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Art. 3 KVG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 lit. b KVV
Art. 25-31 KVG i.V.m. Art. 32-34 KVG, Art. 17-19 KLV
Art. 37 Abs. 4 ATSG
Art. 9 AVIG
Art. 51 Abs. 1 AVIG i.V.m. Art. 29 AVIG und 15 Abs. 1 AVIG
Art. 95 AVIG i.V.m. Art. 25 Abs. 1 ATSG
EG Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 i.V.m. EG Nr. 988/2009 vom 16. September 2009, Wegleitung über die Versicherungspflicht in der AHV/IV (WVP), Stand 1. April 2012, Art. 20 Abs. 3 AHVV
Art. 25 ATSG i.V.m. Art. 24 ELV

Art. 16b ff EOG i.V.m. Art. 29 EOV, KS MSE Rz. 1072

Regeste:

Art. 16b ff. EOG i.V.m. Art. 29 EOV – Sondernorm, dass eine Mutter, die zum Geburtszeitpunkt arbeitslos ist und die Mindesterwerbsdauer von Art. 16b Abs. 1 lit. b EOG nicht erfüllt, dann Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung hat, wenn sie bis zur Geburt Taggelder der ALV bezog oder am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach AVIG erforderliche Beitragsdauer erfüllt (Erw. 5.1). Wurden die ALV-Taggelder wegen der Karenzfrist oder aus anderen Gründen nicht bis zur Geburt ausgerichtet, entsteht der Entschädigungsanspruch, wenn die Taggelder bis zur Geburt nicht ausgeschöpft wurden, im Zeitpunkt der Geburt aber noch eine Rahmenfrist offen ist (Erw. 3.3.2). In casu war zum Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes, der Taggeldanspruch, aufgrund der von ihr entrichteten Beiträge während der Rahmenfrist, bei weitem noch nicht ausgeschöpft. (Erw. 5.2.1).

Aus dem Sachverhalt:

Die Versicherte, A., Jahrgang 1986, wohnhaft in der Stadt Zug, war vom 1. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2014 in der Privatklinik E., als Stationspsychologin tätig, weshalb ihre AHV-Beiträge über die Ausgleichskasse Privatkliniken der Schweiz AKPH, mit Sitz in Bern, abgerechnet wurden. Am 15. März 2015 gebar sie einen Sohn, der auf den Namen B. hört. Mit Anmeldung vom 28. Juni 2016 beantragte sie die Ausrichtung einer Mutterschaftsentschädigung. Nach entsprechender Überprüfung wurde am 8. November 2016 bei der kantonalen Steuerverwaltung der Quellensteuerabzug ermittelt bzw. mit Mitteilung sowie Abrechnung vom 16. November 2016 zuhanden der Versicherten ein totaler Leistungsanspruch – unter Abzug der AHV/IV/EO/ALV-Beiträge sowie der Quellensteuer – im Betrage von Fr. 14'023.90 in Aussicht gestellt. Gestützt auf eine zwischenzeitlich der AKPH zugegangene Verfügung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zug vom 4. Dezember 2014, mit welcher der Versicherten die arbeitslosenversicherungsrechtliche Anspruchsberechtigung mangels Vermittlungsfähigkeit rückwirkend per 1. August 2014 abgesprochen wurde, lehnte die AKPH den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung mit Verfügung vom 22. Dezember 2016 schliesslich aber ab, da sie zum Zeitpunkt der Niederkunft weder erwerbstätig noch im Sinne des AVIG als arbeitslos gemeldet gewesen sei. Dagegen liess die Versicherte, vertreten durch die D.-Rechtschutzversicherung, für diese RA lic. iur. C., Einsprache erheben. Mit Entscheid vom 15. März 2017 wies die AKPH die Einsprache vollumfänglich ab. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 28. April 2017 liess A., vertreten durch RA C., von der D.-Rechtschutzversicherung, die Anträge deponieren, der Einspracheentscheid vom 15. März 2017 sei aufzuheben und ihr sei die gesetzliche Mutterschaftsentschädigung auszurichten; unter Entschädigungsfolge zulasten der Beschwerdegegnerin. Mit Vernehmlassung verlangte die AKPH sinngemäss die Abweisung der Beschwerde.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.

