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Art. 1b IVG, Art. 27 EOG, Art. 2 AVIG, Art. 1a und Art. 5 AHVG, Art. 319 OR
Art. 4 ATSG, Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV
Art. 5 AHVG, Art. 6, Art. 8, Art. 8bis und Art. 8ter AHVV

Art. 8, Art. 13, Art. 21 und Art. 64a Abs. 1 lit. b IVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 HVI, Ziffer 5.06 HVI-Anhang; Rz. 2035 KHMI

Regeste:

Art. 8, Art. 13, Art. 21 und Art. 64a Abs. 1 lit. b IVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 HVI, Ziffer 5.06 HVI-Anhang, Rz. 2035 Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die  Invalidenversicherung (KHMI) – Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung berücksichtigen, soweit sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen (Erw. 3.5). Die Ausdehnung der Perückenversorgung erfolgte im Hinblick auf die soziale Eingliederung. Die Rechtsprechung entwickelte bei den Gesuchen von Männern um Abgabe einer Perücke zulasten der IV einen wesentlich strengeren Beurteilungsmassstab. Bei den Frauen wird im Falle fehlenden Haarschmucks die erhebliche Beeinträchtigung der äusseren Erscheinung als (einziges) leistungsbegründendes Erfordernis für eine Perückenversorgung ohne weiteres anerkannt (Erw. 5.). Was gestützt auf die höchstrichterliche Rechtsprechung für Frauen gilt, muss auch für ein Kind von 12 Jahren, egal ob männlich oder weiblich, gelten (Erw. 5.1). Entscheidend ist einzig, dass es sich nicht um einen normalen Haarausfall handelt und dass die kindliche bzw. jugendliche äussere Erscheinung durch das charakteristische Ausprägungsmuster einer typisch erwachsenen männlichen Kahlköpfigkeit eine empfindliche Beeinträchtigung erfährt, welche mit dem beantragten Hilfsmittel, der Perücke, möglichst kaschiert werden soll (Erw. 5.2).

Aus dem Sachverhalt:

Der im 2003 geborene B meldete sich am 6. Februar 2015 wegen kreisrundem Haarausfall (Alopecia areata) bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Hilfsmitteln, namentlich einer Perücke, an. Die IV-Stelle Zug holte in der Folge Arztberichte und eine Stellungnahme bei ihrem RAD-Arzt ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle mit Verfügung vom 18. Juni 2015 das Leistungsbegehren, d.h. konkret eine Kostengutsprache für eine Perücke, ab. Zur Begründung führte sie aus, es handle sich im vorliegenden Fall unbestrittenermassen nicht um die Folgen einer Behandlung eines akuten Gesundheitsschadens. Es liege offenbar eine chronische Erkrankung vor, deren Ursache noch nicht ermittelt und bisher nicht erfolgreich behandelt worden sei. Dementsprechend mangle es entscheidend am Kriterium, dass der Haarausfall als Folge einer akuten Erkrankung eingetreten sei.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.

3.1 Nach Art. 8 Abs. 1 IVG haben Invalide oder von einer Invalidität bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten oder zu verbessern, wobei die gesamte noch zu erwartende Arbeitsdauer zu berücksichtigen ist. Nach Massgabe von Art. 13 (medizinische Massnahmen) und Art. 21 IVG (Hilfsmittel) besteht der Anspruch auf Leistungen unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich (Art. 8 Abs. 2 IVG). Absatz 3 von Art. 8 IVG regelt sodann die Eingliederungsmassnahmen und unter lit. d die Abgabe von Hilfsmitteln.

3.2 Nach Art. 21 IVG hat ein Versicherter im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit im Aufgabenbereich, zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, für die Schulung, die Aus- und Weiterbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 IVG). Hat ein Versicherter infolge seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge Bedarf an kostspieligen Geräten, besteht im Rahmen der vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf ein Hilfsmittel (Art. 21 Abs. 2 IVG). Der Bundesrat hat die ihm übertragene Kompetenz zur Bezeichnung der im Rahmen von Art. 21 IVG abzugebenden Hilfsmittel an das Eidgenössische Departement des Innern subdelegiert, welches seinerseits die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung vom 29. November 1976 (HVI; SR 831.232.51) erlassen hat. Im Anhang zur HVI werden die Hilfsmittel aufgezählt. Die versicherte Person hat Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind (Art. 2 Abs. 1 HVI). Anspruch auf die in der Liste mit (*) bezeichneten Hilfsmittel besteht nur, soweit diese für die Ausbildung, die funktionelle Angewöhnung oder für die in der zutreffenden Ziffer des Anhangs ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig sind (Art. 2 Abs. 2 HVI).

(...)

3.4 (...)

Nach Ziffer 5.06 der Hilfsmittelliste leistet die Invalidenversicherung bei Perücken einen jährlichen Höchstbeitrag von Fr. 1'500.–.

