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Gemeinderecht

§ 77 Abs. 4 Gemeindegesetz

Regeste:

§ 77 Abs. 4 Gemeindegesetz – Der Regierungsrat ist im konkreten Fall aus formellen Gründen nicht auf die Stimmrechtsbeschwerde eingetreten, hat aber in den Erwägungen zu den abstimmungsrechtlichen Fragen wichtige Erläuterungen zum Abstimmungsverfahren an Gemeindeversammlungen gemacht. Über die Höhe des Steuerfusses und das Budget muss zwingend getrennt abgestimmt werden. Indem im konkreten Fall über beide Themen in ein und derselben Abstimmung abgestimmt wurde, ist eine differenzierte Stimmabgabe (ja-nein, nein-ja) verunmöglicht worden (Erw. 7: Teilung der Abstimmungsfrage). Abstimmungsprozedere an der Gemeindeversammlung bei drei verschiedenen Anträgen zum Steuerfuss (Erw. 7: Gegenüberstellung der verschiedenen Anträge zum Steuerfuss).

Aus dem Sachverhalt:

A. Der Gemeinderat Oberägeri unterbreitete der Einwohnergemeindeversammlung vom 7. Dezember 2015 – neben anderen Geschäften – zu Traktandum 2 folgende Anträge:

  1. ...
  2. Der Steuerfuss für das Jahr 2016 wird um drei Prozentpunkte auf 68 % erhöht.
  3. ...
  4. Das Budget 2016 der Einwohnergemeinde Oberägeri, beinhaltend die Erfolgsrechnung und die Investitionsrechnung, wird genehmigt.
  5. ...

B. Bei Traktandum 2 entstanden während der Versammlung zu weiteren gestellten Anträgen zum Steuerfuss 2016 und zum Budget 2016 verfahrensrechtliche Diskussionen über die Abstimmungen. Der genaue Ablauf wird unter Ziff. 6 der Erwägungen dargelegt. Die Schlussabstimmung ergab:

  1. ...
  2. Der Steuerfuss für das Jahr 2016 wird unverändert bei 65 Prozentpunkten bleiben.
  3. ...
  4. Das Budget 2016 der Einwohnergemeinde Oberägeri, beinhaltend die Erfolgsrechnung und die Investitionsrechnung, wird zur Überarbeitung zurückgewiesen.
  5. ...

C. Am 22. Dezember 2015 reichte E. eine Beschwerde gegen den Beschluss der Gemeindeversammlung vom 7. Dezember 2015 ein. Er stellte unter anderem folgenden Antrag:

  1. Der Regierungsrat hat abzuklären, ob die Abstimmungen zu den Anträgen bei Traktandum 2 – Budget 2016 – korrekt erfolgten.

(...)

Aus den Erwägungen:

1. Aus dem Protokoll der Gemeindeversammlung geht hervor, dass bei der Festsetzung des Steuerfusses 2016 und der Genehmigung des Budgets 2016 folgende drei Anträge vorlagen (S. 14):

  1. Antrag des Gemeinderates: Erhöhung des Steuerfusses 2016 um drei Prozentpunkte auf 68 % und Genehmigung des vorgelegten Budgets 2016.
  2. Antrag der FDP und der SVP: Keine Steuererhöhung 2016 und Ablehnung des vorgelegten Budgets 2016.
  3. Antrag der CVP: Erhöhung des Steuerfusses 2016 um zwei Prozentpunkte auf 67 %.

Aus dem Protokoll (S. 15) geht hervor, dass darüber wie folgt abgestimmt wurde:

Erste Abstimmung: Der Antrag FDP/SVP wird dem Antrag des Gemeinderates gegenübergestellt. Antrag FDP/SVP (keine Erhöhung Steuerfuss und keine Genehmigung des Budgets in derselben Abstimmung, zusammen) 217 Stimmen. Antrag Gemeinderat (Erhöhung Steuerfuss und Genehmigung Budget in derselben Abstimmung, zusammen) 92 Stimmen

Zweite Abstimmung: Der Antrag der CVP (nur Erhöhung Steuerfuss) wird keinem anderen Antrag gegenübergestellt. Antrag CVP 153 Stimmen.

Dritte Abstimmung: Der Ordnungsantrag von X., die Abstimmungen zu wiederholen, wird eindeutig abgelehnt.

Vierte Abstimmung (S. 20 des Protokolls): Die bereinigten Anträge werden zur Schlussabstimmung unterbreitet:

  1. ...
  2. Der Steuerfuss für das Jahr 2016 wird unverändert bei 65 Prozentpunkten bleiben.
  3. ...
  4. Das Budget 2016 ... wird zur Überarbeitung zurückgewiesen.
  5. ...

Protokoll S. 20: «Die bereinigten Anträge erfahren nach durchgeführter Abstimmung eine grossmehrheitliche Zustimmung mit wenigen Gegenstimmen.»

