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§ 17 bis Abs. 1 GG, § 67 Abs. 1 lit. a und b WAG

Regeste:

§ 17 bis Abs. 1 GG, § 67 Abs. 1 lit. a und b WAG – Zur Erhebung einer  Stimmrechtsbeschwerde sind sowohl Privatpersonen als auch politische Verbände legitimiert, sofern letztere als Verein nach Art. 60 ff. ZGB konstituiert sind, im Gebiet der jeweiligen Gemeinde aktiv sind und hauptsächlich aus Mitgliedern, die in der infrage stehenden Gemeinde wohnen, bestehen (Erw. 2). Der im Anschluss an eine Gemeindeabstimmung berechtigte aber vom Gemeinderat nicht durchgeführte  Ordnungsantrag auf Wiederholung der Abstimmung hat die Ungültigkeit der Abstimmung zur Folge (vgl. zum Ganzen Erw. 6, zum berechtigten Ordnungsantrag Erw. 6d sowie zur Folge der Ungültigkeit Erw. 6g).

Aus dem Sachverhalt:

a. An der Gemeindeversammlung der Einwohnergemeinde A. vom 31. Mai 2017 wurde die Motion der B.-Partei vom Februar 2017 als erheblich erklärt, die den Gemeinderat beauftragte, im Zusammenhang mit der Sanierung/Erneuerung der Ortsdurchfahrt, ebenfalls Tempo-30-Zonen wirtschaftlich zu realisieren. Gleichzeitig wurde der Gemeinderat beauftragt, die Kosten für eine Studie zu ermitteln und einen entsprechenden Kreditantrag vorzulegen. In der Folge beantragte der Gemeinderat der Gemeindeversammlung vom 29. November 2017 unter Traktandum sechs einen Kredit von 46 000 Franken für die Ausarbeitung eines nach Art. 32 Abs. 3 des Strassenverkehrsgesetzes erforderlichen verkehrstechnischen Gutachtens zur Einführung von Tempo 30 im Gemeindegebiet.

b. Bei der ersten Abstimmung der Gemeindeversammlung zu Traktandum sechs wurde der Antrag des Gemeinderates mit 126 Nein-Stimmen gegen 123 Ja-Stimmen abgelehnt. Ein Teilnehmer der Gemeindeversammlung, Z, stellte einen Ordnungsantrag auf «Nachzählung», worauf der Gemeindepräsident wie folgt reagierte: «Gut, das können wir machen. Nochmalige Nachzählung ... Wer für die Tempo-30-Zone ist, soll das jetzt mit Handerheben bezeugen... Wer gegen das Konzept ist, soll das jetzt mit Handerheben bezeugen.» Bei der zweiten Abstimmung gab es 133 Ja-Stimmen und 122 Nein-Stimmen. Anschliessend ging der Gemeindepräsident zu Traktandum sieben (weitere Informationen aus dem Gemeinderat) über. Daraufhin wurde er von einem Stimmberechtigten unterbrochen. Dieser fragte ihn, welches Resultat nun gelte in Anbetracht der Tatsache, dass die Gemeindeversammlung in der ersten Abstimmung den Kredit abgelehnt und in der zweiten Abstimmung dem Kredit zugestimmt habe. Daraufhin ordnete der Gemeindepräsident eine dritte Abstimmung mit folgenden Worten an: «Wer ist dafür, dass wir die 46'000.– Franken ausgeben? ... Wer ist dagegen? Wir machen keine vierte Abstimmung.» Die dritte Abstimmung ergab 128 Ja-Stimmen und 128 Nein-Stimmen. In der Folge erklärte der Gemeindepräsident, dass der Gemeinderat dieses Geschäft auf die nächste Gemeindeversammlung verschiebe.

c. Gegen das im Amtsblatt publizierte Ergebnis der Gemeindeversammlung A. erhoben die C.-Partei, vertreten durch D., sowie die E.-Partei, vertreten durch F., Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zug. Die Beschwerdeführer beantragten im wesentlichen, die erste Abstimmung mit dem Resultat von 126 Nein-Stimmen zu 123 Ja-Stimmen sei für gültig und sämtliche weiteren Abstimmungen sowie Handlungen des Gemeinderats unter Traktandum sechs für nichtig zu erklären. Mit Beschluss vom 18. Januar 2018 trat der Regierungsrat auf die Beschwerde der C.-Partei und der E.-Partei nicht ein und wies die Beschwerde von D. und F. ab.

d. Gegen diesen Beschluss liessen D. und die C.-Partei am 16. Februar 2018 Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen.

