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Art. 134 ZGB, Art. 298 ZGB, Art. 308 ZGB

Regeste:

Art. 134 ZGB, Art. 298 ZGB, Art. 308 ZGB – Verfahren betreffend Abänderung des Scheidungsentscheids . Keine Änderung der Obhut(E. 3). Partieller Entzug der elterlichen Sorge bei Uneinigkeit der Eltern über ärztlich empfohlene Ritalinbehandlung eines zwölfjährigen Kindes (E. 4). Festlegung eines Besuchsrechts (E. 5). Verteilung der Prozesskosten (E. 7).

Aus dem Sachverhalt:

Aus der Ehe der Parteien ist der gemeinsame Sohn D., geb. 2007, hervorgegangen. Im Jahr 2013 wurde die Ehe geschieden, D. unter gemeinsamer elterlicher Sorge belassen und unter die Obhut der in Deutschland wohnhaften Beklagten (Mutter) gestellt wurde. Im Jahr 2015 haben die Parteien schriftlich vereinbart, D. unter die Obhut des Klägers (Vater) zu stellen. D. zog zum Kläger in die Schweiz.

Im Jahr 2020 reichte der Kläger beim Kantonsgericht Zug, Einzelrichter, eine Klage auf Abänderung des Scheidungsentscheids ein und verlangte im Wesentlichen, dass D. unter seine alleinige elterliche Sorge gestellt werde. Die Beklagte beantragte in der Klageantwort, dass D. unter ihre alleinige elterliche Sorge und wieder unter ihre Obhut gestellt werde.

Der Einzelrichter hörte das Kind D. an, holte einen schriftlichen Bericht bei den Unterstützende Dienste der KESB Zug ein und führte eine Parteibefragung mit Hauptverhandlung durch.

Am 22. September 2020 entschied das Kantonsgericht Zug, Einzelrichter, dass beiden Eltern die gemeinsame elterliche Sorge über D., geb. 2007, in der Angelegenheit «AD(H)S/Autismus-Untersuchung und -Therapie» bis auf Weiteres entzogen (Art. 308 Abs. 3 ZGB) wird. Weiter regelte das Gericht den persönlichen Verkehr wie folgt: «Die Mutter wird verpflichtet und berechtigt, jeden Mittwoch nach dem Mittag mit D. per Telefon oder Videotelefon zu sprechen und ab 1. Januar 2021 mit ihm pro Jahr während der Schulferien drei Wochen Ferien zu verbringen, wobei die Ferien zwischen den Eltern drei Monate im Voraus abzusprechen sind. Können sie sich nicht einigen, so kommt der Mutter in Jahren mit ungerader Jahreszahl das Entscheidungsrecht bezüglich der Aufteilung der Ferien zu und in Jahren mit gerader Jahreszahl dem Vater. Die Ausübung des Ferienrechts erfolgt auf eigene Kosten». Schliesslich ordnete das Kantonsgericht Zug für D. eine Beistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB an und ersuchte die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Zug (KESB) darum, eine Beistandsperson zu bestellen und dieser die folgenden Aufgaben zu übertragen:

A. AD(H)S/Autismus-Untersuchung und -Therapie:
- Anmeldung von D. zu einer umfassenden ADS/ADHS/Autismus-Untersuchung bei Dr.med. K. oder – bei Verhinderung desselben – einem von der Beistandsperson zu bestimmenden Kinderarzt im Kanton Zug mit Fachgebiet ADS/ADHS/Autismus samt Bericht (Untersuchungsbericht) mit allfälligen Therapieempfehlungen, wobei dem Kinderarzt insbesondere folgende Fragen zu unterbreiten sind:
1. Hat D. ADS/AHDS/Autismus?
2. Falls ja: Empfiehlt der Kinderarzt eine Behandlung oder nicht?
3. Falls eine Behandlung empfohlen wird: Welche Behandlung empfiehlt der Kinderarzt?
4. Falls eine Behandlung mit einem Stimulans (z.B. Ritalin) empfohlen wird: Wäre ohne die Behandlung mit dem Stimulans D.s Wohl ernsthaft gefährdet (Abwärtsspirale etc.)?
4. Hat der Kinderarzt weitere Bemerkungen?
- Zustellung des Untersuchungsberichts mit allfälligen Therapieempfehlungen des Kinderarztes an beide Eltern;
- Versuch, mit beiden Eltern eine gemeinsame Lösung über die Anordnung oder Nichtanordnung einer Therapie zu finden;
- Für den Fall, dass innert einem Monat ab Empfang des Untersuchungsberichts durch die Beistandsperson keine Einigung zwischen Eltern gefunden werden kann: Entscheid (durch die Beistandsperson) über Anordnung oder Nichtanordnung einer Therapie gestützt auf schriftliche Empfehlung des Kinderarztes und Anmeldung von D. zur Therapie beim Kinderarzt oder bei einer vom Kinderarzt empfohlenen Drittperson;
- Information der Eltern über Therapieverlauf;
- Begleitung von D. während Therapie, und, gestützt auf schriftliche Empfehlung des Kinderarztes, gegebenenfalls Entscheid über Abbruch der Therapie;
- Stete Überprüfung, ob partielle Beschränkung der gemeinsamen elterlichen Sorge aufgehoben werden kann, und, gegebenenfalls, Antragstellung bei der KESB.
B. Besuchsrecht (Besuchsrechtsbeistandschaft)
- Vermittlung bei Konflikten bei der Ausübung des persönlichen Verkehrs.
C. Weitere Kinderbelange
- Hinarbeiten auf Verbesserung der Kommunikation (inkl. Informationsaustausch) unter den Eltern;
- Überprüfung, ob Beistandschaft noch erforderlich ist oder ob sogar ein weiterer partieller oder gänzlicher Entzug der elterlichen Sorge erforderlich ist, und gegebenenfalls Antragstellung bei der KESB.

Aus den Erwägungen:

1. Der Kläger ist Schweizer, die Beklagte amerikanische Staatsangehörige. Der Kläger wohnt im Kanton Zug, die Beklagte in Deutschland. Es liegt somit ein internationaler Sachverhalt im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) vor.

Strittig ist vorliegend die elterliche Sorge und Obhut über D. Die Zuständigkeit und das anwendbare Recht bestimmen sich nach dem Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. Oktober 1996 (Haager Kindesschutzübereinkommen [HKsÜ]; SR 0.211.231.011; s. Art. 3 HKsÜ). Gemäss Art. 5 Ziff. 1 HKsÜ sind die Gerichte des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständig, um Massnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes zu treffen. Da D. seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Kanton Zug hat, ist das Kantonsgericht international (Art. 5 Ziff. 1 HKsÜ) und örtlich (Art. 2 IPRG) zuständig. Die sachliche und funktionelle Zuständigkeit des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zugs ergibt sich aus § 28 Abs. 2 lit. e GOG sowie Art. 198 lit. c und Art. 284 ZPO. Anwendbares Recht ist gemäss Art. 15 Ziff. 1 HKsÜ das Schweizer Recht.

