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Art. 4 ATSG, Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV

Regeste:

Art. 4 ATSG, Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV – Begriff des  Unfalls und der unfallähnlichen Körperschädigungen. Ein Leistenbruch kann unter bestimmten Voraussetzungen durch einen Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG verursacht werden (Erw. 5.1); er kann jedoch nicht unter eine der in Art. 9 Abs. 2 UVV abschliessend aufgelisteten unfallähnlichen Körperschädigungen subsumiert werden (Erw. 5.2).

Aus dem Sachverhalt:

(...)

Am 24. März 2014 musste A nach eigenen Angaben heftig husten und erlitt dabei eine Inguinalhernie (Leistenbruch) rechts. Mit Bagatellunfallmeldung UVG vom 1. April 2014 meldete A diesen Vorfall der Axa. Nachdem die Axa bei ihm zusätzliche Auskünfte und beim erstbehandelnden Arzt Dr. B, Chefarzt der Chirurgischen Klinik X, einen Bericht eingeholt hatte, verneinte sie mit Verfügung vom 24. Juni 2014 einen Leistungsanspruch des Versicherten. Da beim geschilderten Ereignis kein ungewöhnlicher äusserer Faktor eine ursächliche Rolle gespielt habe, liege kein Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG vor. Des Weiteren falle die Diagnose nicht unter die unfallähnlichen Körperschädigungen nach Art. 9 Abs. 2 UVV, sodass kein Anspruch auf Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung bestehe.

(...)

Mit Einspracheentscheid vom 18. August 2014 wies die Axa die Einsprache ab.

(...)

In seiner Beschwerde vom 5. September 2014 an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug beantragte A die Aufhebung des Einspracheentscheids vom 18. August 2014 und die Übernahme der Kosten des Ereignisses vom 24. März 2014 durch die Unfallversicherung. Zur Begründung machte er geltend, dass es sich bei einem Leistenbruch um eine Läsion von Bändern und Muskeln handle. Ausserdem sei er bezüglich seiner Leisten bis zum erwähnten Ereignis immer beschwerdefrei gewesen. Es gebe keine (eindeutigen) Hinweise auf eine Erkrankung oder eine Degeneration. Überschiessende Hustenreize seien nicht mehr nur physiologisch, sondern pathologisch und könnten zu Knochenbrüchen, Zwerchfellrissen und Hernien führen. Das in den Einspracheentscheid eingeflossene medizinische Wissen sei von zweifelhafter Qualität.

(...)

Aus den Erwägungen:

(...)

5. In Würdigung der vorliegenden Unterlagen ist zum Hergang des Ereignisses festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben am 24. März 2014 einen heftigen Hustenanfall erlitten hat. Er macht diesen für seine Inguinalhernie verantwortlich und fügt zur Begründung an, dass er vor dem erwähnten Ereignis beschwerdefrei gewesen sei. Ihm ist diesbezüglich entgegenzuhalten, dass er nach der Beweismaxime «post hoc – ergo propter hoc» argumentiert. Eine solche Argumentation ist unfallmedizinisch nicht haltbar resp. beweisrechtlich nicht zulässig (vgl. Karl Oftinger, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band 1, Zürich 1975, S. 81; Alfred Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 460; BGE 119 V 335 Erw. 2b/bb; Urteil des EVG vom 29. März 2005, U 413/04 Erw. 2.1, und viele weitere). Zu prüfen ist in der Folge, ob das Ereignis vom 24. März 2014 einen Unfall im Sinn von Art. 4 ATSG darstellt (vgl. Erw. 5.1 nachfolgend) und – verneinendenfalls – ob es sich dabei um eine unfallähnliche Körperschädigung nach Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV handelt (vgl. Erw. 5.2 nachfolgend).

5.1 Wie bereits erwähnt, gilt als Unfall die plötzliche, nicht beabsichtigte, schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung müssen alle erwähnten Elemente kumulativ erfüllt sein, damit ein Ereignis als Unfall qualifiziert werden kann (vgl. Erw. 3.1 vorstehend). Des Weiteren hielt das Bundesgericht fest, dass Bauch- und Unterleibsbrüche – dazu gehören unter anderem Leistenbrüche – nach medizinischer Erfahrungstatsache in der Regel krankheitsbedingte Leiden und nur in seltenen Ausnahmefällen Unfallfolge seien. Eine Hernie könne als unfallbedingt betrachtet werden, wenn das Unfallereignis mit einer direkten, heftigen sowie bestimmten Einwirkung verbunden sei und die schwerwiegenden Symptome der Hernie unverzüglich und mit sofortiger mindestens mehrstündiger Arbeitsunfähigkeit auftrete. Die Leistenhernie im Besonderen könne nur als unfallbedingt qualifiziert werden, wenn bei einem bestimmten einmaligen Ereignis (Überanstrengung, unkoordinierte Bewegung, Sturz, Druck von aussen, usw.) ein angeborener Bruchsack erstmalig und plötzlich mit Eingeweiden gefüllt worden sei (Urteil des Bundesgerichts vom 10. Januar 2008, 8C_601/2007, Erw. 2.1 mit zahlreichen Hinweisen).

