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Art. 66 a ff. StGB

Regeste:

Landesverweisgung; sog. unechte Härtefallprüfung

Aus den Erwägungen:

3.1 Auch mit Bezug auf die persönlichen und familiären Verhältnisse von X. ist vorab auf die vorstehenden Erwägungen (E. V.4.6) sowie auf die Ausführungen der Vorinstanz zu verweisen (OG GD 1 E. VII.3.1 ff.). Er ist als Staatsangehöriger der Republik Kosovo am 5. September 2012 im Alter von 18 Jahren in die Schweiz eingereist, wo er Asyl beantragte, welches ihm mit Verfügung des Bundesamtes für Migration vom 21. März 2014 gewährt wurde. Im Berufungsverfahren wurden insoweit keine wesentlichen neuen Aspekte von der Verteidigung vorgebracht oder an der Befragung dargelegt.

3.2 Die Verteidigung von X. macht nicht geltend, es liege ein schwerer persönlicher Härtefall vor, doch sei ein sogenannter unechter Härtefall zu beachten; darauf ist später einzugehen. Einstweilen ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass X. schlecht integriert ist. Er spricht zwar Schweizerdeutsch und hat in der Person seiner im Kanton Wallis wohnhaften Schwester eine gewisse familiäre Beziehung in der Schweiz. Auch ist seine Partnerin Schweizerin, doch lebt er gemäss eigenen Angaben weiterhin nicht mit ihr zusammen (OG GD 11/1 Ziff. 31 f.). Beruflich ist er wenig erfolgreich, auch wenn er temporär arbeitet und angeblich eine feste Anstellung in Aussicht hat. Unbestrittenermassen hat er im Kosovo die Schulen absolviert und dort auch eine Ausbildung abgeschlossen; in der Schweiz verfügt er demgegenüber über keinen beruflichen Abschluss. Wesentlich gegen eine geglückte Integration sprechen die zahlreichen Vorstrafen und die vorliegend zu beurteilenden Delikte, welche auf einen fehlenden Respekt vor der schweizerischen Rechtsordnung hinweisen. Schon kurz nach der Einreise beging er die erste Straftat, und seither, mit zunehmender Schwere, in regelmässigen Abständen weitere.

Die kosovarische Sprache ist X. vertraut, und er verfügt in seinem Herkunftsland, in dem er die ersten 18 Jahre seines Lebens verbracht hat, über persönliche Beziehungen, vorab zu seiner Mutter. Angesichts seines Werdegangs wird ihm auch die berufliche Integration dort nicht schwerer fallen als in der Schweiz. Eine Rückkehr in sein Herkunftsland würde ihn daher, abgesehen von der noch zu erörternden Gefährdung seines Lebens, nicht besonders schwer treffen und ein schwerer persönlicher Härtefall offenkundig nicht vorliegen.

3.3.1 Es stellt sich indessen die Frage, ob der X. gewährte Flüchtlingsstatus daran etwas ändert. Sein Asylgesuch wurde mit dem Umstand begründet, er sei als volljähriges, männliches Mit-glied der Familie der Blutrache von bestimmten, namentlich benannten Personen ausgesetzt und ihm drohe daher bei einer Rückkehr in sein Heimatland Kosovo der Tod (act. 13.3.1 ff.). Nachdem das Bundesamt für Migration den Asylantrag von X. gutgeheissen hat (act. 13/3/3/4), ist davon auszugehen, dass seine Angaben geprüft und als zutreffend erachtet wurden. Die beigezogenen Akten des Asylverfahrens drängen keine andere Schlussfolgerung auf. Auf den Entscheid der Asylbehörde ist daher ohne erneute Prüfung abzustellen, zumal diese, im Gegensatz zum Gericht, besser in der Lage ist, die Angaben zu prüfen. In tatsächlicher Hinsicht ist daher davon auszugehen, dass X. in seinem Heimatland aufgrund einer Blutfehde tatsächlich konkret an Leib und Leben bedroht ist. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht auch, dass X. die Personen, von denen er bedroht werde, namentlich benannte (act. 13/3/3/1). Es ist überdies bekannt, dass Blutrache im Kosovo nach wie vor praktiziert wird und überwiegend männliche erwachsene Mitglieder einer bestimmten Familie trifft; der Schutz der Betroffenen durch die staatlichen Autoritäten im Kosovo ist ungenügend (vgl. www.fluechtlingshilfe.ch/assets/ herkunftslaender/europa/kosovo/160701-kos-blutrache.pdf; besucht am 3. März 2020). Damit stimmt überein, dass die im Kosovo lebende Mutter von X., auch nach dessen Angaben, insofern nicht bedroht scheint, und dass er selbst das Land erst als Volljähriger verliess.

