. Dezember 2011 habe sich X. Y. freiwillig beim Psychologischen Dienst wegen Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung, Schlafstörungen und der angeblich erhöhten Schmerzmedikation gemeldet. Nach Abklärungen des Psychologischen Dienstes habe er am 5. Januar 2012 die 14-täglich stattfindende Therapie aufgenommen. Insgesamt hätten im Berichtszeitraum 15 Therapiesitzungen stattgefunden. Es handle sich hierbei um eine stützende Therapie. Die KoFako werte es als günstig, dass X. Y. freiwillig eine Therapie besuche. Es sei nach ihrer Ansicht angezeigt, dass auch deliktorientierte Elemente in die Therapie aufgenommen würden. Laut Führungsbericht der Strafanstalt Bostadel vom 24. Mai 2012 habe er regelmässig Kontakt zum Sozialdienst. Er trete freundlich und angepasst auf, wobei er zum Teil durch seine komplizierte Art auffalle. Dem Sicherheitsdienst sei er nie negativ aufgefallen und er habe bisher nie disziplinarisch belangt werden müssen. Es lägen keine Hinweise auf einen Suchtmittelkonsum vor. Nach Ansicht der KoFako könne ihm ein guter Vollzugsverlauf attestiert werden. Als Risikofaktor für die Begehung einer Straftat wie die der Anlasstat erachte sie das Vorliegen einer ähnlichen Provokationslage wie zum Tatzeitpunkt. Allerdings schätze die KoFako die Wahrscheinlichkeit, dass X. Y. erneut in eine solche Konfliktsituation gerate und mit übermässiger Gewaltanwendung reagiere, als eher gering ein. Nach ihrer Ansicht sei die Gewährung von Urlauben und Aussenarbeit legalprognostisch vertretbar. Gestützt auf diesen Bericht konnte der Beschwerdeführer per 1. Februar 2013 einen Platz in der Aussenarbeit der Strafanstalt Bostadel erhalten, wo er als (Hilfs-)Maler beschäftigt sei. Am 11./ 12. Mai 2013 konnte der Beschwerdeführer seinen ersten Beziehungs-Urlaub beziehen und sei klaglos und rechtzeitig in den Vollzug zurückgekehrt. Dem Abschlussbericht vom 28. Juni 2013 des Psychologischen Dienstes der Strafanstalt Bostadel ist zu entnehmen, dass die bis zur letzten Berichterstattung vom 23. Juli 2012 durchgeführte stützende Therapie in eine deliktorientierte Therapie umgewandelt worden sei. Das übergeordnete Ziel der Therapie liege neu in der Reduktion der Rückfallgefahr für neue einschlägige Delikte. Die Therapien fänden seit August 2012 wöchentlich statt. Während dieser Sitzungen sei deutlich geworden, dass er inzwischen grundsätzlich die Verantwortung für seine Tat übernehme. Nachdem X. Y. die Aussenarbeit bewilligt worden sei, habe er seinen ursprünglichen Arbeitsplatz verlassen und neu in der Ablaugerei arbeiten können. Dort sei schleichend ein Konflikt mit einem Mitgefangenen entstanden, wobei X. Y. den Referenten schon frühzeitig darüber informiert habe. Der Konflikt habe objektiv aufgrund fehlender überdauernder Überwachung nicht exakt rekonstruiert werden können, nach Aussagen X. Y. seien aber vom Mitgefangenen ähnliche Beleidigungen wie die zur Tatzeit gefallen. Er habe dann starke Wut verspürt, habe sich aber kontrollieren und die Gefühle abflachen lassen können. Auch hier habe eine ähnliche Dynamik wie bei seinem Anlassdelikt beobachtet werden können, wobei es ihm jedoch gelungen sei, die Kontrolle zu behalten und die stark negativ besetzen Gefühle auszuhalten. Nebst den deliktorientierten und stützenden Elementen habe die Vor- und Nachbereitung der unbegleiteten Ausgänge viel Raum eingenommen. Beim zweiten Ausgang seien die im Vorfeld besprochenen möglichen Risikosituationen eingetroffen: Beim Spaziergang in Zug habe er wenige Tische von sich entfernt den Staatsanwalt und später einen bei der Einvernahme beteiligten Polizisten gesehen. Als seine Ehefrau und er sich wieder auf den Heimweg gemacht hätten, sei ihm sein Opfer begegnet. Zudem sei er am Tatort gewesen. Er habe keine Rachegedanken gegen die Justiz und mit seinem Opfer habe er die Angelegenheit ebenfalls geklärt, was er nun aufgrund der ausbleibenden negativen Emotionen beim Anblick für sich habe bestätigen können. Es habe im bisherigen Therapieverlauf ein Wissen um die generelle und in Ansätzen um die eigene Deliktdynamik erarbeitet werden können. Die Versetzung in das Arbeitsexternat könne zum jetzigen Zeitpunkt vom Referenten unterstützt werden. Aufgrund dieser Einschätzungen konnte der Beschwerdeführer ab dem 2. September 2013 in das Arbeitsexternat übertreten.

f) Bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK sind im Weiteren die Auswirkungen einer Wegweisung auf die primär betroffene Person, also auf den Beschwerdeführer, sowie deren familiäre Situation zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer ist 37 Jahre alt und in guter körperlicher Verfassung (vgl. auch den Bericht des Psychologischen Dienstes der Strafanstalt Bostadel vom 18. Juni 2013: «Er berichtete körperliche Symptome kurz nach Beginn der Aussenarbeit. Medizinisch konnte jedoch trotz eingehender Abklärung keine Ursache gefunden werden (...) »). Der Beschwerdeführer kam im Alter von 22 Jahren als Asylsuchender in die Schweiz und lebt nunmehr seit 15 Jahren hier, wobei hiervon ca. drei Jahre und acht Monate auf den Freiheitsentzug entfallen. Gemäss Aussagen des Rechtsvertreters verfügt der Beschwerdeführer über einen breiten Bekannten- und Freundeskreis, was auch durch Schreiben von acht Personen (die Ärztin und die Ehefrau nicht mitgezählt) belegt wird. Der Beschwerdeführer war in der Schweiz regelmässig im Baugewerbe erwerbstätig und hat sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass er in seiner Heimat nach wie vor arbeits- und integrationsfähig wäre. Bezüglich des Aufbaus einer wirtschaftlichen Existenz ist mit der Sicherheitsdirektion davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer nach dem langen Strafvollzug und dem damit verbundenen Sperrbetrag auf dem Gefangenenkonto im Entlassungszeitpunkt ein nicht zu vernachlässigendes Startkapital zur Verfügung stehen wird, das ihm aufgrund des Mehrwerts im Heimatland den Aufbau einer Existenz zu sichern vermag, sei es als Taxifahrer mit einem eigenen Fahrzeug oder einem anderen Kleingewerbe, das nur mit einem solchen Startkapital aufgenommen werden kann. Zu dem ins Recht gelegten irakischen Gerichtsurteil (Strafgericht Al Soleimaneyah), wonach der Beschwerdeführer und sein Bruder im Irak zu «lebenslänglichen Zuchthausstrafen» wegen Begehen eines Sprengstoffdelikts verurteilt worden sind, ist auf die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesamts für Flüchtlinge im Entscheid vom 26. September 2002 zu verweisen, wonach es sich bei den Dokumenten einerseits lediglich um Kopien handle und andererseits weder beim Gerichtsurteil noch beim Haftbefehl Echtheitsmerkmale erkennbar seien. Ausserdem seien solche Dokumente im Nordirak leicht käuflich und verfügten deshalb über einen geringen Beweiswert. Die Auswirkungen für die Beschwerdeführerin bei einer Nachreise in den Irak wurden oben in Erw. 3b) bereits thematisiert.