2. Auf Begehren eines Elternteils, des Kindes oder der Kindesschutzbehörde ist die Zuteilung der elterlichen Sorge neu zu regeln, wenn dies wegen wesentlicher Veränderung der Verhältnisse zum Wohl des Kindes geboten ist (Art. 134 Abs. 1 ZGB). Diese Bestimmung befasst sich mit der Änderung der per Scheidungsurteil geregelten Kinderbelange, wobei sich Abs. 1 auf die elterliche Sorge und Abs. 2 auf die übrigen Wirkungen des Kindesverhältnisses, namentlich Obhut und persönlicher Verkehr, bezieht. Die im Scheidungsurteil getroffene Regelung der Kinderbelange ist grundsätzlich auf Dauer angelegt, muss allerdings bei entscheidend und auf eine relevante Dauer veränderten Verhältnissen angepasst werden können. Ob eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eine Abänderung der getroffenen Anordnungen bewirken soll (Interventionsschwelle), beurteilt sich aus der Perspektive des Kindeswohls. Eine Neuregelung der Elternrechte (elterliche Sorge, Obhut, Betreuung, persönlicher Verkehr) setzt voraus, dass die Beibehaltung der geltenden Regelung das Wohl des Kindes ernsthaft zu gefährden droht; das Gericht muss zum Schluss kommen, dass die aktuelle Regelung dem Kind mehr schadet als der Verlust an Kontinuität in der Erziehung und den Lebensumständen, der mit der Änderung einhergeht (Fountoulakis/Breitschmid, Basler Kommentar, 6. A. 2018, Art. 134 ZGB N 1–3; Urteil des Bundesgerichts 5A_266/2017 vom 29. November 2017 E. 8.3; je mit Hinweisen).

Im Abänderungsverfahren ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob ein Abänderungsgrund vorliegt (Interventionsschwelle). Bejahendenfalls sind in einem zweiten Schritt jene Parameter, für die ein Abänderungsgrund vorliegt, anzupassen. Hinsichtlich des ersten Schrittes haben bei der elterlichen Sorge vorliegend – trotz Geltung der Untersuchungs- und Offizialmaxime (Art. 55 Abs. 2 und Art. 58 Abs. 2 i.V.m. Art. 296 ZPO) – beide Parteien (beide beantragen eine Änderung) und bei der Obhut die Beklagte (sie beantragt die Umteilung) gestützt auf Art. 8 ZGB diejenigen Umstände zu beweisen (Beweislast), aus denen sich die Erheblichkeit und Dauer der geltend gemachten Veränderung der Verhältnisse ergibt(Beweis des Abänderungsgrundes; s. auch Summermatter, Zur Abänderung von Kinderalimenten, FamPra.ch 01/2012 S. 38 ff., 49 und 53 ff.).

3. Zwischen den Parteien ist strittig, unter wessen Obhut D. zu stellen ist. D. ist zurzeit unter der Obhut des Klägers. Die Beklagte beantragt die Umteilung dieser Obhut, während der Kläger auf Abweisung dieses Antrags schliesst.

3.1 Zur Begründung ihres Antrags führt die Beklagte zusammengefasst aus, dass D. in der Schweiz fünf Jahre lang keine Chance gegeben worden sei, um Leistungen gemäss seinem nachweislich guten kognitiven Potential zu zeigen. Dem Kläger sei es gemäss Abklärungsbericht der KESB schon zu viel, eine einzige Stunde am Tag in D.s schulische Unterstützung zu investieren. Auch während der Covid-19-Krise habe er D. nicht zu Hause unterstützt, was dazu geführt habe, dass D. in die Notbetreuung der Schule gegangen sei, obwohl er gewusst habe, dass D. insbesondere in der ihm unbekannten Fernunterrichtssituation seine Unterstützung und Anleitung dringend benötigt hätte. Der Kläger gebe seine Verantwortung für das Kind ab. Aus den Schulprotokollen gehe hervor, dass D. in den Fächern, in denen er gut sei, weil er Wissen habe, wie beispielsweise im Fach Deutsch, sich durchaus konzentrieren könne. Wo Wissenslücken bestünden, weil der Kläger das Wissen D.s seit dem Umzug in die Schweiz nicht gefördert hätte, sei D.s Bereitschaft nicht ausgeprägt, was aber nichts mit Konzentrationsschwierigkeiten zu tun habe. Es bestehe eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls durch intellektuell-kognitive und emotionale Vernachlässigung, durch fehlende Kontinuität hinsichtlich einer stabilen Erziehung für eine ausgeglichene Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und durch fehlende Bildungsfürsorge. Ihr (der Beklagten) sei es nicht zu viel, private Zeit zu investieren, sich mit D. hinzusetzen und ihn schulisch und emotional zu unterstützen. Sie sei fähig, D. in der weiteren Entwicklung zu fördern, was sie in der Vergangenheit bewiesen habe und nachzulesen sei in Berichten von deutschen Lehrpersonen und therapeutischen Fachkräften. Sie habe D. freiwillig mit den besten Absichten und wie von ihr vorgesehen nur temporär in die Obhut des Klägers gegeben. Seitdem sei D. ihr vom Kläger kontinuierlich entfremdet, in der Schweiz zweimal zurückversetzt und leistungsmässig von einem guten Schüler auf das Niveau der Schweizer Realschule herabgestuft worden. Sie möchte D. zurückhaben, um zu gewährleisten, dass er körperlich gesund bleibe und um ihm eine Chance in diesem Leben zu geben (…).