3.1 Die Artikel 16b ff. EOG regeln die Anspruchsberechtigung auf Mutterschaftsentschädigungen. Als anspruchsberechtigt gilt demzufolge eine Frau, die a) während der neun Monate vor der Niederkunft im Sinne des AHVG obligatorisch versichert war, b) in dieser Zeit mindestens fünf Monate eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat und c) im Zeitpunkt der Niederkunft 1) Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 10 ATSG, 2) Selbständigerwerbende im Sinne von Art. 12 ATSG ist oder 3) im Betrieb des Ehemannes mitarbeitet und einen Barlohn bezieht (Art. 16b Abs. 1 EOG). Für Frauen, die wegen Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit die Voraussetzungen von Abs. 1 lit. a nicht erfüllen bzw. im Zeitpunkt der Niederkunft nicht Arbeitnehmerinnen oder Selbständigerwerbende sind, regelt die Verordnung genaueres (Art. 16b Abs. 3 EOG). Der Anspruch entsteht am Tage der Niederkunft, wobei die Mutter bei längerem Spitalaufenthalt des Neugeborenen beantragen kann, dass die Auszahlung erst erfolgt, wenn das Kind nach Hause kommt (Art. 16c EOG; vgl. zum letzten Aspekt auch: Art. 24 der Verordnung zum Erwerbsersatzgesetz vom 24. November 2004 [EOV, SR 834.11]). Der Anspruch endet am 98. Tag nach Beginn oder früher, so die Mutter früher wieder eine Erwerbstätigkeit aufnimmt oder stirbt (Art. 16d EOG). Die Entschädigung wird als Taggeld ausgerichtet und dieses beträgt 80 % des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, das vor Beginn des Anspruchs erzielt wurde (Art. 16e EOG). Der Höchstbetrag liegt bei Fr. 196.– pro Tag (Art. 16f Abs. 1 EOG). Der Bezug der Mutterschaftsentschädigung schliesst den Bezug von Taggeldern der Arbeitslosen-, der Invaliden-, der Unfall- und der Militärversicherung sowie den Bezug von Entschädigungen nach Art. 9 und 10 EOG aus. Bestand vorgängig an den Anspruchsbeginn auf Mutterschaftsentschädigung ein Anspruch auf Taggelder nach IVG, KVG, UVG, MVG oder AVIG, so entspricht die Mutterschaftsentschädigung mindestens dem bisher bezogenen Taggeld (Art. 16g EOG). Die Kantone können höhere und länger dauernde Mutterschafts- oder Adoptionsentschädigungen vorsehen (Art. 16h EOG).

3.2 Die Verordnung zum Erwerbsersatzgesetz (EOV) regelt in den Artikeln 23 bis 33 weitere Details. So gilt als weitere Anspruchsvoraussetzung beispielsweise, dass das Kind lebensfähig geboren wurde oder die Schwangerschaft mindestens 23 Wochen gedauert hat (Art. 23 EOV). Sodann gibt es Bestimmungen zur Mindestversicherungs- und zur Mindesterwerbsdauer (Art. 26 und 28 EOV). Nach Art. 29 EOV hat eine Mutter, die zum Zeitpunkt der Geburt arbeitslos ist oder infolge Arbeitslosigkeit die erforderliche Mindesterwerbsdauer nach Art. 16b Abs. 1 lit. b EOG nicht erfüllt, gleichwohl Anspruch auf eine Entschädigung, wenn sie bis zur Geburt ein Taggeld der ALV bezog oder am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach AVIG erforderliche Beitragsdauer erfüllt. Artikel 30 EOV regelt sodann den Entschädigungsanspruch arbeitsunfähiger Mütter und in den Artikeln 31 bis 33 EOV wird die Entschädigungsberechnung thematisiert.