Aus den Erwägungen:

(…)

2. Der Regierungsrat hat lediglich die Beschwerdeberechtigung von D. anerkannt. Vom Gemeinderat wird die Legitimation beider Beschwerdeführer zur Stimmrechtsbeschwerde bestritten.

a) Die Privatperson D. ist gegenüber dem angefochtenen Gemeindeversammlungsbeschluss vom 29. November 2017 als stimm- und wahlberechtigter Einwohner ohne weiteres zur Erhebung der Stimmrechtsbeschwerde befugt. Dies ergibt sich formell schon aufgrund des Grundsatzes der Einheit des Verfahrens in Berücksichtigung von Art. 111 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG, SR 173.110) i.V. mit Art. 89 Abs. 3 BGG (BGE 135 I 292 E. 1, 1C_587/2008 vom 12. August 2009, E. 1). Die Beschwerdeberechtigung in Stimmrechtssachen schliesst an die politische Stimmberechtigung im Sinne einer Organstellung und damit an die Ausübung öffentlicher Interessen an und setzt darum insbesondere kein besonderes persönliches Interesse voraus (vgl. Steinmann, Basler Kommentar BGG, 2. A. 2011, Art. 89 N 71 f.). Schon allein die Tatsache, dass ein Stimmberechtigter Beschwerde führt, weist ein genügendes Interesse an der Wahrung des objektiven Rechts aus (vgl. Josef Hensler, Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Kanton Schwyz, 1980, S. 45). In dem mit dem Inkrafttreten des WAG am 16. Dezember 2006 aufgehobenen § 49 Abs. 2 Ziff. 2 VRG war noch ausdrücklich festgehalten, dass jeder Aktivbürger zur Beschwerde befugt ist.

b) Die Beschwerdelegitimation kommt auch C.-Partei zu. Denn die C.-Partei ist als Verein nach Art. 60 ff. ZGB konstituiert und es ist unzweifelhaft, dass sie im Gebiet der Gemeinde A. aktiv ist und hauptsächlich aus Mitgliedern, die in der Gemeinde A. wohnen, besteht (vgl. Steinmann, a.a.O., N 73 mit Hinweis auf BGE 136 I 352, 376; BGE 134 I 172, 175). Die Legitimation ergibt sich unmittelbar aufgrund der Stellung der politischen Partei im demokratischen Verfahren. Die C.-Partei handelt im Beschwerdeverfahren für die von ihm vertretenen Stimmberechtigten im Hoheitsgebiet der Körperschaft, deren Beschluss angefochten wird (vgl. Patrick Schönbächler, Das Verfahren der Gemeindeversammlung im Kanton Schwyz, 2. Aufl. 2001, veröffentlicht auf der Website http://www.schoenbaechler.ch/gdevers.pdf, Rz. 86, Fn. 260; Michel Besson, Legitimation zur Beschwerde in Stimmrechtssachen, in: ZBJV 2011, S. 843 ff., hier 853). Entgegen der Ansicht des Gemeinderats steht fest, dass politische Parteien gerade die Wahrung und Vertretung der Interessen der Vereinsmitglieder jedenfalls in politischen Belangen vorsehen, abgesehen davon, dass die Rechtsprechung zur sog. egoistischen Verbandsbeschwerde nur hinsichtlich von Verbänden ohne politische Zielsetzungen heranzuziehen wäre (vgl. dazu Besson, 854).

(…)

6. a) Umstritten und zu prüfen ist zunächst, ob es rechtmässig war, dass der Gemeindepräsident nach dem Abstimmungsresultat der ersten Abstimmung mit dem Resultat von 126 Nein-Stimmen zu 123 Ja-Stimmen weitere Abstimmungen über denselben Verhandlungsgegenstand anordnete.