Der Kläger wendet im Wesentlich ein, dass der Beklagten einzig das schulische Weiterkommen wichtig sei, wobei sie zu vergessen scheine, dass sich Kinder nicht nur über ihre schulischen Fähigkeiten auszeichnen. Zudem sei D. in der Schweiz zwei Klassenstufen zu hoch eingeschult worden. Erst nach zweimaligem Wiederholen sei er mit Gleichaltrigen in der Klasse gewesen. Als der Kläger gemerkt habe, dass D. in der Tagesschule M. nicht mehr gut zurechtgekommen sei, habe er gemeinsam mit allen Personen, die D. gut gekannt hätten, eine Lösung gesucht. Es habe sich um D.s Klassenlehrerin N., die Rektorin der M. Frau O., die Kinderpsychologin E., D.s Hausarzt Dr. P., D.s Kinderarzt Dr. Q. und die Familie gehandelt. Alle hätten erkannt, dass eine Schule wie das H. die notwendigen Strukturen vermitteln könne. Die Beklagte habe aber diesen Schritt verweigert mit der Begründung, es habe an der Schule H. zu viele Männer. Dem Kläger sei es stets wichtig gewesen, dass D. nicht nur auf Leistung gedrillt werde, sondern auch die Möglichkeit habe, seine Kindheit zu geniessen, er mithin nicht nur intellektuell gefördert werde, sondern auch einen Ausgleich im Sport (Fussball und neu Basketball anstelle von Fussball) und der Musik (Klavierunterricht) habe. Im Weiteren habe der Kläger sein Arbeitspensum reduziert, als D. in die Schweiz gekommen sei. Wenn D. von der Schule nach Hause komme, sei er da. Wenn er einmal nicht anwesend sei, organisiere er sich mit den Nachbarn oder seinen Töchtern. Dass sich der Kläger teilweise organisieren müsse und auf Hilfe zurückgreifen müsse, könne ihm nicht vorgehalten werden; dies müssten alle berufstätigen Eltern, wie dies im Übrigen auch die Beklagte, die mit ihrer Mutter zusammenwohne, habe tun müssen (…).

3.2 Vorliegend ist nicht ersichtlich, inwiefern D.s Wohl gefährdet wäre, wenn er unter der Obhut des Klägers bleibt.

3.2.1 D. ist seit (…) 2015 in der Schweiz und hat sich gut eingelebt. Er hat eine enge Bindung zu seinem Vater und zu seinen Stiefschwestern. Im Unterschied zum Wohnort der Beklagten hat er Freunde in der Schule, im Fussballclub und aus der Nachbarschaft (…). Das Verhältnis zwischen D. und der Beklagten hingegen ist getrübt. Die Beklagte hat den Kontakt zu D. seit Längerem abgebrochen oder unterbrochen. Das letzte Mal haben sich Mutter und Sohn an einem Tag nach den Schulsommerferien 2018 ganz kurz (physisch) gesehen und der letzte Telefonkontakt fand im Mai 2020 statt (…). Den Grund für den Kontaktabbruch bzw. -unterbruch beschreibt die Beklagte wie folgt: «Ich habe keinen Sinn darin gesehen, mit meinem Sohn während dieser Zeit zu telefonieren, wo er sowieso so stark unter dem Einfluss des Vaters steht» (…). Die Beklagte ist offenbar nicht imstande oder gewillt, die Paarebene von der Eltern-Kind-Ebene zu trennen, indem sie die – angeblich auf den Kläger zurückzuführenden – Gründe für den Kontaktunterbruch ausblenden und zum Wohl von D. dessen Telefonanrufe entgegennehmen würde. Denn selbst wenn D. beeinflusst wäre, wofür indes keine Anhaltspunkte vorliegen, wäre es wichtig, dass die Mutter den Kontakt zu D. nicht aussetzt. D. hat an der Kinderanhörung gesagt, er habe mehrmals versucht, seine Mutter anzurufen, sie habe jedoch die Anrufe nie entgegengenommen und auch nicht zurückgerufen (…). Darüber ist D. verständlicherweise enttäuscht.

3.2.2 An der Kindesanhörung äusserte D. deutlich den Willen, nicht nach Deutschland zurück zu wollen (act. 32 S. 2 Mitte). Dieser Wille ist aufgrund seines Alters von zwölfeinhalb Jahren zu berücksichtigen (Urteil des Bundesgerichts 5A_1013/2018 vom 1. Februar 2019 E. 5), umso mehr, als Kinder auch in diesem Alter durchaus eine Vorstellung davon haben, welche Konsequenzen ein Umzug in ein anderes Land hätte, und überdies D. an der Anhörung einen reflektierten, reifen und smarten Eindruck hinterliess. So gingen die von ihm spontan gemachten Ausführungen oft über die Fragestellungen hinaus und die von ihm gestellten Fragen zeugten von Besonnenheit oder Scharfsinn (vgl. etwa Fragen zur Notwendigkeit der Mathematik oder dazu, ob seine Mutter an der Einigungsverhandlung in der Schweiz gewesen sei, was einen Rückschluss darauf zugelassen hätte, ob sie ihn trotz allfälliger Anwesenheit in der Schweiz nicht besucht hätte; […]).

3.2.3 Im Übrigen haben sich auch sämtliche Fachpersonen, die regelmässig mit D. in Kontakt stehen oder gestanden haben, einerseits gegen einen Obhutswechsel zur Beklagten und andererseits für die Erziehungs- und Betreuungsfähigkeit des Klägers ausgesprochen. Die Psychologin E. hielt in ihrem auf Ersuchen der KESB erstellten Gutachten vom 12. November 2019 fest, sie erachte es als zentral, dass D. in seinem jetzigen sozialen Umfeld bleiben könne (…). Die Schulsozialarbeiterin R. erwähnte gegenüber der KESB am 22. August und 10. Dezember 2019 zwar, dass sich D. für bestimmte Situationen "ein Mami zu Hause" wünsche (…). Dass sich D. nach «einem Mami» zuhause sehnt, bedeutet jedoch nicht, dass die Obhut deswegen umzuteilen wäre. Nebst dem Austausch mit seinem Vater wünscht sich D., wie bei Kindern getrenntlebender Eltern üblich, die Nähe, sei dies nur schon via Telefon, zum nicht hauptbetreuenden Elternteil. Daraus ist jedoch kein Wunsch nach einem Obhutswechsel abzuleiten. Die damalige Klassenlehrerein von D., S., sagte in einem Gespräch gegenüber der KESB bereits am 24. Oktober 2019, dass D. sich in einer positiven Form habe integrieren können und er gut in der Schule verwurzelt sei und es mit dem Vater (dem Kläger) eine sehr gute Zusammenarbeit gebe (…). Was die schulische Entwicklung von D. anbelangt, welche – wie der Kläger richtig ausführt – nur einen Teil der ganzen Entwicklung D.s ausmacht, ist unbestritten, dass der Kläger für D. eine Nachhilfe organisiert hat. Ausserdem hat D. an der Kinderanhörung gesagt, dass er auf die Unterstützung seines Vaters zählen könne, wenn er in anderen Fächern als Mathematik Mühe oder Fragen zu den Hausaufgaben habe (…). An der Parteibefragung hat der Kläger gesagt, er schaue, dass er zuhause sei, wenn D. nach Hause komme (…). An dieser Aussage bestehen keine Zweifel, zumal der Kläger selber attestiert hat, dass dies nicht immer möglich sei (…). Weiter gab der Kläger zu Protokoll, dass er D. helfe, wenn dieser in schulischen Angelegenheiten Probleme habe. Auch hier ergänzte der Kläger: «Sofern ich das kann» (…). Der Kläger ist für D. da, aber auch nüchtern und ehrlich genug, um einzusehen, dass dies zeitlich oder aus anderen Gründen (Schwierigkeit von Kindern, die Hilfe von Eltern bei Schulangelegenheiten anzunehmen) nie hundertprozentig möglich ist. Hinzu kommt, dass aufgrund der unzähligen Vorwürfe der Beklagten an den Kläger über D.s schulische Entwicklung nicht auszuschliessen ist, dass D., falls er unter die Obhut der Beklagten gestellt würde, einem zu hohen Leistungsdruck seitens der Beklagten oder deren Mutter (Grossmutter von D.) ausgesetzt würde. Bei Lektüre der Eingaben der Beklagten entsteht in der Tat der Eindruck, dass es der Beklagten ausschliesslich um die schulische Leistung D.s geht, welche mittels individueller Förderung durch die Eltern oder gruppenpsychologischer Therapien zu optimieren sei. Der Kläger betont zu Recht, dass es im Leben eines Kindes nicht nur die Schule gibt. Dass D. beim Kläger in irgendeiner Hinsicht vernachlässigt würde, ist nicht der Fall. Schliesslich erachtet auch L. von den Unterstützenden Diensten der KESB die Beibehaltung der aktuellen Obhutssituation als angezeigt (…).