3.3

3.3.1 Die in der Regel vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erlassenen verwaltungsinternen Weisungen resp. Wegleitungen binden die Verwaltung, nicht aber die kantonalen Sozialversicherungsgerichte. Das Bundesgericht unterstützt die Bindung der Verwaltung an die genannten Richtlinien mit dem Hinweis darauf, dass den Bestrebungen der Verwaltung, durch entsprechende interne Weisungen, Richtlinien, Tabellen, oder Skalen eine rechtsgleiche Behandlung der Versicherten zu gewährleisten, Rechnung getragen werden müsse. Ein Eingreifen des Sozialversicherungsrichters in das Ermessen der Verwaltung rechtfertigt sich nach der höchstrichterlichen Auffassung schliesslich nur dann, wenn ein Ermessensmissbrauch gegeben ist, d.h. wenn sich die Verwaltung von unsachlichen und zweckfremden Erwägungen hat leiten lassen oder allgemeine Rechtsprinzipien wie das Willkürverbot oder das Verbot rechtsungleicher Behandlung, aber auch das Gebot von Treu und Glauben oder den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, missachtet hat (vgl. BGE 123 V 150 Erw. 2 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch: Urteil des Bundesgerichts vom 14. September 2006 [C 127/06] Erw. 4.2).

3.3.2 Nach dem Kreisschreiben über die Mutterschaftsentschädigung (KS MSE), Stand Januar 2014, sind die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 16b Abs. 1 EOG kumulativ zu erfüllen (Rz. 1022). Allerdings kann der Anspruch auch entstehen, wenn die Voraussetzung der neunmonatigen Versicherungsdauer erfüllt ist und zudem Taggelder der ALV bezogen werden oder aber wenn im Zeitpunkt der Geburt ein Anspruch auf ALV-Taggelder besteht, schliesslich wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Arbeitsunfähigkeit bestand und die fünfmonatige Erwerbsdauer erfüllt ist (Rz. 1022/1). Zum Begriff der Arbeitnehmerin hält das Kreisschreiben unter anderem fest, dass kein Anspruch besteht, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Niederkunft endet, ohne dass die Mutter bis dahin einen Lohnersatz in Form eines Taggeldes der ALV, IV, KV, MV oder UV bezieht oder die Voraussetzungen zum Bezug einer ALV-Entschädigung erfüllen würde (Rz. 1055). Im Kapitel 3.8 wird zu den arbeitslosen Müttern festgehalten, dass Frauen, die die versicherungsmässige Voraussetzung erfüllen, auch ohne Erfüllung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen Anspruch auf die Entschädigung haben, wenn sie bis zur Geburt ein Taggeld der schweizerischen Arbeitslosenversicherung beziehen (Rz. 1072). Wurden die ALV-Taggelder wegen der Karenzfrist oder aus anderen Gründen nicht bis zur Geburt ausgerichtet, entsteht der Entschädigungsanspruch, wenn die Taggelder bis zur Geburt nicht ausgeschöpft wurden, im Zeitpunkt der Geburt aber noch eine Rahmenfrist offen ist (Rz. 1072/1). Wer den maximalen Taggeldbezug der ALV im Zeitpunkt der Geburt ausgeschöpft hat, hat selbst wenn die Rahmenfrist noch besteht keinen Anspruch auf Entschädigung mehr. Auch der Bezug eines gleichwertigen kantonalen ALV-Taggeldes gibt keinen Anspruch auf die fragliche Entschädigung (Rz. 1073). Erfüllt eine Frau im Zeitpunkt der Geburt die Mindestbeitragsdauer für die ALV-Taggelder, ohne sich aber dafür angemeldet zu haben, entsteht ein Anspruch auf Entschädigung. Die erforderliche Mindestbeitragsdauer muss während der ordentlichen zweijährigen Rahmenfrist zurückgelegt worden sein; eine Verlängerung der Rahmenfrist fällt ausser Betracht (Rz. 1074). Die entsprechenden Abklärungen im Sinne von Rz. 1074 sind beim Seco zu erfragen und dieses hat zu prüfen, ob die Mindestbeitragsdauer für den Bezug der Arbeitslosentaggelder erfüllt ist (Rz. 1077).