2. Diese Vorgehensweise wurde in der Gemeindeversammlung eingehend debattiert und teilweise kritisiert. Votanten beanstandeten insbesondere, dass der Steuerfuss 2016 einerseits und das Budget 2016 andererseits nicht separat zur Abstimmung gelangten, sondern zusammen. Zudem wurde die Vorgehensweise bei der Abstimmung über die Anträge zu den Steuerfüssen von 65, 67 und 68 Prozentpunkten bemängelt. Der Regierungsrat prüft, ob die Vorgehensweise eine Missachtung wesentlicher Verfahrensgrundsätze (gemeinderechtlicher Missstand) ist und er aufsichtsrechtlich einschreiten muss.

Die Verfahrensvorschriften für die Gemeindeversammlung sind in den §§ 70 bis 82 des Gemeindegesetzes geregelt. Die eigentliche Verhandlungsordnung ist nur in § 75 des Gemeindegesetzes sehr knapp umschrieben. § 77 Abs. 4 des Gemeindegesetzes lautet: «Stehen sich mehrere Anträge gegenüber, bestimmt der Präsident die Abstimmungsfolge. Wird ein Einwand erhoben, entscheidet die Gemeindeversammlung. «Eine ergänzende gemeindliche Geschäftsordnung für die Gemeindeversammlung liegt nicht vor. Die Rechtslage auf Gemeindeebene unterscheidet sich diesbezüglich wesentlich vom Kantonsrat mit seiner ausführlichen Geschäftsordnung vom 28. August 2014 (BGS 141.1) und vom Grossen Gemeinderat (GGR) der Stadt Zug mit seiner Geschäftsordnung vom 4. November 1997. Somit hat die gemeindliche Versammlungsleitung mehr verfahrensrechtliche Freiheiten als die Leitung des Kantonsrats und des GGR.

Trotz dieser Freiheit sind bestimmte Regeln zu beachten, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Gemeindegesetz oder in einem gemeindlichen Erlass geregelt sind. Nach Art. 34 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV) haben die Stimmberechtigten Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Es soll garantiert werden, dass jeder Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann (BGE 131 I 442 E. 3.1 S. 447; 130 I 290 E. 3.1 S. 294). Die Vorgehensweise der Versammlungsleitung am 7. Dezember 2015 widerspricht diesem Erfordernis in zweifacher Hinsicht.

Teilung der Abstimmungsfrage

Es dürfen in einer Abstimmungsfrage nicht unterschiedliche Themen enthalten sein, die sich aufteilen lassen. Um die staatsrechtliche Terminologie bei Initiativen zu verwenden, darf «die Einheit der Materie» nicht verletzt werden. Dies führt zu einer Verfälschung der Willensäusserung der Stimmberechtigten, sofern sie in derselben Abstimmung über zwei verschiedene Themen abstimmen müssen. Bei Doppelthemen ist häufig ein zweifaches Ja, ein zweifaches Nein, ein Nein und Ja oder ein Ja und Nein möglich. Diese differenzierte Willensäusserung wird bei unzulässigen Koppelungen verunmöglicht. Ob eine Abstimmungsfrage aufgeteilt werden kann, richtet sich nach folgendem Kriterium: Ist der «unmittelbare Zusammenhang» zwischen den Teilfragen so eng, dass die Aufteilung zu sinnlosen Ergebnissen führen würde, ist keine Aufteilung vorzunehmen? Anders gefragt: Bedingen sich die Teilfragen gegenseitig dermassen intensiv, dass durch eine Aufteilung Wesenselemente der Abstimmungsfrage verloren gehen? Ist die Antwort «ja», erfolgt keine Aufteilung der Abstimmungsfrage. Bei einem «Nein» erfolgt die Aufteilung (Tino Jorio, Geschäftsordnungen des Regierungsrats und des Kantonsrats des Kantons Zug, Zürich 2015, Rz. 844).

Die Versammlungsleitung hat es zugelassen, dass in ein und derselben Abstimmung sowohl über den Steuerfuss 2016 wie auch über die Genehmigung des Budgets 2016 abgestimmt wurde. Dieses Vorgehen wurde mit der Einheit der Materie begründet. Der Regierungsrat teilt diese Auffassung nicht. Es besteht zwar folgender Zusammenhang zwischen Steuerfuss und Budget: Zuerst muss der Steuerfuss bestimmt werden. Die Steuereinnahmen bilden die Einnahmenseite des Budgets. Wenn der Steuerfuss gesenkt wird, sinken die Einnahmen. Wenn er erhöht wird, steigen die Einnahmen. Dies beinhaltet eine einfache Rechnung anlässlich der Versammlung: Steuersubstrat mal Steuerfuss. Vor der Schlussabstimmung zum Budget muss der allenfalls korrigierte Wert eingesetzt werden. Die Anpassung auf der Einnahmenseite (tieferer Steuerfuss) bewirkt entweder einen tieferen Einnahmenüberschuss oder einen höheren Aufwandüberschuss. Daraus wird klar: Der Zusammenhang zwischen Steuerfuss und Budget ist nicht sehr eng. Es besteht keine «Einheit der Materie» im strengen rechtlichen Sinne. Über die beiden Fragen muss zwingend getrennt abgestimmt werden. Jede Teilfrage (Steuerfuss und Budget) macht bei einer Abstimmung für sich allein Sinn. Es ist den Stimmberechtigten mit der Teilung der Abstimmungsfrage zu ermöglichen, über ein Ja zur Steuerfusserhöhung und ein Nein zum Budget oder – umgekehrt – ein Nein zur Steuerfusserhöhung und ein Ja zum Budget abzustimmen. Indem nun der Steuerfuss und das Budget in ein und derselben Abstimmung zusammengefasst wurden, ist eine differenzierte Stimmabgabe (ja-nein, nein-ja) verunmöglicht worden. Mit der am 7.12.2015 gewählten Vorgehensweise (Koppelung von zwei teilbaren Abstimmungselementen) wird der freie Wille der Stimmberechtigten nicht zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck gebracht.