g) Bei der Interessenabwägung sind zudem die Dauer der ehelichen Beziehung und weitere Gesichtspunkte relevant, welche Rückschlüsse auf deren Intensität zulassen (Geburt und Alter allfälliger Kinder, Kenntnis der Tatsache, dass die Beziehung wegen der Straftat unter Umständen nicht in der Schweiz gelebt werden kann). Das Ehepaar Y. heiratete im Juli 2006. Da der Beschwerdeführer die versuchte vorsätzliche Tötung am 22. Januar 2010 beging, konnte die Beschwerdeführerin bei Eingehung der Beziehung mit dem Beschwerdeführer nicht wissen, dass dieser die Schweiz wahrscheinlich wird verlassen müssen. Der Ehebund hält demnach seit über sieben Jahren und konnte auch während des Freiheitsentzugs des Ehemanns aufrechterhalten werden. Die sich nach eigenen Angaben innig liebenden Beschwerdeführenden halten die eheliche Beziehung heute übereinstimmend als noch tragfähiger als vor dem Freiheitsentzug des Beschwerdeführers. Die Ehe ist bis anhin kinderlos geblieben. An dieser Stelle sei vollständigkeitshalber noch erwähnt – was jedoch der Ehebeziehung der Beschwerdeführenden keineswegs die Ehrlichkeit und Innigkeit absprechen will -, dass der Beschwerdeführer schon Ende Juni 2005 – also ca. ein Jahr vor der Heirat mit der Beschwerdeführerin – anlässlich einer Befragung durch das AFM zu Protokoll gab, er wolle die Heirat mit einer im Kanton Luzern lebenden Ausländerin und er habe beim Zivilstandsamt in Ebikon die Heirat eingeleitet. Den Namen der Frau wisse er nicht, er nenne sie immer nur «Schatz». Falls er eine Bewilligung bekomme, werde er in den Kanton Luzern umziehen. Sie habe keine Telefonnummer und ihre Adresse wisse er nicht. Sie träfen sich jeweils in der Pizzeria Känguru in Root. Auf die Frage, weshalb ihm die KLT Treuhand AG in Luzern ein Hausverbot für die Liegenschaft Oberdorf 26 in Root erteilt habe, gab der Beschwerdeführer zur Antwort, dass die Frau bevormundet sei, ihm dies aber nicht gesagt habe. Sie hätten die Heirat einleiten wollen, dies sei aber nicht gegangen, weil sie bevormundet sei.

h) Von Bedeutung sind auch die Nachteile, welche dem Ehepartner oder den Kindern erwachsen würden, müssten sie dem Betroffenen in dessen Heimat folgen. Die Ehe der Beschwerdeführenden blieb wie erwähnt kinderlos und auf die Nachteile, welche der Beschwerdeführerin erwachsen, wenn sie dem Beschwerdeführer in dessen Heimat folgen würde, ist oben bereits eingegangen worden. Nach Art. 96 AuG haben die zuständigen Behörden bei der Ermessensausübung die öffentlichen Interessen und die persönlichen Verhältnisse sowie den Grad der Integration der Ausländerinnen und Ausländer zu berücksichtigen. Es kann gemäss den ins Recht gelegten Schreiben von Freunden und Bekannten davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer vor seinem Aufenthalt in der Strafanstalt beruflich und sozial in der Schweiz integriert war. Nach Ansicht des Gerichts ist dabei jedoch nicht von einer äusserst geglückten, sondern eher von einer im normalen Rahmen eines – bis zum Freiheitsentzug – ca. zwölfjährigen Aufenthalts entwickelten Integration auszugehen.

i) Unter Berücksichtigung aller genannten Gesichtspunkte, aber auch der Tatsache, dass in ausländerrechtlicher Hinsicht insbesondere bei Delikten gegen die körperliche Integrität selbst ein relativ geringes Rückfallrisiko nicht hingenommen werden muss (Urteil des Bundesgerichts 2C_1141/2012 vom 1. Mai 2013, Erw. 2.2 mit Hinweisen), ergibt sich, dass das öffentliche Interesse an der Fernhaltung des Beschwerdeführers von der Schweiz gegenüber dem geltend gemachten privaten Interesse als überwiegend bezeichnet werden muss. Die zweifellos schwierige Herausforderung für die Beschwerdeführenden, die Ehe nach der Wegweisung des Beschwerdeführers weiter zu leben, kann bei dieser Interessenabwägung nicht entscheidend ins Gewicht fallen. Den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, der Beschwerdeführer habe seit dem begangenen Delikt keine weiteren Straftaten mehr begangen, ist entgegenzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer seit dem begangenen Delikt weniger als drei Tage in Freiheit befunden hat und davon ausgegangen werden darf, dass er in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug keine weiteren Straftaten mehr begeht. Zwar will der Beschwerdeführer seit der begonnenen deliktsorientierten Therapie die volle Verantwortung für sein Fehlverhalten übernehmen. Dies genügt indessen vorliegend nicht, um die Gefahr eines Rückfalls bereits ausschliessen zu können und sein privates Interesse, wie auch das der Beschwerdeführerin, dem öffentlichen Schutz der Bevölkerung vor potenziell rückfallgefährdeten ausländischen Straftätern aus Drittstaaten vorgehen zu lassen. Zusammenfassend ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen, dass der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung recht- und verhältnismässig ist.

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 26. November 2013 V 2013 / 115

Eine gegen dieses Urteil erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde vom Bundesgericht mit Urteil vom 31. Oktober 2014 (2C_30/2014) abgewiesen.

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