(…)

d) Grundsätzlich soll das Resultat einer Abstimmung gelten. Selbst ein knappes Abstimmungsergebnis rechtfertigt für sich allein nicht eine Wiederholung einer Abstimmung. Auch wenn keine ausdrücklichen Bestimmungen darüber bestehen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Ergebnisse von Abstimmungen nachzuprüfen sind, darf jedenfalls die Leitung der Gemeindeversammlung nicht nach Belieben, ohne besondere Umstände, auf ein verkündetes Abstimmungsergebnis zurückkommen und eine Wiederholung der Abstimmung anordnen. Wie im Bundesgerichtsentscheid BGE 104 Ia 428, 432 E. 3c, festgehalten wurde, kommt der Wiederholung der Abstimmung unter den Umständen des Stimmenmehrs an der Glarner Landsgemeinde praktisch die Funktion einer Nachzählung zu. Eine solche könne nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch ohne entsprechende kantonale Vorschrift angeordnet werden, wenn sie zur zuverlässigen Feststellung des Abstimmungsresultates als geboten erscheine (BGE 101 Ia 245; BGE 98 Ia 85). Im zu beurteilenden Fall habe für den Landammann Anlass bestanden, an der Richtigkeit des von ihm festgestellten Abstimmungsergebnisses zu zweifeln, nachdem dessen Verkündung unter den Stimmbürgern Protest hervorgerufen habe und offenbar auch seitens der Protokollführer auf das Vorliegen eines Irrtums hingewiesen worden sei. In einer derartigen Situation sei es dem Landammann nicht verwehrt, eine Wiederholung der Abstimmung anzuordnen, um das Stimmenverhältnis – nötigenfalls unter Beihilfe der übrigen Regierungsratsmitglieder – nochmals abschätzen zu können. Auf Grund des bundesrechtlichen Anspruches auf richtige Feststellung des Abstimmungsergebnisses sei er zu einem solchen Vorgehen berechtigt.

Aus diesem höchstrichterlichen Urteil ist zu schliessen, dass solche besonderen Umstände etwa dann als erfüllt zu betrachten sind, wenn die Stimmenzählenden einen nur mangelhaften Überblick über das Versammlungslokal hatten, das Ergebnis offensichtlich knapp war und unter Protest entgegengenommen wurde. Richtschnur für diese Beurteilung ist, dass die Demokratie darauf aufbaut, dass sich die unterlegene Minderheit loyal einem Mehrheitsentscheid unterzieht, wobei sich diese Loyalität längerfristig aber nur aufrechterhalten lässt und erwartet werden kann, wenn die Bürgerinnen und Bürger der Überzeugung sind, dass bei Erlass von Volksentscheiden das verfassungs- und gesetzesmassig vorgeschriebene demokratische Verfahren zweifelsfrei beachtet worden ist. Ein Anspruch auf Nachzählung des Abstimmungsergebnisses ist demnach gegeben und einem darauf hinzielenden Begehren muss entsprochen werden, wenn an der Zuverlässigkeit und Genauigkeit der ermittelten Resultate begründete Zweifel vorhanden sind.

Es bedarf jedenfalls besonderer Umstände, damit das Zurücknehmen eines verkündeten Abstimmungsergebnisses gerechtfertigt ist und über das fragliche Geschäft nochmals abgestimmt werden darf, doch darf umgekehrt aufgrund des bundesrechtlichen Anspruchs auf richtige Feststellung des Abstimmungsergebnisses die Hemmschwelle für die Anordnung der Wiederholung der Abstimmung auch nicht zu hoch sein. Wenn begründete Zweifel an der Zuverlässigkeit und Genauigkeit der ermittelten Resultate vorhanden sind, besteht deshalb sogar ein Anspruch auf Wiederholung der Abstimmung (Schönbächler, Rz. 67). Wie Schönbächler überzeugend ergänzt, ist die – auch im vorliegenden Fall im Raum stehende – Missbrauchsgefahr schon von daher klein, als die Wiederholung der Abstimmung durch den personell identischen Abstimmungskörper erfolgt und ohne nennenswerten Aufwand möglich ist. Hingegen würde die Anordnung einer Wiederholung der Abstimmung nicht angehen, wenn sich zwischenzeitlich – vor allem durch das Erscheinen weiterer Stimmberechtigter an der Versammlung – die Mehrheitsverhältnisse allenfalls verschoben haben könnten (Schönbächler, Rz. 67 Fn. 209). Hierfür bestehen vorliegend keine Hinweise. Je klarer das erste Abstimmungsergebnis ausgefallen ist, umso weniger wahrscheinlich ist es zudem, dass eine zweite Abstimmung am Ergebnis etwas ändern könnte. Hinzuzufügen ist, dass dabei vorauszusetzen ist, dass eine Wiederholung der Abstimmung bzw. ein Zurückkommen eine sofortige Anordnung voraussetzt und vorher keine weitere Diskussion vorgeschaltet werden darf.