Gegenüberstellung der verschiedenen Anträge zum Steuerfuss

Es ist zwar einzuräumen, dass die Versammlungsleitung gemäss § 77 Abs. 4 des Gemeindegesetzes die Abstimmungsfolge bestimmen darf. Dabei hat er jedoch folgende verfahrensrechtlichen Grundsätze zu beachten:

Es lagen drei Anträge zum Steuerfuss 2016 vor, nämlich Beibehaltung bei 65 Prozentpunkten (FDP, SVP), Erhöhung auf 67 Prozentpunkte (CVP) und Erhöhung auf 68 Prozentpunkte (Gemeinderat). Dies sind drei gleichwertige Anträge auf derselben Verfahrensstufe. Es ist nicht so, dass der eine Antrag nur eine Präzisierung oder eine Modifikation eines andern Antrags beinhaltet. Keiner der drei Anträge ist nur eine Teilmenge des andern. Es handelt sich somit bei keinem dieser drei Anträge um einen Unterantrag zu einem anderen. Kein Kriterium für die Einteilung in Antrag-Unterantrag ist, wer den Antrag gestellt hat (Gemeinderat, Stimmberechtigte). Ebenso kein Kriterium ist, zu welchem Zeitpunkt ein Antrag gestellt wird. Massgebend ist der materielle Inhalt der einzelnen Anträge (Tino Jorio, a.a.O. Rz. 835, 836).

Die Versammlungsleitung hat nur zwei gleichwertige Anträge einander gegenübergestellt, nämlich denjenigen von FDP/SVP und denjenigen des Gemeinderates. Hingegen hat er den dritten gleichwertigen Antrag (CVP) isoliert zur Abstimmung gebracht und ihn nicht den beiden anderen Anträgen gegenübergestellt. Wie aus dem Protokoll hervorgeht, ergaben sich durch dieses Vorgehen viele Unklarheiten (Zwischenrufe) und Stimmenthaltungen. Aus dieser nicht korrekten Vorgehensweise ergab sich kein klares Bild, wie viele Stimmberechtigte dem Antrag FDP/SVP, dem Antrag Gemeinderat und dem Antrag CVP zustimmten. Bei einer direkten Gegenüberstellung aller drei Anträge hätte vielleicht ein Antrag bereits bei der ersten Abstimmung das absolute Mehr erreicht. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte eine weitere Abstimmung zwischen dem zweitplatzierten und dem drittplatzierten Antrag erfolgen müssen. Der obsiegende Antrag dieser zweiten Abstimmung wäre dann dem obsiegenden Antrag der ersten Abstimmung gegenübergestellt worden. Dies hätte den Stimmberechtigten eine differenzierte Willensbildung ermöglicht und die Stimmverhältnisse wären für alle drei Anträge transparent geworden.

(...)

Nach Auffassung des Regierungsrats hätte die Abstimmung wie folgt erfolgen müssen, was auch für zukünftige analoge Fälle gilt:

1. Abstimmung (Steuerfuss): Direkte Gegenüberstellung von drei gleichwertigen Anträgen Gemeinderat, FDP/SVP und CVP zum Steuerfuss. Sofern ein Antrag das absolute Mehr erreicht, ist der Steuerfuss bereinigt.

2. Abstimmung (Steuerfuss, eventuell): Sofern kein Antrag das absolute Mehr erreicht hätte, wären der zweitplatzierte und der drittplatzierte einander gegenüber zu stellen. Der unterliegende Antrag fällt weg.

3. Abstimmung (Steuerfuss, eventuell): Der obsiegende Antrag aus der zweiten Abstimmung wird dem erstplatzierten aus der ersten Abstimmung gegenübergestellt. Damit ist der Steuerfuss bereinigt.

4. Abstimmung (Budget): Rückweisung oder Genehmigung des je nach Steuerfuss korrigierten Budgets auf der Einnahmenseite.

5. Abstimmung (eventuell, Schlussabstimmung): Eine Schlussabstimmung über alle bereinigten Anträge wäre möglich, jedoch nicht zwingend nötig.

(...)

Entscheid des Regierungsrates vom 23. Februar 2016

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