3.2.4 Der Vorwurf der Beklagten, wonach der Kläger physische Gewalt gegen D. angewandt habe, indem er D. am Ohr geschlagen und dieser geblutet habe (…), stellte sich als unbegründet heraus. Wie sich an der Parteibefragung ergab, hat D. gegenüber der Beklagten bloss gesagt, dass es zwischen ihm und dem Vater zu einem Streit über die Hausaufgaben gekommen sei. Anschliessend habe es, so die Beklagte, "wohl eine Gemengelage gegeben" (…). Der Kläger führte aus, dass es sich um eine spielerische Rauferei gehandelt habe und er plötzlich gesehen habe, dass D. blute (…). Anhaltspunkte dafür, dass es eine Gewaltanwendung im Sinne eines gezielten Schlages oder dergleichen gegeben hat, gab und gibt es keine. Dass die Beklagte diesen schweren Vorwurf dennoch erhebt, spricht nicht für sie. Die weiteren Vorwürfe der Beklagten an den Kläger (namentlich unterlassene Information, Drohung, psychische Gewalt gegen die Beklagte, Umgangsvereitelung […]) sind für die Frage der Obhut nicht relevant, da sie die Kommunikation unter den Parteien betrifft und nicht erkennbar ist, inwiefern D.s Wohl – falls die Vorwürfe zutreffen – dadurch gefährdet wird.

3.3 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass D.s Wohl nicht gefährdet ist, wenn er unter der Obhut des Klägers bleibt. Der entsprechende Antrag der Beklagten ist daher abzuweisen.

4. Sodann ist zwischen den Parteien strittig, ob den Eltern die gemeinsame elterliche Sorge entzogen, und, gegebenenfalls, welchem Elternteil die alleinige elterliche Sorge zugewiesen werden soll.

4.1 Der Kläger macht geltend, er sei voll arbeitstätig und deshalb grundsätzlich darauf angewiesen, dass D. den ganzen Tag betreut werde und, wenn möglich, die Hausaufgaben in der Schule erledigen könne. Aus diesem Grund habe er verschiedene Tagesschulen für D. im Kanton Zug geprüft. Im Jahr 2018 habe D. an der Tagesschule H. geschnuppert. Dort habe es ihm sehr gut gefallen. Die Beklagte habe jedoch ihre Zustimmung verweigert mit der Begründung, H. sei eine männerdominierte Schule und entsprechend frauenfeindlich. Die Unmöglichkeit der Zusammenarbeit mit der Beklagten und der Umstand, wie sie mit ihrem dekonstruktiven Verhalten Entscheide zum Wohle von D. verhindere, ergebe sich auch aus der Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt von D., Dr.med. Q. Mit Schreiben vom (…) 2019 habe Dr. Q. den Kläger darüber informiert, dass D. an einer einfachen Aufmerksamkeitsstörung leide, weshalb er eine Therapie mit einem zentralen Stimulans, z.B. mit Ritalin, empfehle. Dies nicht nur als Türöffner zum Ausschöpfen von D.s Potential, sondern auch um eine Negativspirale aus sinkenden schulischen Leistungen, Frustration und Schuldgefühlen zu verhindern, die sich negativ auf den zukünftigen Lebensweg von D. auswirken würden. Auf dieses Schreiben habe die Beklagte mit einem neunseitigen Brief reagiert, worin sie dem Kinderarzt vorgeworfen habe, er hätte keine ADHS-Abklärungen tätigen dürfen, er hätte keine seriösen und detaillierte Abklärungen vorgenommen, sei seiner Informationspflicht nicht nachgekommen. Die Beklagte suche nur Schuldige und sei nicht bereit, zum Wohle von D. irgendwelche Kompromisse einzugehen. Die Beklagte blockiere aus der Ferne sämtliche Entscheidungen des Klägers und von Fachpersonen, mache den Vater vor Behörden und Fachpersonen schlecht, erhebe Beschwerden, verbringe aber gleichzeitig keine Zeit mit D. und versuche nicht, konstruktiv zu einer Lösung beizutragen. Dies führe zu einer Handlungsunfähigkeit des Klägers in Bezug auf D. und somit auch zu einer Gefährdungssituation (…). Weiter macht der Kläger geltend, dass die Beklagte alles besser zu wissen scheine als Fachpersonen. Sie steuere von Deutschland aus und ohne aktiv am Leben von D. teilzunehmen in ihrem Gutdünken. Ihm bleibe letztlich nichts anderes, als sich den Vorstellungen der Beklagten zu beugen, da ansonsten keine Lösung gefunden werde. Dies nenne sich nicht Kommunikation, welche im Sinne des Kindeswohls bei einer gemeinsamen Sorge unabdingbar sei. Die Beklagte blockiere alle wichtigen Entscheidungen in Bezug auf D., so namentlich die Schulwahl, den Besuch von Therapiestunden bei E. oder die medizinischen Abklärungen bei einem Kinderarzt. Es sei zu erwarten, dass die Beklagte auch mit der Berufswahl von D. nicht einverstanden sei und verweigern werde, einen Lehrvertrag mitzuunterzeichnen (…).