Zweifellos geht im Falle, dass keine klaren Gründe für eine solche Anordnung bestehen, die Wiederholung einer Abstimmung zur Nachzählung über die ordentliche verfahrensleitende Befugnis des Gemeindepräsidenten hinaus, da eine solche Anweisung eben gerade nicht nur das Verfahren sicherstellt und ordnet, sondern offensichtlich direkte Auswirkungen auf das bereits einmal festgestellte inhaltliche Resultat einer Abstimmung haben kann. Denn im Gegensatz zur geheimen (schriftlichen) Abstimmung, in welcher der Wille der Stimmberechtigten «zementiert», aber allenfalls falsch festgestellt wurde, gibt es bei der Wiederholung offener Abstimmungen erfahrungsgemäss immer Leute, welche sich bei der ersten Abstimmung der Stimme enthalten haben und nunmehr mitstimmen oder aber in Kenntnis des ersten Abstimmungsresultates ihre Meinung und damit ihr Abstimmungsverhalten ändern. Deshalb soll nicht ohne Not bzw. willkürlich, etwa nach politischem Belieben der Verfahrensleitung, durch blosses Behaupten einer Unordnung oder – wenn keine vom Versammlungsleiter von Amtes wegen zu berücksichtigende, begründete Zweifel an der Zuverlässigkeit und Genauigkeit der ermittelten Resultate bestehen – nicht ohne formellen Beschluss der Gemeindeversammlung eine Abstimmung wiederholt werden (vgl. Entscheid des Regierungsrats des Kantons Solothurn vom 9. November 2004, E. 2.3.1, einsehbar unter http://www.appl.so.ch/appl/ger/daten/ger2004/06.pdf). Wenn aber beispielsweise das Abstimmungsergebnis bloss um eine Stimme zwischen Ja und Nein differiert, dann ist es offensichtlich als nachvollziehbar anzusehen, dass am Abstimmungsresultat, das mittels Handerheben festgestellt wird, Zweifel bestehen können (Entscheid Regierungsrat Kanton Solothurn vom 9. November 2004, E. 2.3.1, http://www.appl.so.ch/appl/ger/daten/ger2004/06.pdf).