3.4 Die von den Parteien zitierte Judikatur äussert sich zur hier interessierenden Problematik wie folgt:

3.4.1 Im Entscheid BGE 127 V 475 vom 9. Oktober 2001 wird zum Aspekt der Beständigkeit einer einmal festgelegten Rahmenfrist ausgeführt, nach der gesetzlichen Konzeption bleibe eine einmal laufende Rahmenfrist grundsätzlich bestehen und könne eine neue frühestens nach deren Ablauf eröffnet werden. Weder eine die Arbeitslosenentschädigung ausschliessende Tätigkeit noch der Wegfall der Anspruchsberechtigung als solche (beispielsweise bei nicht mehr gegebener Vermittlungsfähigkeit) beendige die Rahmenfrist. Ebenfalls könne die Rahmenfrist nicht durch den Verzicht auf Leistungen verkürzt werden. Die Beständigkeit des einmal festgelegten Beginns der Leistungsrahmenfrist stehe einzig unter dem Vorbehalt, dass sich die Zusprechung und Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung nicht nachträglich zufolge Fehlens einer oder mehrerer Anspruchsvoraussetzungen unter wiedererwägungsrechtlichem oder prozessualrevisionsrechtlichem Gesichtswinkel als unrichtig erweise. Soweit AM/ALV-Praxis 98/4 etwas anderes ausführe, sei dies nicht gesetzeskonform, wobei jedenfalls eine Verschiebung der Rahmenfrist im Falle von deren wiedererwägungs- bzw. revisionsweisen Aufhebung möglich sein müsse (vgl. BGE 127 V 475 Erw. 2a und 2b).

3.4.2 Im Entscheid BGE 136 V 239 vom 8. Juli 2010 führte das Bundesgericht zum Begriff Arbeitslosigkeit nach AVIG und nach EOG aus, gemäss dem Ingress von Art. 16b Abs. 3 EOG und Art. 29 EOV sei Voraussetzung für den ausnahmsweisen Leistungsanspruch trotz Fehlens einer Erwerbstätigkeit, dass die Mutter im Zeitpunkt der Geburt arbeitslos sei. Nach Art. 10 Abs. 1 und 2 AVIG gelte als ganz bzw. teilweise arbeitslos, wer in keinem oder nur einem teilzeitlichen Arbeitsverhältnis stehe und eine Vollzeit- bzw. eine weitere Teilzeitbeschäftigung suche. Nach Art. 10 Abs. 3 AVIG gelte der Arbeitsuchende erst dann als arbeitslos, wenn er sich beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung gemeldet habe. Die Vorinstanz habe gestützt auf diese Bestimmung erwogen, die Beschwerdeführerin sei gar nicht arbeitslos, weil sie, was unbestritten sei, im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes nicht beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung gemeldet gewesen sei. Nach der Entstehungsgeschichte von Art. 16b Abs. 3 EOG dürfe allerdings nicht verlangt werden, dass eine Frau im Zeitpunkt der Niederkunft auch tatsächlich Arbeitslosenentschädigung beziehen müsse. Ein Anspruch solle auch dann bestehen, wenn ohne Bezug von Arbeitslosenentschädigung im Zeitpunkt der Geburt eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet sei, unabhängig davon, ob unmittelbar vor der Niederkunft Arbeitslosenentschädigung bezogen werde, oder wenn unmittelbar vor oder unmittelbar nach der Niederkunft eine nach dem AVIG genügende Beitragszeit nachgewiesen sei oder ein Grund für die Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit vorliege. Im Sinne einer konsequenten Leistungsabgrenzung und Koordination zwischen AVIG und EOG solle damit vermieden werden, dass sich Versicherte zur Wahrung ihrer Ansprüche auf Mutterschaftsentschädigung zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung anmelden müssten. Eine solche Anmeldung könne angesichts des starren Rahmenfristensystems in der Arbeitslosenversicherung zu einer massiven Beeinträchtigung ihrer Ansprüche im Falle einer späteren Arbeitslosigkeit führen. Zudem verlange das Gebot der Gleichbehandlung eine solche Regelung, weil ansonsten die Kategorie der beitragsfrei versicherten Personen ungleich behandelt würde, je nachdem, ob im Zeitpunkt der Niederkunft ein Antrag auf Arbeitslosenentschädigung gestellt worden sei oder nicht. Nach diesen Ausführungen sei also der Begriff «arbeitslos» gemäss Art. 16b Abs. 3 EOG und Art. 29 EOV nicht im Sinne von Art. 10 Abs. 3 AVIG zu verstehen. Eine Abweichung sei jedoch nur vom formellen Erfordernis der Anmeldung beim Arbeitsamt zulässig. Materiell müsse Arbeitslosigkeit vorliegen. Des Weiteren vorausgesetzt sei für die Mutter, die nicht bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezogen habe (Art. 29 lit. a EOV), dass sie am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach dem AVIG erforderliche Beitragsdauer erfülle (Art. 29 lit. b EOV). Eine gesetzeskonforme Auslegung der Verordnung führe nun aber dazu, dass unter Beitragsdauer im Sinne von Art. 29 lit. b EOV nur diejenige, die in der ordentlichen zweijährigen Rahmenfrist zurückgelegt wurde, verstanden werden könne (BGE 136 V 239 Erw. 2.1 /2.2 und 2.4 in fine).