3.3.2 Das Strafgericht hat dazu unter Hinweis auf ein Urteil des Bezirksgerichts Zürich (GG170032-L vom 12. April 2017 E. 3.2) ausgeführt, das Rückschiebeverbot (Non-Refoulment-Gebot) sei erst im Rahmen des Vollzugs der Landesverweisung zu prüfen und nicht im Rahmen der Härtefallklausel, da Vollzugshindernisse, anders als Härtefallgründe, in der Regel nicht in den persönlichen Verhältnissen der beschuldigten Person, sondern in der Situation des Heimatlandes liegen würden.

3.3.3 Die Verteidigung von X. ist demgegenüber der Auffassung, der Asylstatus von X. sei bereits im Rahmen des gerichtlichen Entscheides bzw. im Rahmen der Härtefallprüfung zu berücksich-tigen. Sie verweist auf das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich SB170246-0 E. 3.5, mit welchem der vom Strafgericht zitierte Entscheid verworfen worden sei, sowie auf das Urteil des Bundesgerichts 6B_651/2018 E. 8.3.3 vom 17. Oktober 2018.

3.3.4 Der Verteidigung ist zuzustimmen, dass die gegen den Vollzug der Landesverweisung bzw. gegen eine allfällige Rückschiebung in den Kosovo sprechenden Gründe vorliegend überwiegend in den persönlichen bzw. familiären Verhältnissen von X. liegen. Sein Leben ist im Falle der Rückkehr in den Kosovo nicht primär aufgrund der dortigen allgemeinen Situation gefährdet, sondern aufgrund der konkreten, individuellen Verhältnisse. Allein aus diesem Grund wurde ihm Asyl gewährt. Die Situation im Heimatland hat nur indirekt darauf Einfluss, indem dort offenbar die Blutfehde nicht hinreichend verhindert wird. Gemäss dem zitierten Bundesgerichtsentscheid 6B_651/2018 vom 17. Oktober 2018 schliesst die Möglichkeit des Vollzugsaufschubs es nicht aus, Vollzugs-hindernisse im Rahmen der Härtefallprüfung bereits bei der An-ordnung der Landesverweisung zu berücksichtigen. Aus dem Wortlaut des Entscheides geht zwar nicht ganz eindeutig hervor, dass solche Hindernisse vom Gericht zwingend berücksichtigt werden müssen; er liesse sich auch dahingehend interpretieren, dass die Berücksichtigung möglich und durch Art. 66d StGB nicht ausgeschlossen ist. Im Entscheid 6B_1024/2019 vom 29. Januar 2020 E. 1.3.5 führte das Bundesgericht sodann aus, das Sachgericht habe die rechtliche Durchführbarkeit der Landesverweisung zu beurteilen, wobei die (vorläufig bestimmbare) Zulässigkeit des tatsächlichen Vollzugs durch das Strafgericht primär gemäss Art. 66a ff. StGB zu prüfen sei. Jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, wo die Unzumutbarkeit der Rückschiebung in den Herkunftsstaat nicht mit der allgemeinen Situation oder mit allgemeinen staatlichen Repressalien, sondern mit den konkreten, individuellen Verhältnissen des Beschuldigten begründet wird, scheint es somit angezeigt, die Unmöglichkeit des Vollzugs im Rahmen der Härtefallprüfung zu berücksichtigen. Dies wird vom Obergericht Zürich im zitierten Entscheid überzeugend dargelegt. Es leuchtet denn auch ohne Weiteres ein, dass eine Bedrohung des Lebens die Rückkehr in den Herkunftsstaat unzumutbar macht. Unbefriedigend ist zwar, dass bereits jetzt über eine Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Heimatstaat entschieden werden muss, obwohl zunächst die Freiheitsstrafe zu vollziehen ist und sich die Verhältnisse bis zum Vollzugsende wieder ändern könnten. Angesichts der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist dies indessen hinzunehmen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Aufenthaltsrecht von X. ausländerrechtlich neu zu prüfen sein wird, falls die Asylgründe entfallen sollten.

Ohne Berücksichtigung des Asylgrundes würde, wie festgestellt, offenkündig kein Härtefall vorliegen. Die konkrete und akute Bedrohung des Lebens von X. im Falle einer Rückführung in den Kosovo wiegt indessen derart schwer, dass dennoch von einem Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB auszugehen ist. Auch wenn ein hohes öffentliches Interesse an der Landesverweisung besteht, geht der Schutz des Lebens von X. vor. Seine Berufung ist insoweit gutzuheissen und auf eine Landesverweisung ist im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ausnahmsweise zu verzichten.

Obergericht, Strafabteilung, Urteil vom 24. März 2020 (S 2019 22-24)

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