3.5 Gestützt auf Art. 64a Abs. 1 lit. b IVG in der aktuellen Fassung kann das BSV den mit der Durchführung der Versicherung betrauten Stellen Weisungen für den einheitlichen Vollzug im Allgemeinen und im Einzelfall erteilen. Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung jedoch berücksichtigen, soweit sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Mithin weicht das Gericht nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (vgl. BGE 133 V 257 ff., insb. Erw. 3.2, mit vielen weiteren Hinweisen).

In casu ist das Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI) zu beachten.

3.6 Hinsichtlich des Hilfsmittelanspruchs gilt die Invalidität als eingetreten, wenn der Gesundheitsschaden objektiv erstmals die Versorgung notwendig macht und das Hilfsmittel ein Eingliederungsziel nach Art. 21 IVG erfüllt. Eine vorübergehende Behinderung schliesst die Hilfsmittelabgabe aus. Es muss prinzipiell eine voraussehbare Verwendungsdauer von mindestens einem Jahr angenommen werden können (KHMI Rz. 1002). Sodann werden die Hilfsmittel in einfacher und zweckmässiger Ausführung abgegeben. Es kommen nur Hilfsmittel mit optimalem Preis-Leistungsverhältnis in Betracht. Die versicherte Person hat keinen Anspruch auf die im Einzelfall bestmögliche Versorgung (KHMI Rz. 1004).

Hinsichtlich der Perücken wird in KHMI Rz. 2035 ausgeführt, dass Versicherte Anspruch auf Perücken haben, wenn die Haare als Folge eines akuten Gesundheitsschadens oder dessen Behandlung, z.B. durch Bestrahlung oder Chemotherapie, ausgefallen sind. Normaler Haarausfall (insbesondere bei Männern) zieht keine Leistungspflicht der IV nach sich (Ausnahme bei Transsexuellen: siehe BGer-Urteil 9C_550/2012 vom 13. Juli 2013). Gemäss KHMI Rz. 2036 beträgt der Höchstbetrag für die Anschaffung (einschliesslich Anpassung, Färben, Frisieren, Reinigen und allfälligen Reparaturkosten) pro Kalenderjahr Fr. 1'500.–. Im Jahr der erstmaligen Abgabe kann der Höchstbetrag voll ausgeschöpft werden (keine pro rata Einschränkung). Der Einkaufspreis (Perückenzulieferer der Abgabestelle) muss belegt werden und die Rechnung muss vom Versicherten unterschrieben werden.

(...)

5. In Würdigung der vorliegenden Akten ist vorab darauf hinzuweisen, dass seit Januar 1983 nicht nur gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG, sondern auch bereits im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 IVG Anspruch auf Perücken zulasten der Invalidenversicherung besteht. Diese Ausdehnung der Perückenversorgung erfolgte im Hinblick auf die soziale Eingliederung. In den Materialien wurde nämlich zur Änderung der Hilfsmittelliste (Erläuterungen des BSV) ausgeführt, der Wegfall des (*) bedeute, dass es inskünftig für die Abgabe einer Perücke genüge, wenn diese für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte oder das Auftreten in der Öffentlichkeit benötigt werde. In dieser Beziehung würden die Verwaltungsweisungen bei den Perücken für Männer noch gewisse Einschränkungen festlegen müssen, da man einen kahlköpfigen Mann in der Regel nicht als invalid bezeichnen könne. In der Folge entwickelte die Rechtsprechung bei den Gesuchen von Männern um Abgabe einer Perücke zulasten der IV einen wesentlich strengeren Beurteilungsmassstab. Bei den Frauen jedoch wird im Falle fehlenden Haarschmucks die erhebliche Beeinträchtigung der äusseren Erscheinung als (einziges) leistungsbegründendes Erfordernis für eine Perückenversorgung ohne weiteres anerkannt (Urteile I 155/01 vom 6. Dezember 2001 Erw. 2d und I 204/85 vom 30. August 1985 Erw. 2a in fine). Im Falle eines Versicherten, der an Alopecia areata (plötzlich einsetzendem herdförmigem Haarausfall) litt, bejahte dann das Bundesgericht (bzw. das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht) die Anspruchserfordernisse insbesondere mit Blick auf einen psychiatrischen Bericht, wonach ohne Perücke die Gefahr einer vollständigen Abkapselung gegenüber den Mitmenschen und einer Verschlimmerung der neurotischen Störung im Form neuer depressiver Phasen bestünde. Die Kahlköpfigkeit ohne Perückenversorgung wertete das Gericht unter diesen Umständen als für den Versicherten erheblich belastend. Ob eine derartige psychische Belastung vorliegt, muss jeweils unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Einzelfall beurteilt werden und lässt sich nicht objektivieren (Urteil I 204/85 vom 30. August 1985 Erw. 3, insbes. auch in fine) (vgl. BGer-Urteil 9C_550/2012 vom 13. Juli 2013, Erw. 2.2 und 2.3 mit Hinweisen).