e) Die Stimmberechtigten müssen die Möglichkeit des Antrags auf Wiederholung einer Abstimmung als Gegenstand eines Ordnungsantrags haben, nachdem bei begründeten Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Genauigkeit der ermittelten Resultate wie erwähnt ein Anspruch auf Wiederholung der Abstimmung besteht. Dies muss insbesondere gelten, falls die Versammlungsleitung nicht selber tätig wird. Auch aufgrund dieses sich aus der Garantie der politischen Rechte ergebenden Anspruchs hat die in § 76 Abs. 2 GG enthaltene Aufzählung von Ordnungsanträgen offensichtlich nur beispielhaften Charakter. Sie ist nicht abschliessend. Bei einem Ordnungsantrag auf Wiederholung einer Abstimmung hat die Gemeindeversammlung aber gemäss § 76 Abs. 2 GG zuerst formell darüber abzustimmen, ob sie nochmals auf die bereits erfolgte Abstimmung zurückkommen möchte. Ohne ausdrückliche Zustimmung der Gemeindeversammlung besteht kein Anspruch der Stimmberechtigten auf ein Rückkommen (vgl. H.R. Thalmann, Kommentar zum Zürcher Gemeindegesetz, 3. A., Wädenswil 2000, § 46 Ziff. 5.6.2). Es ist somit – wie der Regierungsrat zu Recht ausführt – zu unterscheiden, ob die Versammlungsleitung oder die Gemeindeversammlung selbst auf ein Abstimmungsergebnis zurückkommt. Während die Versammlungsleitung nicht nach Belieben auf ein nach Auszählung der Stimmen verkündetes Abstimmungsergebnis zurückkommen und eine Wiederholung der Abstimmung anordnen kann (vgl. den Landsgemeindefall BGE 104 la 428 E. 3b), kann die Gemeindeversammlung selbst entscheiden, auf ein Abstimmungsergebnis zurückkommen und die Abstimmung wiederholen zu wollen. Diesbezüglich ist es nicht abwegig, beispielsweise auf das im Kanton Zug bestehende Antragsrecht eines Kantonsratsmitglieds, eine Abstimmung des Kantonsrates zu wiederholen (§ 71 Abs. 2 des Kantonsratsbeschlusses über die Geschäftsordnung des Kantonsrats vom 28. August 2014, GO KR; BGS 141.1), hinzuweisen, da es sich doch um ein demokratisches Abstimmungsverfahren handelt, auch wenn es zutreffend ist, dass parlamentarische Verfahren grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der politischen Rechte gehören (vgl. Gerald Steinmann, St. Galler Kommentar zu Art. 34 BV, Rz. 5). Das Gemeindegesetz schliesst eine Wiederholung einer Abstimmung jedenfalls nicht explizit aus. Auch zum Zürcher Gemeindegesetz wird denn die Meinung vertreten, dass die Gemeindeversammlung auch ohne explizite Gesetzesbestimmung selbst auf ein Geschäft zurückkommen kann, über welches sie bereits abgestimmt hat (H.R. Thalmann, § 46 Ziff. 6.2, recte 5.6.2; Alain Griffel in: GG – Kommentar zum Zürcher Gemeindegesetz, Zürich, 2017, § 23 N 26). Nicht einschlägig erscheinen demgegenüber die von den Beschwerdeführern angeführten Entscheide BGer 1C_582/2016 und BGE 131 l 442 E. 3.3, da einerseits im vorliegenden Fall der Ordnungsantrag gerade unmittelbar im Anschluss an die erste Abstimmung gestellt worden ist und sich anderseits die Situation anlässlich einer Urnenabstimmung nicht auf eine Gemeindeversammlungsabstimmung mit offenem Handmehr übertragen lässt. An der notwendigen Unterscheidung zwischen den Kompetenzen der Versammlungsleitung und der Gemeindeversammlung vorbei geht aber die Ansicht, dass Anträge aus der Versammlung auf Wiederholung einer Abstimmung nicht ohne Weiteres bzw. nur zugelassen werden dürften, wenn Fehler in der Ermittlung des Ergebnisses vorlägen, die für das Ergebnis von entscheidender Bedeutung seien. Über die Angemessenheit oder die Missbräuchlichkeit einer erneuten Abstimmung kann und soll ja gerade die Gemeindeversammlung mittels Abstimmung befinden. Auch im aargauischen Gemeinderecht ist das Stellen von Wiedererwägungsanträgen ohne spezielle Voraussetzungen gestattet (vgl. AGVE 2002, 621, 623). Demzufolge muss gelten, dass wenn Fehler in der Ermittlung des Ergebnisses oder im Abstimmungsverfahren noch in der Gemeindeversammlung festgestellt oder glaubhaft gemacht werden oder Zweifel über den Ausgang der Abstimmung bestehen, der Präsident die Abstimmung sofort zu wiederholen hat (vgl. H.R. Thalmann, § 46 N 6.10, mit Hinweis u.a. auf BGE 101 la 245; 98 la 85). Im Übrigen entscheidet im Zweifel, wie Thalmann überzeugend ausführt, die Versammlung über einen allfälligen entsprechenden Ordnungsantrag. Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man rechtsvergleichend unter Berücksichtigung von § 59 Abs. 2 des Gemeindegesetzes des Kantons Solothurn (GG, vom 16. Februar 1992, SO BGS 131.1) davon ausgeht, dass wer mit einer verhandlungsleitenden Verfügung – beispielsweise der unterlassenen Wiederholung einer Abstimmung – nicht einverstanden ist, sich sogleich bei der Gemeindeversammlung zu beschweren hat, die unverzüglich entscheidet. Wer also mit einer verhandlungsleitenden Verfügung nicht einverstanden ist, kann sich – mit einem Ordnungsantrag – ungeachtet der Tatsache, dass das zugerische Gemeindegesetz sich dazu nicht äussert, sogleich bei der Gemeindeversammlung beschweren, die unverzüglich entscheidet (dies in Analogie zu § 77 Abs. 4 GG, wonach über Einwände gegen die Festlegung der Abstimmungsfolge von Anträgen die Gemeindeversammlung entscheidet).