3.4.3 Im Entscheid BGE 142 V 502 ging es um die Verlängerung der Rahmenfrist im Sinne von Art. 9a Abs. 2 AVIG für Personen, die einen Statuswechsel zur selbständigen Erwerbstätigkeit hinter sich haben.

(...)

5.1 Zur Beleuchtung der Rechtslage ist noch einmal daran zu erinnern, dass es für Frauen, die zufolge Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit die Voraussetzungen von Art. 16b Abs. 1 lit. b EOG nicht erfüllen, eine vom Verordnungsgeber geschaffene Sondernorm gibt. So hält Art. 29 EOV fest, dass eine Mutter, die zum Geburtszeitpunkt arbeitslos ist oder die oberwähnte Bestimmung über die Mindesterwerbsdauer nicht erfüllt, dann Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung hat, wenn sie bis zur Geburt Taggelder der ALV bezog oder am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach AVIG erforderliche Beitragsdauer erfüllt. Präzisierend hält KS MSE Rz. 1072 fest, dass der Entschädigungsanspruch auch dann entstehe, wenn aus unterschiedlichen Gründen nicht bis zur Geburt ALV-Taggelder ausgerichtet worden seien, dies jedenfalls dann, wenn die Taggelder bis zur Geburt nicht ausgeschöpft worden seien und die Rahmenfrist noch offen sei. Der in Erwägung 3.4 ff. zitierten,einschlägigen Rechtsprechung ist schliesslich zum einen zu entnehmen, dass eine einmal eröffnete Rahmenfrist – vorbehältlich der revisions- oder wiedererwägungsweisen Aufhebung – grundsätzlich von Bestand ist. Zum andern ist festzuhalten, dass auch das Bundesgericht in einem einschlägigen Entscheid (vgl. Erw. 3.4.2) zu Art. 16b Abs. 3 OEG bzw. Art. 29 EOV deutlich machte, dass Arbeitslosigkeit nach Art. 10 Abs. 3 AVIG nicht mit dem Begriff «arbeitslos» nach Art. 16b Abs. 3 EOG resp. Art. 29 EOV gleichgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu «normalen» Arbeitslosen könne nach der Entstehungsgeschichte von Art. 16b Abs. 3 EOG im Hinblick auf den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung von den Müttern nämlich nicht verlangt werden, dass sie im Zeitpunkt der Niederkunft auch tatsächlich Arbeitslosenentschädigungen beziehen müssten. Ein Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung solle vielmehr auch dann bestehen, wenn unabhängig vom Bezug von Arbeitslosengeldern vor der Niederkunft eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet sei bzw. wenn im Zeitraum der Niederkunft eine nach dem AVIG genügende Beitragszeit nachgewiesen sei oder aber ein Grund für die Befreiung der Erfüllung der Beitragszeit bestehe. Im Sinne einer konsequenten Leistungsabgrenzung und Koordination zwischen AVIG und EOG müsse vermieden werden, dass sich Versicherte einzig zur Wahrung ihrer Mutterschaftsentschädigungsansprüche zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern anmelden müssten. Nach dem Gesagten, so das Bundesgericht andernorts, sei für den fraglichen Anspruch einzig vorausgesetzt, dass die Mutter zur Zeit der Geburt die erforderliche Betragszeit erfülle, nicht aber dass sie Taggelder beziehe.