5.1 Laut Diagnose von Dr. C leidet der Beschwerdeführer seit 2013 an einer Alopezia areata (universalis). Unklar ist bis anhin die Ursache dieses Verlusts aller Körperhaare. Tatsache ist, dass offenbar jeglicher Therapieversuch gescheitert ist und der Beschwerdeführer mit nur gerade 12 Jahren sämtliche Körperhaare verloren hat. Dass sich ein kahlköpfiges Kind ohne Wimpern und Augenbrauen – was völlig nicht der Norm entspricht – in der Öffentlichkeit gehemmt und unwohl fühlt, sich deswegen sozial zurückzieht und Angst vor Lehrstellenbewerbungen hat, ist absolut glaubhaft und nachvollziehbar, zumal die äussere Erscheinung gerade in der Pubertät, welche beim Beschwerdeführer ansteht, enorm wichtig und die Psyche daher diesbezüglich sehr fragil ist. Um dies zu erkennen, ist nicht einmal ein entsprechender psychiatrischer Bericht erforderlich. Was gestützt auf die oben dargestellte höchstrichterliche Rechtsprechung für Frauen gilt, muss auch für ein Kind von 12 Jahren, egal ob männlich oder weiblich, gelten. Denn ein fehlender Haarschmuck bzw. eine Kahlköpfigkeit (und dann noch ohne Wimpern und Augenbrauen) bei einem Jungen stellt genau dieselbe erhebliche Beeinträchtigung der äusseren Erscheinung dar wie bei einer Frau, so dass eine Perückenversorgung ohne weiteres anzuerkennen ist. Beim Beschwerdeführer geht es insbesondere um die Sozialrehabilitation, d.h. die Pflege gesellschaftlicher Kontakte und das Auftreten in der Öffentlichkeit. In der nächsten Zeit wird es bei ihm indes auch darum gehen, sich im Erwerbsleben einzugliedern (Lehrstellensuche). Gemäss obigen Ausführungen genügt es für die Abgabe einer Perücke jedoch bereits, wenn diese für die Pflege gesellschaftlicher Kontakte oder das Auftreten in der Öffentlichkeit benötigt wird.

5.2 Dem Beschwerdeführer als 12-jähriger Junge kann nicht entgegen gehalten werden, er habe seine Kopf- und Körperbehaarung nicht infolge einer akuten, sondern aufgrund einer chronischen Erkrankung verloren, wenn doch bislang noch gar keine Ursache, d.h. eine Krankheit diagnostiziert werden konnte. Entscheidend ist einzig, dass es sich nicht um einen normalen Haarausfall, wie er in Rz. 2035 vom Haarausfall zufolge einer akuten Krankheit oder deren Behandlung abgegrenzt wird, handelt und dass die kindliche bzw. jugendliche äussere Erscheinung durch das charakteristische Ausprägungsmuster einer typisch erwachsenen männlichen Kahlköpfigkeit eine empfindliche Beeinträchtigung erfährt, welche mit dem beantragten Hilfsmittel, der Perücke, möglichst kaschiert werden soll.

Soweit die Beschwerdegegnerin somit KHMI Rz. 2035 wortwörtlich auslegt resp. die Perückenversorgung gestützt auf KHMI Rz. 2035 mit der Begründung ablehnt, der Haarausfall des Beschwerdeführers sei nicht Folge einer akuten Krankheit oder deren Behandlung, kann ihr nicht gefolgt werden. Das Gericht hat Weisungen nur zu berücksichtigen, soweit diese eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen (vgl. Erw. 3.5 oben). Dies ist vorliegend – wie oben aufgezeigt – nicht der Fall.

Die beim Beschwerdeführer vorliegende Alopezia areata universalis – eine Autoimmunkrankheit – machte beim Beschwerdeführer eine Perückenversorgung spätestens seit Gesuchstellung notwendig, zumal dieses Hilfsmittel, d.h. die Perücke, das Eingliederungsziel gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG – wie oben aufgezeigt – erfüllt. Die voraussehbare Verwendungsdauer von mindestens einem Jahr ist zudem ohne weiteres anzunehmen, sprach die Fachärztin Dr. C doch von einem im 2011 beginnenden und im 2013 totalen Haarausfall und einer schlechten Prognose (vgl. Erw. 3.6 und Erw. 4.2 oben).

5.3 Zusammenfassend sind unter den angeführten Umständen und der dargelegten Rechtsprechung die Voraussetzungen für einen Kostenbeitrag (von jährlich höchstens Fr. 1'500.–) an eine Perücke gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG und Ziffer 5.06 HVI-Anhang offenkundig erfüllt. Demzufolge ist die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, dem Beschwerdeführer die verordnungsmässigen Leistungen für eine Perücke gestützt auf Ziffer 5.06 HVI-Anhang zu gewähren. Damit erweist sich die Beschwerde als begründet und sie ist entsprechend gutzuheissen.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2015 S 2015 92

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