f) Im vorliegenden Fall stellte der Versammlungsteilnehmer Z nach der ersten Abstimmung den «Ordnungsantrag... ich bitte um Nachzählung». Da eine eigentliche Nachzählung wegen des offenen Handmehrs im Gegensatz zu einer Urnenabstimmung nicht möglich war, konnte und musste sein Antrag auf Nachzählung nur insofern interpretiert werden, dass er eine Wiederholung der Abstimmung verlangte. Eine andere Würdigung käme entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer einem unzulässigen, überspitzten Formalismus und einer offensichtlichen Verletzung der demokratischen Rechte gleich. So kann den Beschwerdeführern nicht gefolgt werden, wenn sie einwerfen, ungültige Anträge auf Nachzählung könnten nicht «sinngemäss» in gültige Anträge auf Rückkommen umgedeutet werden. Denn es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass der Antragsteller nach einem formell an sich angezeigt gewesenen präsidialen Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Nachzählung und die formell angebracht gewesene Rückfrage, ob er damit einen Antrag auf Wiederholung stelle, diese Frage bejaht hätte. Unter den gegebenen Umständen bedurfte es einer solchen formellen Bestätigung aber offensichtlich nicht. Nicht gefolgt werden kann weiter der Ansicht der Beschwerdeführer, dass Ordnungsanträge, über die fälschlicherweise nicht abgestimmt werde, nicht pendent blieben, sondern als erledigt zu gelten hätten, wenn nicht rechtzeitig Beschwerde erhoben werde, womit die erste Abstimmung Gültigkeit behielte. Diese Argumentation verfängt hier schon darum nicht, weil der Antragsteller Z angesichts der offensichtlich in seinem Sinn ausgegangenen weiteren Abstimmungen keinen Anlass hatte, formelle Rügen geltend zu machen. Er wäre dazu auch kaum legitimiert gewesen. Eine solche Rechtsprechung widerspräche gerade dem Sinn und Zweck der Formstrenge im demokratischen Entscheidungsfindungsprozess. Denn der oder die Verfahrensfehler liegen hier klar auf Seiten der Versammlungsleitung und können nicht nachträglich zu Lasten des Stimmberechtigten angerechnet werden, hinter dessen Anliegen wohl auch eine Vielzahl anderer Anwesender standen.

Somit hat Z unmittelbar im Anschluss an die erste Abstimmung zu Traktandum 6 einen gültigen Ordnungsantrag auf Wiederholung der Abstimmung gestellt. Wie der Gemeinderat richtig ausführt, erfolgte der Ordnungsantrag mit Blick auf die konkreten Verhältnisse (hohe Teilnehmerzahl, zumindest teilweise wohl eher unübersichtliche Verhältnisse, etc.) und das knappe Ergebnis jedenfalls nicht rechtsmissbräuchlich, d.h. der Versammlungsleiter konnte den Ordnungsantrag nicht einfach übergehen bzw. formlos nicht darauf eingehen (vgl. den oben schon zitierten Schönbächler, Rz. 67). Ohnehin bedarf es aber für die Abstimmung über einen Ordnungsantrag auf Wiederholung einer Abstimmung keines Nachweises von Unregelmässigkeiten oder Zweifeln über das Verfahren oder die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses der ersten Abstimmung. Es ist ein demokratisches Recht. Nicht zu folgen ist deshalb den Beschwerdeführern, wenn sie davon ausgehen, ein Antrag auf Rückkommen habe weder gültig gestellt noch gültig zur Abstimmung gebracht werden können.