Die Beklagte führt, um ihren Antrag auf Zuteilung der alleinigen Sorge zu unterlegen, die bereits in E. 3.1 aufgeführten Argumente ins Feld. Zudem macht sie geltend, der Kläger habe jedweden Anspruch auf das alleinige elterliche Sorgerecht heute und zukünftig verwirkt, indem er D. keinem Arzt vorgestellt habe, als er ihn am Ohr geschlagen und D. stark geblutet habe, dies in der Absicht, die Dokumentation seiner Affekthandlung zu vermeiden. Ausserdem habe der Kläger ihr gegenüber gesagt, andere Leute denken, sie sei psychisch krank. Diese Äusserung, welche im Beisein von D. erfolgt sei, sei psychische Gewalt. Durch dieses Verhalten lerne D., dass die Beklagte und damit auch die Frau belogen, bedroht und beleidigt werden dürfe. Mit Bezug auf die «zur Diskussion» stehende Verabreichung von Ritalin sei der Kinderarzt Dr. Q. seinen ärztlichen Pflichten nicht nachgekommen. Der Kläger versuche nunmehr, sein Nichtstun bezüglich schulischer und intellektueller Unterstützung und die dadurch längst verursachte Negativspirale des Kindes im Jahr 2019 mit Hilfe einer Tablette zu «lösen», damit der Kläger so weitermachen könne wie bisher. Indem der Kläger selber Ritalin versucht habe, offenbare dieser seine grenzenlose Naivität und Angepasstheit an eine um Selbstoptimierung bemühte Leistungsgesellschaft. Die Langzeitfolgen von Ritalin scheinen den Kläger nicht zu kümmern. ADS-Abklärungsbedarf habe in Deutschland für D. nie bestanden. Die Ritalin-Verabreichung sei versuchte Körperverletzung an einem Minderjährigen. Ferner habe es der Kläger versäumt, D. weiter gruppentherapeutisch betreuen zu lassen zur Verbesserung von D.s sozialer Interaktion, zur Konzentrationssteigerung unter Ablenkung. Sie (die Beklagte) boykottiere keine Entscheide des Klägers oder von Fachpersonen, sie weise in begründeter Form auf das Fehlverhalten dieser Personen hin. Sie habe ihren Sohn nicht neun Monate ausgetragen, im Jahre 2007 gesund zur Welt gebracht, fast 18 Monate gestillt, zum Wohle des Kindes 7,5 Jahre Teilzeit gearbeitet, auf Einkünfte und Rentenbeiträge verzichtet, D. zuhause mit guten Erfolgen schulisch unterstützt, ihn zur Verbesserung seiner Sozialkompetenz und Interaktionsfähigkeit ein mehrmonatiges therapeutisches Gruppentraining absolvieren lassen, damit der Kläger, der das Kind seit (…) 2015 in Obhut habe, es über Jahre in seinen schulischen Leistungen abstürzen lasse, um ihm dann mit dem Segen des Kinderarztes und der Psychologin als vermeintlich letzte Lösung Psychostimulanzien, die wie Kokain nachweislich abhängig machten, nur Symptom-Unterdrücker und keine Heilmittel seien, zu verabreichen und dadurch das Kind zusätzlich zu stigmatisieren und zu pathologisieren mit unabsehbaren, weil unerforschten Langzeit-Folgen für D.s physische und psychische Gesundheit (…).

4.2 Gemäss Art. 302 ZGB obliegt den sorgeberechtigten Eltern die Pflicht, das Kind im Rahmen ihrer Verhältnisse zu erziehen und seine geistigen, körperliche und sittliche Entfaltung zu einer selbstständigen Persönlichkeit zu fördern und zu schützen. Für eine behördliche Intervention in diese elterliche autonome Entscheidbefugnis muss, wie erwähnt, eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Eine solche Gefährdung setzt die Möglichkeit einer Beeinträchtigung ebenjener körperlichen, seelischen und sozialen Entfaltung des Kindes voraus. Damit die Interventionsschwelle erreicht ist, muss diese Gefahr objektiv feststellbar und ernsthaft sein. Die behördliche Reaktion darauf muss den Prinzipien der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität folgen (Affolter/Vogel, Berner Kommentar, 2016, Art. 296 ZGB N 13 ff. und Vorbem. Art. 307–327c ZGB N 259 ff. mit Hinweisen). Eine Abweichung vom Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge ist nur in Ausnahmefällen denkbar (vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 5A_186/2016 vom 2. Mai 2016, wo selbst bei einem Dauerkonflikt, unterschiedlichen Erziehungsansichten und Unfähigkeit zur Kommunikation am Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge festgehalten wurde).

4.3 Bei schwerwiegenden elterlichen Konflikten, die spezifisch auf einzelne Problemstellungen bezogen sind, ist aufgrund der Subsidiarität zuerst zu prüfen, ob weniger einschneidende Massnahmen als die Zuteilung der Alleinsorge den Konflikt genügend zu entschärfen vermögen (flankierende Kindesschutzmassnahmen; BGE 141 III 472 E. 4.7).

Eine solche mögliche Massnahme besteht darin, einem Elternteil für die umstrittene Angelegenheit oder bestimmte umstrittene Angelegenheiten die alleinige Entscheidbefugnis zu erteilen. Erfolgsversprechend ist diese Massnahme jedoch nur, wenn sich der elterliche Streit auch tatsächlich auf spezifische Probleme beschränkt. Abgesehen von diesen umstrittenen Angelegenheiten müssen die Eltern in den sonstigen Kindesbelangen grundsätzlich zu einem kooperativen Zusammenarbeiten in der Lage sein (BGE 142 III 197 E. 3.6; 141 III 472 E.4.7; ZBJV 150/2014, S. 900). Eine andere mögliche Massnahme ist die Errichtung einer Beistandschaft. In einem ersten Schritt kann eine Beistandsperson eingesetzt werden, um die Kommunikation zwischen den zerstrittenen Eltern zu verbessern. In neutraler Umgebung können so die beiden Sorgeberechtigten die für den Entscheid notwendigen Informationen besprechen und einen neuen Anlauf in Richtung eines Kompromisses starten. Falls dies wegen fehlender Kooperationsbereitschaft scheitert oder zum Scheitern verurteilt ist, kann die elterliche Sorge gemäss Art. 308 Abs. 3 ZGB hinsichtlich der übertragenen Aufgaben beschränkt werden. Die Beistandsperson wird zeitgleich mit besonderen Befugnissen ausgestattet. Ihr wird die Entscheidungskompetenz überlassen, damit sie eine dem Kindeswohl entsprechende Entscheidung fällen kann. Der Inhalt ihres Auftrages ist vom Gericht präzise festzulegen (Schwenzer/Cottier, Basler Kommentar, 2018, Art. 301 ZGB N 14; Breitschmid, Basler Kommentar, 2018, Art. 308 ZGB N 6 und 20).