In Würdigung der Akten ist festzuhalten, dass das vorliegend zu beurteilende Ereignis nach den Angaben des Beschwerdeführers am 24. März 2014 um 22.30 Uhr geschehen ist. Da er am nächsten Tag gearbeitet hat, ist die von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung für die Bejahung einer unfallbedingten Hernie erwähnte Voraussetzung einer sofortigen mindestens mehrstündigen Arbeitsunfähigkeit zu verneinen (Urteil des Bundesgerichts vom 10. Januar 2008, 8C_601/2007, Erw. 2.1). An dieser Beurteilung vermag der Hinweis des Beschwerdeführers, er habe nur dank der Einnahme von Schmerzmedikation arbeiten können, nichts zu ändern. Des Weiteren nennt er einen besonders heftigen Hustenanfall als Ursache für seine Inguinalhernie. Als Husten bezeichnet man eine stossartige Expirationsbewegung, die durch die Atemmuskulatur erzeugt wird und eine Reaktion auf die Reizung der Atemwege darstellt. Ein Husten – so heftig er auch gewesen sein mag – stellt demnach keinen ungewöhnlichen äusseren Faktor dar. Aus diesem Grund vermag der Beschwerdeführer aus dem von ihm geltend gemachten Umstand, wonach ein Husten eine Inguinalhernie auslösen könne, nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. Es mangelt an einer für die Erfüllung des Unfallbegriffs unabdingbaren Voraussetzung. Gleicher Ansicht ist der erstbehandelnde Arzt Dr. B, der in seinem Bericht vom 11. April 2014 von einer krankhaften Genese der Inguinalhernie ausgeht. Er hat seinen Hinweis, wonach das Vorliegen eines Unfalles zu verneinen sei, mit zwei Ausrufezeichen bekräftigt. Doktor B ist angesichts seiner Stellung als Chefarzt der Chirurgischen Klinik X als bewährter Arzt zu betrachten, welcher zudem als Inhaber des Facharzttitels FMH Chirurgie auch in fachlicher Hinsicht für die Beurteilung der Genese einer Inguinalhernie qualifiziert erscheint. Ausserdem ist in diesem Zusammenhang die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu erwähnen, wonach bei der Würdigung von Berichten von Hausärzten und behandelnden Fachärzten der Erfahrungstatsache Rechnung zu tragen ist, dass diese mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 6. Oktober 2008, 8C_812/2007, Erw. 8.2). Da der tendenziell zu Gunsten des Beschwerdeführers aussagende erstbehandelnde Dr. B über die entsprechende fachärztliche Qualifikation betreffend Qualifizierung der Genese einer Inguinalhernie verfügt und seine diesbezügliche Aussage auch mit der dargestellten bundesgerichtlichen Rechtsprechung übereinstimmt, ist auf seinen Bericht vom 11. April 2014 insoweit abzustellen, als er das Vorliegen eines Unfalles im Sinne von Art. 4 ATSG verneint. Mithin bleibt festzuhalten, dass es bei dem dargestellten Geschehensablauf nicht zu einer schädigenden Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den Körper gekommen ist und es daher an einer für die Erfüllung des Unfallbegriffs unabdingbaren Voraussetzung mangelt. Ein Eingehen auf die übrigen Elemente gemäss Art. 4 ATSG erübrigt sich, da alle Elemente kumulativ erfüllt sein müssten, damit ein Ereignis als Unfall qualifiziert werden könnte.

5.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, sein Leistenbruch (Inguinalhernie) stelle einen «Riss von Band–Sehnen–Muskel» (Einsprache) bzw. eine Läsion von Bändern und Muskeln dar (Beschwerde). Es bleibt somit zu prüfen, ob sich der Beschwerdeführer beim Ereignis vom 24. März 2014 eine der in Art. 9 Abs. 2 UVV erwähnten Gesundheitsschädigungen zugezogen hat und dieser Vorfall den Anforderungen an ein unfallähnliches Ereignis entspricht.

Folgende, abschliessend aufgeführte unfallähnliche Körperschädigungen sind, sofern sie nicht eindeutig auf eine Erkrankung oder eine Degeneration zurückzuführen sind, auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung den Unfällen gleichgestellt: Knochenbrüche, Verrenkungen von Gelenken, Meniskusrisse, Muskelrisse, Muskelzerrungen, Sehnenrisse, Bandläsionen und Trommelfellverletzungen (Art. 9 Abs. 2 UVV). Beim Leistenbruch (Inguinalhernie) handelt es sich um einen Durchtritt von Baucheingeweiden (Hernie) durch den Leistenkanal oberhalb des  Leistenbandes. Hernien liegt ein simpler biomechanischer Entstehungsmechanismus zugrunde. Werden die Muskeln der Bauchwand beispielsweise im Rahmen der Bauchpresse angespannt, erhöht sich der Druck im Bauchraum, sodass die Bauchorgane gegen Lücken der Bauchwand gepresst werden. Ist eine Lücke abnorm gross, kann ein Organ in sie hineingedrückt werden. Aus einer Ausstülpung von Peritoneum (Bauchfell) kann ein Kanal entstehen, durch den als nächstes Teile des Omentum majus (Bauchnetz) oder einzelne Darmschlingen  treten. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass ein Leistenbruch unter keine der in Art. 9 Abs. 2 UVV abschliessend aufgelisteten unfallähnlichen Körperschädigungen subsumiert werden kann (gleicher Ansicht ist das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich: vgl. Urteile vom 5. November 2012, Erw. 2, vom 24. März 2003, Erw. 3.1, und vom 9. April 1996, Erw. 3b). Das Vorliegen einer in Art. 9 Abs. 2 UVV abschliessend aufgelisteten unfallähnlichen Körperschädigung ist somit zu verneinen.

6. Da nach dem Gesagten das Ereignis vom 24. März 2014 weder den Unfallbegriff nach Art. 4 ATSG noch denjenigen einer unfallähnlichen Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV zu erfüllen vermag, kann offen bleiben, ob zwischen dem Geschehen und der eingetretenen Gesundheitsschädigung ein natürlicher und ein adäquater Kausalzusammenhang besteht und es erübrigen sich Weiterungen in dieser Hinsicht. Damit entfällt eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin. Die Beschwerde erweist sich insgesamt als unbegründet und ist daher abzuweisen.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 19. März 2015 S 2014 111

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