g) Der Gemeindepräsident hätte der Gemeindeversammlung unverzüglich mitteilen müssen, dass infolge objektiver Unmöglichkeit der Ordnungsantrag von Z einzig als solcher auf Wiederholung der Abstimmung behandelt werden könne und auch sogleich in diesem Sinne darüber abzustimmen sei. Die Versammlungsleitung hat es aber unterlassen, den zwar richtig verstandenen Ordnungsantrag unverzüglich als solchen der Gemeindeversammlung zur Abstimmung zu unterbreiten. Stattdessen hat sie sogleich noch einmal in der Sache abstimmen lassen. Diese zweite Abstimmung erfolgte ganz offensichtlich unter Umständen, gemäss denen jedenfalls höchst unsicher war, ob die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer über den Abstimmungsmodus bzw. den Gegenstand ihrer Stimmabgabe (Abstimmung über den Ordnungsantrag auf Wiederholung oder materielle Abstimmung in der Sache selbst) im Klaren oder im Ungewissen waren. Wenn der Gemeindepräsident folgende Worte an die Gemeindeversammlung richtete: «Wer für die Tempo-30-Zone ist, soll das jetzt mit Handerheben bezeugen... Wer gegen das Konzept ist, soll das jetzt mit Handerheben bezeugen», dann legten diese Ausführungen für viele Versammlungsteilnehmer nahe, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die meisten Stimmberechtigten davon ausgegangen sind, dass erneut über die Sache und nicht über einen Ordnungsantrag auf Wiederholung der Abstimmung abgestimmt werde. Dieser Mangel wiegt zweifellos so schwer, dass die zweite Abstimmung keine ordnungsgemässe und gültige Erledigung des Ordnungsantrags darstellen konnte. (Nur am Rande ergänzt sei hier die Bemerkung, dass der Gemeindepräsident bei der zweiten Abstimmung mit seinen Worten – «Wer für die Tempo 30-Zone ist ...» – gleichzeitig formell auch nicht den zutreffenden Antrag – nämlich den Kredit von Fr. 46'000.– – zur Abstimmung stellte). Erst wenn der Ordnungsantrag angenommen worden wäre, hätte die (Sach-) Abstimmung wiederholt werden können und ein anderes Ergebnis hätte gültig zustande kommen können. Nur bei einer Abweisung des Ordnungsantrags wäre hingegen das Ergebnis der (ersten) Abstimmung unverändert gültig geblieben. Angesichts dieser Rechtslage hängt die erste Abstimmung folglich noch solange in der Schwebe bzw. ist das Verfahren «nicht vollständig durchgeführt worden», bis über den Ordnungsantrag gültig abgestimmt worden ist, ungeachtet der Tatsache, dass formell die Hauptabstimmung – sogar zweimal – wiederholt worden ist (siehe dazu den Entscheid AGVE 2002 S. 621, 623, bei dem allerdings aufgrund der Umstände der Beschluss trotz Mangels nicht aufzuheben war). Angesichts der ungültigen Abstimmung über den Ordnungsantrag von Z war insbesondere auch die nachfolgende dritte Abstimmung über die Sache unzulässig, da auch sie ohne den notwendigen rechtsgültigen Beschluss der Gemeindeversammlung über den Ordnungsantrag auf Wiederholung der Abstimmung erging. Abgesehen davon ergab sie ein Patt, das eine weitere Abstimmung erforderlich gemacht hätte (vgl. § 79 Abs. 1 GG).

Demzufolge kann, wie der Regierungsrat richtig feststellt, das Resultat der ersten Abstimmung entgegen der Betrachtungsweise der Beschwerdeführer nicht als gültig zustande gekommen betrachtet werden. Dabei handelt es sich keineswegs um einen überspitzten Formalismus, sondern um eine notwendige Strenge im demokratischen Abstimmungsverfahren der Gemeindeversammlungsdemokratie. Dass ein Ordnungsantrag, über den infolge Verfahrensfehlers der Versammlungsleitung nicht sofort abgestimmt wird, die Gültigkeit des zuvor erfolgten Abstimmungsganges nicht hindern solle, würde demgegenüber eine unstatthafte Verkürzung der rechtzeitig geltend gemachten Verfahrensrechte der Stimmberechtigten bedeuten. Nicht nur vermag erst die auf das zuvor beschlossene Rückkommen vorzunehmende Abstimmung in der Sache selber in ihrem Ergebnis die frühere Abstimmung zu ersetzen, wie die Beschwerdeführer geltend machen. Ebenso sehr kann die frühere Abstimmung so lange noch nicht Gültigkeit beanspruchen, als ein formell korrekt erhobener Ordnungsantrag dazu noch nicht erledigt worden ist. Da nur eine rechtsgültig vorgenommene neue Abstimmung das vorherige Resultat ersetzen kann, sind die zweite wie die dritte Abstimmung ungültig. Mit Blick auf das sich aus der Wahl- und Abstimmungsfreiheit ergebende Erfordernis der korrekten Formulierung der Abstimmungsfragen und die rechtmassige Durchführung der Abstimmung ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer über das von der Versammlungsleitung gewählte Abstimmungsverfahren jederzeit im Bilde sind und deshalb in der Lage sind, die Tragweite ihres Abstimmungsverhaltens abzuschätzen (vgl. RRB vom 18. August 1998, ZBl 2000, 48 ff., 50, E. 3b).