Zu beachten ist, dass die flankierenden Kindesschutzmassnahmen nicht ein Mass annehmen dürfen, das den Restbestand der elterlichen Sorge zur inhaltsleeren Hülle verkommen liesse. Wären nämlich die elterlichen Restkompetenzen unbeachtlich, würden solche Kindesschutzmassnahmen auf Dauer nicht dem Kindeswohl entsprechen. In diesen Fällen wäre vielmehr ein Entzug des Sorgerechts angezeigt (Affolter/Vogel, a.a.O., Art. 298 ZGB N 17 ff.; Entscheid des Obergerichts Bern ZK 2018 211 vom 2. April 2019 E. 27.5.1).

4.4 Die Parteien sind in verschiedenen Kinderbelangen uneins. Nur in einem Belang jedoch – und zwar mit Bezug auf AD(H)S/Autismus – kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Uneinigkeit der Eltern für D.s Wohl eine ernsthafte Gefahr darstellt, wie zu zeigen ist.

4.4.1 Mit Bezug auf die Sitzungen D.s bei der Psychologin E. ist keine ernsthafte Kindswohlgefährdung vorhanden, wenn die Mutter die Zustimmung verweigert, dass D. weitere Sitzungen bei ihr besucht. D. ging zwar gerne zu E. (…). Als D. in die Schweiz gekommen ist und D. seine Mutter nicht mehr täglich gesehen hat, dürften die Gespräche mit E. für D. wohl auch besonders wertvoll gewesen sein. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, seit D. in der Schweiz ist. Er hat sich hier gut eingelebt (E. 3.3). Es spräche zwar nichts dagegen, wenn D. weiterhin zu E. ginge. Die Einwände der Beklagten gegen E. (falsche Fachrichtung, Fehlentscheidung Schulwahl, Autoritätsuntergrabung, gesetzeswidrige Datenweitergabe, unbegründete Schuldzuweisungen gegenüber der Kindsmutter, mangelnde Sorgfalt bei Angaben und Begrifflichkeiten sowie Täuschung und Befangenheit […]) sind aus Kindeswohloptik nicht nachvollziehbar. Doch es wäre, falls D. weiter zu E. ginge, zu befürchten, dass sich das Verhältnis zwischen der Beklagten und D. weiter verschlechtern würde. Wichtig für D.s Wohl ist primär, dass er wieder eine gute Bindung zu seiner Mutter herstellen kann. Dies kann jedoch nicht E. oder eine andere Psychologin, sondern primär die Beklagte bewerkstelligen, indem letztere ihr Verhalten ändert. Es liegt in erster Linie an ihr, den (Wieder-)Aufbau einer stabilen, von Zuneigung, Wertschätzung und Empathie geprägten Mutter-Kind-Beziehung zu fördern (dazu nachstehend E. 5).

4.4.2 Mit Bezug auf die Ausbildung ist festzuhalten, dass mit der Einschulung in der Oberstufe in F. die verbleibende obligatorische Schulzeit D.s vorgespurt ist (vgl. dazu auch Entscheid des Obergerichts Bern ZK 2018 211 vom 2. April 2019 E. 27.5.3). Gemäss Auskunft der damaligen Klassenlehrerin, S., gegenüber der KESB(…) ist D. in einer öffentlichen Schule «absolut tragbar» und «am richtigen Ort». Wie sich gezeigt hat, stellte die Nichtzustimmung zur Tagesschule H. – auch wenn diese Nichtzustimmung auf objektiv nicht nachvollziehbaren Gründen («männerdominierte Schule») beruhte – keine Gefährdung des Kindeswohls dar. Sodann hat D. an der Kinderanhörung geäussert, dass er gerne Koch werden möchte. Die Beklagte hat sich nicht grundsätzlich gegen D.s Berufswunsch verschlossen (…). Zwar war die Antwort der Beklagten auf die Frage des Einzelrichters an der Parteibefragung, ob die Beklagte D.s Vorhaben, Koch zu werden, unterstützen würde, ausweichend. Anstatt sich mit D. darüber zu freuen oder ihn zu ermutigen, hegte sie Bedenken an D.s Selbstkompetenz (…). Dessen ungeachtet ist eine ernsthafte Kindswohlgefährdung nicht zu erblicken, wenn den Eltern die gemeinsame Sorge über diesen Entscheid belassen wird. Hinzu kommt, dass sich der Berufswunsch Koch in den nächsten zwei bis drei Jahren auch noch ändern kann.

4.4.3 Mit Bezug auf die Erziehungsfähigkeit ist festzuhalten, dass diese bei beiden Eltern grundsätzlich gegeben ist, wie dies L., Unterstützende Dienste der KESB, dem Einzelrichter schriftlich mitgeteilt hat (…). Wie L. zu Recht ausführt, lässt sich der Begriff der Erziehungsfähigkeit nicht losgelöst vom Einzelfall definieren (vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 5A_106/2016 vom 7. Juni 2016 E. 3.3) und wird von Sorgeberechtigten nicht verlangt, dass sie alle Funktionen persönlich ausüben, sofern sie für einen angemessenen Ersatz sorgen. Die von der Beklagten erhobenen Vorwürfe, selbst wenn sie zutreffen (würden), ändern nichts daran, dass an der Erziehungsfähigkeit des Klägers keine Zweifel bestehen. Ausserdem ist unbestritten, dass der Kläger auf die Ratschläge der Fachpersonen hört, beispielsweise betreffend die schulische Unterstützung zu Hause ([…]: «Damit es eine optimale Lösung für D. gibt, habe ich nachgefragt, wie wir uns am besten verhalten sollen. Ich habe nicht geholfen, wenn mir die Schule gesagt hat, dass ich es eher sein lassen solle, da es kontraproduktiv sei»). Dass die Beklagte Fachpersonen, die ihre Meinung nicht teilen, kritisiert, ändert an der Kompetenz dieser Personen und am Umstand, dass der Kläger sich auf deren Ratschläge verlassen darf, nichts.

