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Art. 223 Abs. 2 und Art. 229 ZPO

Regeste:

Art. 223 Abs. 2 und Art. 229 ZPO – Wird im Verfahren mit Dispositionsmaxime nach Ausbleiben der Klageantwort eine Hauptverhandlung durchgeführt, ist die Position der beklagten Partei durch Art. 229 Abs. 1 ZPO beschränkt. Unbeschränkt äussern kann sie sich nur noch zu den neuen Tatsachenbehauptungen und Beweismitteln der klagenden Partei.

Aus den Erwägungen:

3. Der Beklagte reichte (auch binnen der ihm mit Verfügung vom 4. Mai 2011 angesetzten Nachfrist) keine Klageantwort ein. Da die Angelegenheit zu jenem Zeitpunkt noch nicht spruchreif war, wurden die Parteien auf den 1. Dezember 2011 zur Hauptverhandlung vorgeladen (Art. 223 Abs. 2 ZPO). Der Beklagte nahm an der Hauptverhandlung zur ganzen Klage Stellung und nicht nur zu jenen Vorbringen, welche die Klägerinnen neu vortragen liessen.

3.1 Nach Art. 229 Abs. 1 ZPO werden in der Hauptverhandlung neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie a) ohne Verzug vorgebracht werden und erst nach Abschluss des Schriftenwechsels oder nach der letzten Instruktionsverhandlung entstanden oder gefunden worden sind (echte Noven) oder b) bereits vor Abschluss des Schriftenwechsels oder vor der letzten Instruktionsverhandlung vorhanden waren, aber trotz zumutbarer Sorgfalt nicht vorher vorgebracht werden konnten (unechte Noven). Hat weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden, so können neue Tatsachen und Beweismittel zu Beginn der Hauptverhandlung unbeschränkt vorgebracht werden (Abs. 2). Hat das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären, so berücksichtigt es neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung (Abs. 3). Das Gesetz enthält keine ausdrückliche Regelung darüber, ob in Verfahren mit Dispositionsmaxime (Art. 58 ZPO) nach Ausbleiben der Klageantwort an der Hauptverhandlung unbeschränkt neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden können (vgl. Art. 229 Abs. 2 ZPO) oder ob die Position der beklagten Partei durch Art. 229 Abs. 1 ZPO beschränkt wird (Art. 223 ZPO). Die Lehre ist geteilter Meinung. Einerseits wird ausgeführt, dass der Beklagte trotz versäumter Klageantwort immer noch die klägerischen Ausführungen bestreiten und Einreden erheben könne, zumal in Art. 229 Abs. 2 ZPO der Fall der Säumnis nicht erwähnt werde (Meier, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 2010, S. 411; Pahud, Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Zürich/St. Gallen 2011, N 7 zu Art. 223 ZPO). Andererseits wird dafür gehalten, dass die Verteidigung der beklagten Partei durch Art. 229 Abs. 1 ZPO beschränkt werde. Dies ergebe sich als unmittelbare Folge der Antwortsäumnis und entspreche dem Zweck von Art. 223 ZPO (Frei/Willisegger, Basler Kommentar, Basel 2010, N 14 zu Art. 223 ZPO; Naegeli, Schweizerische Zivilprozessordnung Kurzkommentar, Basel 2010, N 12 zu Art. 223 ZPO).

3.2 Das Kantonsgericht schliesst sich aus den folgenden Gründen der Auffassung von Frei/Willisegger an: Auszugehen ist zunächst vom in der ZPO verankerten Grundsatz, dass sich jede Partei im Vorbereitungsstadium des Prozesses zweimal unbeschränkt äussern kann (Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung Kurzkommentar, Zürich/St.Gallen 2010, N 8 zu Art. 229 ZPO). Zwar lassen der Wortlaut und die systematische Stellung von Art. 229 Abs. 2 ZPO darauf schliessen, dass an der Hauptverhandlung in jedem Fall zu Beginn neue Tatsachen und Beweismittel vorgetragen werden können, wenn weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden haben. Die Säumnisregel von Art. 223 ZPO steht dazu aber in einem Spannungsverhältnis, wenn die Angelegenheit nach versäumter Klageantwort nicht spruchreif ist und die Parteien zur Hauptverhandlung vorgeladen werden. Sinn und Zweck von Art. 223 ZPO besteht nun darin, dass bei Spruchreife ohne Weiteres ein Säumnisentscheid ergeht, da die Vorbringen der klagenden Partei unbestritten gebliebenen sind. Zur Hauptverhandlung wird nur vorgeladen, wenn die Angelegenheit noch nicht spruchreif ist (Art. 223 Abs. 2 ZPO). In diesem Fall sind die Vorbringen der klagenden Partei unklar, widersprüchlich oder offensichtlich unvollständig oder aber es bestehen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit einer unbestritten gebliebenen Tatsachenbehauptung, so dass gemäss Art. 153 Abs. 2 ZPO darüber von Amtes wegen Beweis abgenommen werden kann (Pahud, a.a.O., N 6 zu Art. 223 ZPO). Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass die klagende Partei an der Hauptverhandlung weitere Ausführungen in tatsächlicher Hinsicht vornimmt oder gegebenenfalls neue Beweismittel bezeichnet. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs muss sich die beklagte Partei äussern können, wobei sich der Gehörsanspruch nur auf die neuen Vorbringen und Beweismittel beziehen kann. Die bereits in der Klageschrift vorgebrachten Tatsachenbehauptungen und Beweismittel bleiben daher weiterhin unbestritten. Diese Auslegung wird auch durch die Entstehungsgeschichte von Art. 229 ZPO bestätigt. Dem Gesetzgeber ging es nicht darum, dass die beklagte, säumige Partei gestützt auf Art. 229 Abs. 2 ZPO prozessuale Versäumnisse nachholen kann. Streitpunkt im Gesetzgebungsprozess war vielmehr der Zeitpunkt der Einsetzung der Eventualmaxime (Konzentrationsgrundsatz) beim ordentlichen Gang des Verfahrens, wenn sich beide Parteien vernehmen lassen, Tatsachenbehauptungen vorbringen und den Standpunkt der Gegenseite bestreiten (vgl. zum Ganzen: Leuenberger, Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], a.a.O., N 1 ff. zu Art. 229 ZPO mit Hinweisen; Pahud, a.a.O., N 1 f. zu Art. 229 ZPO). Eine Begünstigung der gemäss Art. 223 ZPO säumig gebliebenen beklagten Partei war demgegenüber nicht gewollt.

3.3 Demzufolge ist der Beklagte mit Tatsachenbehauptungen und Beweismitteln ausgeschlossen, soweit er sich nicht auf Art. 229 Abs. 1 ZPO berufen kann. (...)

Entscheid des Kantonsgerichts vom 2. Februar 2012 (A3 2011 2)

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