(…)

i) Schliesslich ist festzustellen, dass die Gemeindeversammlung über Ordnungsanträge gemäss § 76 Abs. 2 GG unmittelbar nach ihrer Erhebung abzustimmen hat, weshalb über den Antrag von Z nicht nachträglich an der nächsten Gemeindeversammlung abgestimmt werden kann. Der Gemeinderat hat deshalb das Geschäft neu noch einmal an der Gemeindeversammlung zu traktandieren und zur Abstimmung zu bringen, ohne dass es sich also formell um eine Abstimmungswiederholung im Sinne von § 79 GG handeln würde. Die Beschwerdeführer bringen hierzu vor, dass die Verschiebung der Vorlage auf die nächste Gemeindeversammlung ungültig sei, da der Gemeinderat die weitere Beratung und die Abstimmung von Gesetzes wegen nur dann auf eine spätere Gemeindeversammlung verschieben könne, wenn er die Auswirkungen von materiellen Änderungsantragen näher abklären wolle (§ 76 Abs. 1 und 3 Gemeindegesetz), und dass über eine Verschiebung auf die nächste Versammlung höchstens die Gemeindeversammlung selber beschliessen könnte, sofern das mit dem Willkürverbot, der Rechtsgleichheit und allfällig zu beachtenden Fristen vereinbar sei. Hierzu ist festzustellen, dass in der konkreten Konstellation und ausgehend von der vom Gemeinderat – zu Recht oder zu Unrecht – getroffenen Verschiebung des Geschäfts gar kein anderes Vorgehen mehr in Frage kommen kann. Auf diesen Fall sind offensichtlich nicht die allgemein gültigen Voraussetzungen für die Wiederholung von Abstimmungen anwendbar. Jedenfalls kann den Beschwerdeführern nicht gefolgt werden, wenn sie auch mit dieser Argumentation verlangen, dass als Ergebnis der verunglückten Behandlung des Traktandums 6 doch noch die Anerkennung der Gültigkeit der ersten Abstimmung resultieren müsse. Dies käme erneut einer Geringschätzung der demokratischen Instrumente gleich, während die Neuansetzung des Traktandums offensichtlich keine Rechte der Verfahrensbeteiligten oder Dritter beeinträchtigt, sondern vielmehr doch noch zu einer demokratisch legitimierten Entscheidung führen soll. Mit Giovanni Biaggini kann hier nur konstatiert werden, dass die Versammlungsdemokratie nun einmal «problemanfällig» ist (Biaggini, Kommentar BV, Zürich 2007, Art. 34 N 16). Mit den Beschwerdeführern ist aber festzustellen, dass auch ihre gegen die Verschiebung des Geschäftes auf eine weitere Gemeindeversammlung erhobene Rüge zulässig ist, auch wenn sie an der Gemeindeversammlung keinen entsprechenden Ordnungsantrag gestellt haben. Die Einhaltung des Rügeprinzips verlangt tatsächlich nicht, dass gegen jeden einzelnen Schritt förmlich Protest erhoben oder gar ein Ordnungsantrag eingereicht werden muss. Es reicht in diesem Zusammenhang, dass das Gericht wie die Vorinstanz davon ausgeht, dass seitens der Beschwerdeführer die Rügepflicht erfüllt worden ist.

j) Somit ergibt sich, dass es bezüglich des Traktandums 6 an einem gültigen Beschluss der Gemeindeversammlung fehlt. Demzufolge hat der Regierungsrat die Beschwerde und den Antrag der Beschwerdeführer, die erste Abstimmung mit dem Resultat von 126 Nein-Stimmen zu 123 Ja-Stimmen sei für gültig und sämtliche weiteren Abstimmungen sowie Handlungen des Gemeinderats unter Traktandum sechs seien für nichtig zu erklären, zu Recht abgewiesen. Indessen ist der Regierungsrat zu Unrecht nicht auf die Beschwerde der C.-Partei eingetreten. Wie vom Regierungsrat angeordnet worden ist, hat der Gemeinderat das Geschäft nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteils der Gemeindeversammlung notwendigerweise erneut vorzulegen. Demzufolge liegt keine Unregelmässigkeit im Sinne von § 67 WAG i.V.m. § 17bis des Gemeindegesetzes vor und muss die Beschwerde abgewiesen werden.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2018, V 2018 20
Das Urteil ist rechtskräftig.

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