4.4.4 Mit Bezug auf ADS/AHDS/Autismus bei D. verhält es sich anders. Die Frage, ob die Nichtzustimmung zu einer Behandlung mit Ritalin oder ähnlichen Substanzen – mithin die Nichtbehandlung mit Medikamenten – eine ernsthafte Gefahr für D.s Wohl darstellt, ist akut. Über diese Frage müssten sich die Parteien als Inhaber der gemeinsamen elterlichen Sorge einigen. Es handelt sich dabei um eine medizinische Frage, die durch eine Fachperson – hier einer Kinderärztin oder einem Kinderarzt – beurteilt werden muss, wobei der Entscheid letztlich bei den Eltern liegt (s. auch Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LQ100090 vom 5. August 2011 E. 7.2.5). Dr.med. Q. ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und war behandelnder Kinderarzt von D. Er hat gestützt auf eine Untersuchung von D. in seinem Schreiben vom (…) 2019 an den Kläger eine Therapie mit einem zentralen Stimulans, z.B. Ritalin, nachdrücklich empfohlen. Diese Medikamente wären für D. im Moment ein Türöffner nicht nur zum Ausschöpfen seines Potentials, sondern auch zum Vermeiden einer Spirale aus sinkenden schulischen Leistungen, Frustration und Schuldgefühlen, die sich nachhaltig negativ auf seinen zukünftigen Lebensweg auswirken würde (…). Aufgrund dieser ärztlichen Diagnose – selbst wenn diese kein Gutachten im Sinne von Art. 183 ff. ZPO ist – kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Inkaufnahme derzeitiger oder künftiger Symptome des AD(H)S oder Autismus bei D., selbst wenn mögliche Nebenwirkungen einer Ritalinbehandlung berücksichtigt werden, eine ernsthafte Gefährdung für D.s Wohl darstellen. Mithin darf und kann nicht ohne Weiteres eine ernsthafte Gefährdung von D. verneint werden. Hinzu kommt, dass der Entscheid über diese Angelegenheit keine weitere Verschleppung duldet. Wie sich gezeigt hat, konnte trotz der ergriffenen Fördermassnahmen keine merkliche Verbesserung – jedenfalls nicht die von den Eltern und Fachpersonen erwartete Verbesserung der schulischen Leistungen – erzielt werden, sodass D., dessen Potential unbestrittenermassen höher eingeschätzt wird (vgl. Einschätzung der damaligen Klassenlehrerin […] und des damaligen Kinderarztes […]), zurzeit in der «Realschule» ist (…). Gegen die «Realschule» ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch steht D. unter einem Leistungsdruck, der massgeblich von der Beklagten ausgeht. So hat D. an der Kinderanhörung erzählt, dass die letzten Telefonate, die er mit seiner Mutter geführt hätte, nie spannend gewesen seien, da er von ihr über nichts anderes als die Schule und über die Beziehung zu seinem Vater ausgefragt worden sei (…). D. hat den Einzelrichter an der Anhörung auch gefragt, ob dieser Mathematik im Alltag brauche (…). Dies zeigt, dass die Schulleistungen, insbesondere in Mathematik, D. beschäftigen. Dass sich D. in einer Negativspirale befindet, attestiert auch die Beklagte ([…]: «längst verursachte Negativspirale»). Diese Gefahr der Abwärtsspirale ist somit nicht von der Hand zu weisen, und die Parteien sind nicht fähig, betreffend die medizinische Versorgung von D. im Zusammenhang mit ADHS/ADS/Autismus zu kommunizieren, zu kooperieren und Entscheidungen innert nützlicher Frist zu treffen (s. dazu auch Entscheid des Obergerichts Bern ZK 2018 211 vom 2. April 2019 E. 27.5.2)

Bei Nichteinigung der Eltern über eine medizinische Behandlung des Kindes empfiehlt sich die Einholung einer Zweitmeinung. Dazu riet vorliegend auch die KESB (…) und selbst die Beklagte billigte dies an der Einigungsverhandlung vom 12. Mai 2020 noch. Inzwischen lehnt sie einen Zweituntersuch – bei diesem geht es ausschliesslich um eine Diagnose, nicht bereits um eine konkrete Behandlung – kategorisch und ohne Angabe von Gründen ab. Da eine Einigung zwischen den Parteien über eine Zweituntersuchung und eine allfällige Therapie nicht möglich war und ist und diese Entscheide, wie erwähnt, nicht weiter verschleppt werden dürfen (vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 5A_89/2016 vom 2. Mai 2016 E. 4), ist den Parteien in dieser Angelegenheit die gemeinsame elterliche Sorge zu entziehen und eine Beistandschaft zu errichten (zu den weiteren Gründe für die Bestellung einer Beistandschaft E. 4.5). Die Aufgaben der Beistandsperson sind im Dispositiv definiert. Insbesondere ist die Beistandsperson berechtigt und verpflichtet, die erforderlichen Entscheide selbst zu treffen, wenn sich die Eltern nicht einigen. Der Zweituntersuch ist durchzuführen durch Dr.med. K. Der Kläger schlägt diesen Arzt vor (…) und die Beklagte hat dessen fachliche Eignung selber hervorgehoben (…). Dr. med. K. hat D. zu untersuchen (Diagnose) und – falls er eine Therapie für erforderlich hält – eine Therapieempfehlung abzugeben und – auf Anordnung der Beistandsperson, falls sich die Eltern nicht einigen können – die Therapie durchzuführen. Dabei ist auch die Verabreichung von Methylphenidat (MPH) oder ähnlichen Substanzen, wie sie im Medikament Ritalin enthalten sind, nicht ausgeschlossen ist, wobei dies ultima ratio bildet. Gemäss den Empfehlungen des Schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic soll die medikamentöse Behandlung von ADHS/ADS nur von Ärztinnen und Ärzten begonnen und überwacht werden, welche auf Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen beziehungsweise Erwachsenen spezialisiert sind (abrufbar unter: www.swissmedic.ch/swissmedic/de/home/humanarzneimittel/marktueberwachung/health-professional-communication--hpc-/archiv/swissmedic-schliesst-ueberpruefungsverfahren-der-praeparate-mit-.html), was auf Dr.med. K. zutrifft.

4.5 Die Kommunikation unter den Parteien über das Besuchsrecht und weitere Kinderbelange (Gesundheit, Schule etc.) von D. ist praktisch zum Erliegen gekommen. Auch deshalb erfordern es die Verhältnisse, eine Beistandschaft zu errichten (Art. 308 ZGB). Die weiteren, d.h. über ADS/AHDS/Autismus hinausgehenden Aufgaben der Beistandsperson sind ebenfalls im Dispositiv aufgeführt.

4.6 Für einen gänzlichen Entzug der elterlichen Sorge sind die Voraussetzungen zurzeit nicht erfüllt. Ein gänzlicher Entzug der elterlichen Sorge dürfte vorliegend vielmehr zu einer Eskalation der Situation führen, was aus Kindeswohlüberlegungen und psychologischer Sicht ein schlechter juristischer Entscheid wäre (Schreiner, in: Schwenzer/Fankhauser [Hrsg.], FamKomm Scheidung, 3. A. 2017, N 218 zu Anh. Psych). Zwar wäre die Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge an den Kläger eine pragmatische Lösung, damit – gestützt auf die vom Kläger eingeholten und einzuholenden Ratschläge von Fachpersonen (Psychologen, Ärzte, Pädagogen) – innert nützlicher Frist Entscheide in wichtigen Kindesangelegenheiten getroffen werden könnten, ohne dass die Beklagte die Vorhaben des Klägers von Deutschland aus unterbinden könnte. Immerhin ist aber festzuhalten, dass seitens der Beklagten noch nicht von einer kategorischen Zustimmungsverweigerung gesprochen werden kann. So hat die Beklagte beispielswiese nicht gegen die D.s Pläne, ins Basketball zu gehen (…), opponiert. Auch hat sie an der Parteibefragung eine schulpsychologische Abklärung nicht abgelehnt (…). Sollte sich in Zukunft jedoch zeigen, dass die Beklagte in anderen wichtigen Kindesangelegenheiten, die gemeinsame Entscheidungen erfordern (namentlich Zähne, Impfungen, Berufswahl, Lehrstelle; […]), jegliche Kompromissbereitschaft missen lässt, wäre von der KESB ein weiterer partieller oder gänzlicher Entzug der elterlichen Sorge zu prüfen.