5.2

5.2.1 Im Hinblick auf die Subsumption ist in sachverhaltlicher Hinsicht zu bedenken, dass die Beschwerdeführerin sich im Juni 2014 bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug, konkret auch zum Taggeldbezug angemeldet hat. Entsprechend wurde ihr, wie vom Seco bestätigt, vom 6. Juni 2014 bis zum 5. Juni 2016 eine Rahmenfrist für den Bezug von Taggeldern eröffnet. In der Rahmenfrist für die Beitragszeit, vom Juni 2012 bis Juni 2014, hat sie nachweislich mehr als 12 Monate gearbeitet und entsprechend Beiträge entrichtet. Ihr standen nach den unbestrittenen Angaben der zuständigen Arbeitslosenkasse 260 ALV-Taggelder zu. Da sie lediglich in den Monaten Juni und Juli 2014 Taggelder ausgerichtet erhielt, war der Taggeldanspruch zum Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes, am 15. März 2015, noch bei weitem nicht ausgeschöpft und nach Aktenlage waren noch ca. 230 Taggelder offen. Fakt ist indes auch, dass das AWA des Kantons Zug der Beschwerdeführerin zufolge massiv ungenügender Mitwirkung die Vermittlungsfähigkeit aberkannte.

5.2.2 Würdigend ist unter Bezugnahme auf Erwägung 3 ff. wie auf Erwägung 5.1 noch einmal zu bedenken, dass ein effektiver Bezug von Arbeitslosentaggeldern nach AVIG für den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung nach Gesetz, Verordnung und insbesondere nach der höchstrichterlichen Praxis nicht gefordert ist. Es genügt vielmehr, dass die versicherte Person einen theoretischen Anspruch belegen kann. Dies ist der Fall, wenn sie in der Rahmenfrist für die Beitragszeit mindestens während zwölf Monaten erwerbstätig und entsprechend beitragspflichtig war, wenn ihr zum Zeitpunkt der Niederkunft noch immer eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug offen steht bzw. wenn sie ihren Taggeldanspruch bis zur Niederkunft nicht bereits erschöpft hat. Vorliegend ist all dies nach der Aktenlage bzw. nach dem in Erwägung 5.2.1 Aufgezeigten unbestrittener Massen gegeben. Mit der Beschwerdeführerin ist überdies denn auch festzustellen, dass es im Lichte der einschlägigen Praxis somit als völlig belanglos erscheint, ob eine versicherte Person zufolge unterlassener Mitwirkung nach den Bestimmungen des AVIG als nicht vermittlungsfähig qualifiziert wurde oder nicht. Musste die Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund von BGE 136 V 239 gar nicht zur Arbeitsvermittlung angemeldet sein, kann sich die Frage der Vermittlungsfähigkeit ja auch gar nicht stellen. Im Gegenteil würde das Beharren auf der Vermittlungsfähigkeit, damit implizit auch auf dem effektiven Taggeldbezug, der im fraglichen Entscheid geforderten klaren Leistungsabgrenzung resp. Koordination zwischen AVIG und EOG diametral zuwider laufen. Nach dem Gesagten ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Mutterschaftsentschädigung vorliegend zweifelsohne zu bejahen.

(...)

6. Damit erweisen sich Verfügung und Einspracheentscheid als falsch, die Beschwerde indes erweist sich als begründet und sie ist vollumfänglich gutzuheissen.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 5. Juli 2017, S 2017 58
Das Urteil ist rechtskräftig.

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