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Art. 1 IPRG, Art. II Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1958
Art. 29 Abs. 2 BV
Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
Art. 74 ZPO, Art. 731b OR
Art. 90 Abs. 2 IPRG, Art. 15 Abs. 1 IPRG
Art. 234 Abs. 1 ZPO, Art. 245 Abs. 1 ZPO
Art. 257 ZPO
Art. 266 i.V.m. 261 ZPO
Art. 311 ZPO

Art. 319 ZPO

Regeste:

Art. 319 ZPO – Gegen die im Endentscheid des Einzelrichters verfügte Ordnungsbusse kann  Beschwerde geführt werden, auch wenn gleichzeitig Berufung gegen den Entscheid des Einzelrichters erhoben wurde.

Aus den Erwägungen:

1. Mit Eingabe vom 27. Januar 2016 erhob die Beschwerdeführerin «Einsprache» an die Gerichtskasse des Kantons Zug gegen die ihr im Entscheid des Einzelrichters am Kantonsgericht Zug vom 19. Januar 2016 auferlegte Ordnungsbusse von CHF 100.00. Diese Eingabe wurde zuständigkeitshalber an die Beschwerdeabteilung des Obergerichts Zug weitergeleitet und als Beschwerde entgegengenommen. Gegen den Entscheid des Einzelrichters am Kantonsgericht Zug vom 19. Januar 2016 reichte die Beschwerdeführerin zudem mit Eingabe vom 14. Februar 2016 Berufung beim Obergericht des Kantons Zug ein. Vorab stellt sich die Frage, ob Beschwerde gegen die im Entscheid des Einzelrichters verfügte Ordnungsbusse geführt werden kann, obwohl gleichzeitig Berufung gegen den Entscheid des Einzelrichters erhoben wurde.

1.1 Die vom Einzelrichter verfügte Ordnungsbusse ist eine prozessleitende Verfügung. Prozessleitende Verfügungen betreffen nicht den Streitgegenstand an sich, sondern lediglich die formelle Gestaltung und den Ablauf des Prozesses, und unterscheiden sich insofern von den Entscheiden, insbesondere den Zwischenentscheiden, welche die materiellen und formellen Anspruchsgrundlagen betreffen (vgl. Seiler, Die Berufung nach ZPO, 2013, § 7 N 400). In den vom Gesetz bestimmten Fällen sind prozessleitende Verfügungen mit Beschwerde anfechtbar, ohne dass der Beschwerdeführer einen nicht leicht wieder gutzumachenden Nachteil nachweisen muss (Art. 319 lit. b Ziff. 1 ZPO); zu den voraussetzungslos mit Beschwerde anfechtbaren prozessleitenden Verfügungen zählt auch die Ausfällung einer Ordnungsbusse gemäss Art. 128 Abs. 1 und 3 ZPO (Art. 128 Abs. 4 ZPO). Andere prozessleitende Verfügungen, d.h. solche, die im Gesetz nicht ausdrücklich als beschwerdefähig bezeichnet sind, sind hingegen nur dann selbständig mit Beschwerde anfechtbar, wenn ein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil droht (Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO). Ausgeschlossen ist eine selbständige Anfechtung von prozessleitenden Verfügungen mittels Berufung. Diese steht nur zur Verfügung für die Anfechtung von erstinstanzlichen End- oder Zwischenentscheiden oder von erstinstanzlichen Entscheiden über vorsorgliche Massnahmen, sofern der minimale Streitwert erreicht ist (Art. 308 und 309 ZPO). Zwischenentscheide können sodann gemäss Art. 237 Abs. 2 ZPO selbständig mit Berufung oder Beschwerde angefochten werden, je nachdem ob der Entscheid gemäss Art. 308 und 309 ZPO berufungsfähig ist oder nicht; eine spätere Anfechtung zusammen mit dem Endentscheid ist ausgeschlossen. Auf prozessleitende Verfügungen ist Art. 237 Abs. 2 ZPO jedoch nicht direkt anwendbar, da prozessleitende Verfügungen keine Zwischenentscheide sind.