4.7 Da, wie erwähnt, kein Grund für einen Entzug der gemeinsamen elterlichen Sorge – ausser im Bereich ADS/ADHS/Autismus – besteht, stellt sich auch die Frage nicht, welchem Elternteil die (alleinige) elterliche Sorge zuzuteilen ist.

5. Der Kläger beantragt eventualiter die Festlegung eines Besuchsrechts (Ziff. 7 seines Rechtsbegehrens), demgemäss die Beklagte D. während drei Ferienwochen pro Jahr betreut und ihn einmal pro Woche telefonisch, per Skype, per Zoom oder auf einem anderen technisch möglichen, elektronischen Weg kontaktiert. Die Beklagte hat dazu keinen Antrag gestellt, an der Parteibefragung allerdings geäussert, dass dies wünschenswärt wäre (…).

5.1 Hat das Gericht über die Änderung der elterlichen Sorge, der Obhut oder des Unterhaltsbeitrages für das minderjährige Kind zu befinden, so regelt es nötigenfalls auch den persönlichen Verkehr oder die Betreuungsanteile neu (Art. 134 Abs. 4 ZGB). Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das minderjährige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr (Art. 273 Abs. 1 ZGB). Der Vater oder die Mutter können verlangen, dass ihr Anspruch auf persönlichen Verkehr geregelt wird (Art. 273 Abs. 3 ZGB). Zum persönlichen Verkehr gehört die gesamte verbale und nonverbale Kommunikation. Im Vordergrund steht selbstverständlich das tatsächliche Zusammensein zwischen Eltern und Kindern, jedoch – gerade bei weit entfernten Wohnorten – auch Kontakt via Telefon, Brief oder Skype, sowie ein solcher über E-Mail und SMS (Schwenzer/Cottier, a.a.O., Art. 273 ZGB N 1 mit Hinweisen).

5.2 In der Vereinbarung der Parteien über die Trennungs- und Scheidungsfolgen, verhandelt am (…), vor der Notarin C. (…), genehmigt vom Amtsgericht G. mit Beschluss vom (…) 2013 (…), haben die Parteien festgehalten, dass aufgrund der Entfernung der Wohnorte der Umgang nach «Möglichkeit aller Beteiligten zu planen und umzusetzen» sei, der Kläger einen «flexiblen Umgang» mit D. haben soll und der Umgang zum gemeinsamen Urlaub auch zwei Wochen am Stück erfolgen könne (…). In der Vereinbarung vom (…) 2015 haben die Parteien festgelegt, dass D. unter die Obhut des Klägers gestellt wird; für die Regelung des Umgangs wurde auf die Trennungs- und Scheidungsfolgenvereinbarung vom (…) verwiesen (…). Eine konkrete Regelung besteht daher nicht, und in der Ausübung des persönlichen Verkehrs ist es, wie erwähnt, zu Differenzen gekommen. L., Unterstützende Dienste der KESB, hat in ihrer schriftlichen Auskunft vom 12. Juni 2020 darauf hingewiesen, dass ein kontinuierlicher Kontakt von D. zur Mutter ausserhalb der «belasteten Themen» ermöglicht werden müsse. Dies würde bedingen, dass die Eltern konsequent Daten festlegen würden, an denen es zu Kontakten von D. mit der Mutter kommen könne, dass mithin eine klare Besuchs- und Kontaktregelung bestünde. In diesen Zeiten sollte D. die Gelegenheit haben, sich in der Welt seiner Mutter und seines früheren Aufenthaltsortes zu bewegen und positive Erinnerungen zu festigen. Die Themen des Alltags in der Schweiz sollten dann in dieser Zeit aussen vor bleiben (…). Dem ist nichts beizufügen.

5.3 Insofern rechtfertigt es sich aus Kindeswohloptik, das «Umgangsrecht» neu bzw. konkret zu regeln. In Zukunft soll ein wöchentlicher Anruf zwischen Mutter und Sohn geführt werden, und die Beklagte als nicht obhutsberechtigtes Elternteil ist zu verpflichten und berechtigen, D. für drei Wochen pro Jahr während der Schulferien zu betreuen. Für den Fall, dass sich die Eltern nicht einigen können, empfiehlt sich der praxisgemässe Turnus zwischen geraden und ungeraden Jahren. Das Ferienrecht ist indes behutsam aufzubauen. Angesichts des langen Kontaktunterbruchs und der Sorgen, die sich die Beklagte des Coronavirus' wegen macht (…), soll das physische Ferienbesuchsrecht erst nächstes Jahr beginnen. Wie erwähnt, unterstützt die Beistandsperson die Eltern auch in der Ausübung des Besuchsrechts.

6. (…)

7. Abschliessend sind die Prozesskosten zu verteilen. Die Prozesskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Hat keine Partei vollständig obsiegt, so werden die Prozesskosten nach dem Ausgang des Verfahrens verteilt (Art. 106 Abs. 1 und 2 ZPO). In familienrechtlichen Verfahren kann das Gericht von den Verteilungsgrundsätzen abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen (Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO).

Keine der Parteien obsiegt bzw. unterliegt im vorliegenden Prozess vollumfänglich. Beide Parteien unterliegen mit ihrem Antrag auf Alleinzuteilung der elterlichen Sorge. Der Kläger unterliegt sodann mit seinen Eventualanträgen betreffend E. und Ausbildung, während die Beklagte mit ihrem Antrag auf Umteilung der Obhut unterliegt. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, die Gerichtskosten den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen und die Parteikosten wettzuschlagen. Bei den Gerichtskosten ist indes zu berücksichtigen, dass von der Eingabe der Beklagten vom 16. April 2020 seitens des Gerichts Kopien haben angefertigt werden müssen, nachdem die Beklagte kein Doppel eingereicht hat, weshalb die Kopierkosten von CHF 203.00 (…) – unabhängig vom Ausgang des Verfahrens – der Beklagten aufzuerlegen sind.

Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zug EO 2020 2 vom 22. September 2020

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