1.2 In der Frage, ob eine prozessleitende Verfügung im Rahmen der Berufung gegen den Endentscheid überprüft werden kann, herrscht keine Klarheit. Aus der Botschaft des Bundesrates zur Schweizerischen Zivilprozessordnung ergibt sich nichts Eindeutiges: «Weil diese Anordnungen [gemeint sind die prozessleitenden Verfügungen gemäss Art. 319 lit. b Ziff. 1 ZPO] von besonderer Tragweite sind, sollen die Betroffenen sofort Beschwerde führen dürfen, um den angeblichen Verfahrensfehler zu rügen. Sie brauchen nicht den Endentscheid in der Sache abzuwarten» (BBl 2006 7221, S. 7376). Nach Seiler (a.a.O., § 7 N 409) hat die explizite Unterstellung «dieser Entscheide» (gemeint ist wiederum die prozessleitende Verfügung gemäss Art. 319 lit. b Ziff. 1 ZPO) zur Konsequenz, dass sie im Rahmen einer allfälligen Berufung gegen den Endentscheid nicht mehr mit überprüft werden können, und zwar unabhängig davon, ob dagegen tatsächlich Beschwerde geführt wurde oder nicht. Es sei nicht Art. 93 BGG, sondern Art. 237 Abs. 2 ZPO analog anwendbar, wonach die unterlassene Anfechtung bewirke, dass eine gemeinsame Anfechtung mit dem Endentscheid ausgeschlossen sei. Zur Begründung wird einerseits auf die frühere kantonale Rechtsprechung verwiesen; anderseits sei es sachgerecht, davon auszugehen, dass sich die entsprechende Partei bei unterlassener Beschwerde mit dem fraglichen Entscheid abgefunden habe. Bei gegenteiliger Auffassung resultiere als Konsequenz, dass die entsprechende Frage zweimal der kantonalen Oberinstanz vorgelegt werden könne, was nicht die Meinung des Gesetzgebers sein könne. Der gleichen Meinung sind auch Hoffmann-Nowotny (ZPO-Rechtsmittel Berufung und Beschwerde, 2013, Art. 319 ZPO N 16), Reetz (in: Sutter-Somm/Hasenböhler/ Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. A. 2016, Vor-bem. zu den Art. 308 - 318 ZPO N 5) und Staehelin/Staehelin/Grolimund (Zivilprozessrecht, 2. A. 2013, § 26 N 13h). Das Obergericht Zürich vertrat in einem Urteil vom 14. März 2012 ebenfalls diese Meinung und hielt fest, wenn ein prozessleitender Entscheid nicht kraft einer besonderen Bestimmung weiterziehbar sei, bedürfe es zum Weiterzug eines drohenden nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteils (Art. 319 Abs. 1 lit. b Ziff. 2 ZPO). In diesen Fällen sollten die Parteien nicht gezwungen sein, vorsichtshalber das Rechtsmittel zu ergreifen, auf die Gefahr hin, dass die Beschwerdeinstanz die besonderen Voraussetzungen als nicht vorhanden beurteile; solche Fragen könnten daher noch mit dem Rechtsmittel gegen den Entscheid thematisiert werden, freilich auch nur dann, wenn nicht die Zwischen-Beschwerde ergriffen und die Rüge behandelt worden sei; eine solche Beurteilung sei abschliessend. Wo hingegen die Beschwerde aufgrund einer Sondernorm ohne weitere Voraussetzungen zur Verfügung stehe – was bedeute, dass die erste Instanz dafür eine Rechtsmittelbelehrung geben müsse –, könne sie nur unmittelbar gegen den entsprechenden Entscheid ergriffen werden. Wer darauf verzichte, müsse sich dabei behaften lassen, dass er sich mit dem Entscheid abgefunden habe, und könne den Punkt mit dem Rechtsmittel gegen den Endentscheid nicht mehr aufwerfen (PP120005-O/U E. 2.2.2). Anderer Auffassung ist Meier (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 491), wonach die Parteien bei prozessleitenden Entscheiden die Wahl hätten, «ob sie diese direkt mit der Beschwerde oder später – zusammen mit dem Endentscheid – mit Berufung anfechten wollen». Ob damit alle prozessleitenden Verfügungen gemeint sind oder nur diejenigen, die ohne weitere Voraussetzungen beschwerdefähig sind, wird nicht gesagt. Ebenfalls anderer Meinung sind Blickenstorfer (in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung, 2011, Art. 319 ZPO N 20) und Spühler (Basler Kommentar, 2. A. 2013, Art. 319 ZPO N 6).

1.3 Die II. Beschwerdeabteilung des Obergerichts Zug schliesst sich den überzeugenden Ausführungen von Seiler, Hoffmann-Nowotny, Reetz und Staehelin / Staehelin / Grolimund sowie der Auffassung des Obergerichts des Kantons Zürich im zitierten Entscheid an (vgl. E. 1.2 hiervor). War in einem konkreten Fall die Beschwerde gegen einen erstinstanzlichen Entscheid nach Massgabe von Art. 319 lit. b Ziff. 1 ZPO zulässig, so es ist sachgerecht, davon auszugehen, dass sich die entsprechende Partei bei unterlassener Beschwerde mit dem fraglichen Entscheid abgefunden hat; wurde keine Beschwerde geführt, so hat es damit sein Bewenden und kann die Frage im Rahmen des Berufungsverfahrens nicht erneut aufgeworfen werden. Gleiches müsste im Übrigen gelten, wenn zwar die Beschwerde nur unter der Voraussetzung eines nicht leicht wieder gutzumachenden Nachteils zulässig war, die Beschwerdeinstanz diese Voraussetzung im konkreten Fall aber als gegeben erachtete und die Beschwerde daher materiell behandelte. Ihr Entscheid kann im Rahmen einer allfälligen Anfechtung des erstinstanzlichen Endentscheides nicht mehr (mit-)überprüft werden. Dies folgt aus dem Gebot der Prozessökonomie sowie aus dem Prinzip der Einmaligkeit des Rechtsschutzes (vgl. Reetz, a.a.O., Vorbem. zu den Art. 308 - 318 ZPO N 5). Ansonsten könnte die entsprechende Frage zweimal der kantonalen Oberinstanz zur Überprüfung vorgelegt werden. Ausserdem wäre bei (erneuter) Überprüfungsmöglichkeit im Rahmen der Berufung (oder Beschwerde) gegen den Endentscheid die Frage der Verbindlichkeit des ersten Beschwerdeentscheides zu beantworten.

Aus all diesen Gründen ist auf die vorliegende Beschwerde gegen die vom Einzelrichter verfügte Ordnungsbusse (Art. 128 Abs. 4 ZPO) einzutreten. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass gegen den Entscheid in der Sache Berufung geführt wurde, da die Verhängung der Ordnungsbusse als unbedingt beschwerdefähige prozessleitende Verfügung gemäss den vorstehenden Erwägungen im Berufungsverfahren nicht überprüft werden kann.

Obergericht des Kantons Zug, II. Beschwerdeabteilung, 6. April 2016

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