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Art. 147 ZPO, Art. 219 ZPO, Art. 223 ZPO

Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO

Regeste:

Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO – Die Beweisabnahme auf Antrag der Parteien schon vor Rechtshängigkeit eines Prozesses kann lediglich unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Nach Auffassung des Gesetzgebers soll die vorsorgliche Beweisführung unter anderem der Abklärung der Beweis- und Prozessaussichten dienen. Erforderliche Voraussetzung ist das Glaubhaftmachen eines schutzwürdigen Interesses (Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO). Das Interesse an der Beweisabnahme hängt dabei vom Interesse am damit zu beweisenden Anspruch ab. So ist die vorsorgliche Beweisführung gerade in denjenigen Fällen von grosser Bedeutung, in denen die Prozessaussichten bis anhin nur durch private Gutachten abgeklärt werden konnten. Da einem privaten Gutachten in einem allfälligen Prozess keine oder nur eine schwache Beweiskraft zukommt, ist ein solches zur Beurteilung der Prozessaussichten unter Umständen wenig geeignet. Wird das Gutachten hingegen im Verfahren nach Art. 158 ZPO eingeholt, liegt ein gerichtliches Gutachten vor, das für eine Klage, die Abwehr einer Klage oder für Vergleichsgespräche eine solidere Grundlage schafft als ein privates Gutachten. Auch die Kosten für eine solche Klärung der Prozessaussichten sind erheblich kleiner als der bisherige Ausweg über die Teilklage Es genügt, dass der Gesuchsteller einen praktischen Nutzen für seine rechtliche oder tatsächliche Situation glaubhaft macht. Ein solcher Nutzen liegt beispielsweise dann vor, wenn die vorsorgliche Beweisführung eine Unsicherheit beseitigt und eine Grundlage für weitere Dispositionen schafft.

Aus dem Sachverhalt:

1. A. B. (nachfolgend: Gesuchsteller) wurde am 24. August 2000 Opfer eines Auffahrunfalls, als er auf der aus der Ortschaft X. herausführenden Hauptstrasse auf der Höhe Y. vor einer temporären Verkehrsampel sein Fahrzeug abgebremst hatte. Nach seiner Darstellung hätten sein Fahrzeug wie auch dasjenige des Unfallverursachers einen Totalschaden erlitten. Er leide seither unter anderem an neuropsychologischen Funktionsstörungen und sei daher nachhaltig geschädigt.

2. Um seine Prozesschancen gegen die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung des Unfallverursachers, die U. AG (nachfolgend: Gesuchsgegnerin), abschätzen zu können, beantragte der Gesuchsteller mit Eingabe vom 29. August 2011 beim Kantonsgericht Zug u.a. die vorsorgliche Abnahme eines gerichtlichen Gutachtens über die medizinischen Dauerfolgen seines erlittenen Unfalls. Mit Entscheid vom 26. Juni 2012 entsprach die Vorinstanz diesem Gesuch und beauftragte die unabhängige medizinische Gutachtenstelle (UMEG) in Zürich, bis zum 31. Oktober 2012 ein entsprechendes Gutachten zu erstellen (Dispositiv-Ziff. 1). Die Parteien wurden verpflichtet, der Gutachterin sämtliche Auskünfte zu erteilen und Unterlagen herauszugeben, soweit diese für die Erstellung des Gutachtens notwendig sind (Dispositiv-Ziff. 2). Im Weiteren wurde die UMEG verpflichtet, den Parteien bzw. deren Rechtsvertreter zu gegebener Zeit bekanntzugeben, welche Teilgutachter das Gutachten erstellen werden, damit die Parteien rechtzeitig an allfälliges Ausstandsgesuch stellen können (Dispositiv-Ziff. 3).

3. Gegen diesen Entscheid reichte die Gesuchsgegnerin mit Eingabe vom 7. Juli 2012 fristgerecht Berufung beim Obergericht des Kantons Zug ein mit den Hauptanträgen, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben sowie das Gesuch um vorsorgliche Beweisführung abzuweisen. Gleichzeitig ersuchte sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass an der vorsorglichen Beweisführung kein schutzwürdiges Interesse im Sinne von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO bestehe.

(...)

6. Am 3. August 2012 reichte der Gesuchsteller unaufgefordert eine korrigierte Berufungsantwort ein mit dem Hinweis, dass sich in derjenigen vom 18. Juli 2012 einige Rechtschreibefehler eingeschlichen hätten. Mit Schreiben vom 16. August 2012 verlangte sodann die Gesuchstellerin, die bereinigte Version der Berufungsantwort aus dem Recht zu weisen, woraufhin der Gesuchsteller mit Schreiben vom 29. August 2012 versicherte, dass er am Inhalt der Berufungsschrift nichts geändert habe.

Aus den Erwägungen:

1. Vorab ist zu bemerken, dass es einer Partei unbenommen sein muss, das Gericht auf grammatikalische, orthografische oder sinnstörende Fehler in ihrer Rechtsschrift, welche sie nachträglich feststellt, hinzuweisen und entsprechend zu korrigieren. Solange der Inhalt einer - fristgebundenen - Rechtsschrift weder verändert noch ergänzt wird, erscheint das grundsätzlich unproblematisch und damit zulässig. Es geht aber selbstverständlich nicht an - wie das der Gesuchsteller hier tut -, eine umfangreiche Rechtsschrift in einer neuen, korrigierten Fassung einzureichen, ohne die vorgenommenen Korrekturen im Einzelnen zu bezeichnen bzw. zu markieren und dem Gericht sowie der Gegenpartei damit zuzumuten, die Neufassung mit der ursprünglichen zu vergleichen und selbst zu prüfen, welche und ob einzig zulässige Korrekturen vorgenommen wurden. Die korrigierte Fassung der Berufungsantwort vom 18. Juli 2012 ist daher unbekümmert um den an sich löblichen Beweggrund des Gesuchstellers aus dem Recht zu weisen bzw. unbeachtlich, was dem Gesuchsteller indes nicht schadet.

2. Nach Art. 158 Abs. 2 ZPO sind auf die vorsorgliche Beweisführung die Bestimmungen über die vorsorglichen Massnahmen anwendbar. Das bedeutet, dass entsprechende Entscheide wie Entscheide über vorsorgliche Massnahmen angefochten werden können. Gegen Entscheide über die vorsorgliche Beweisführung ist die Berufung zulässig, sofern in vermögensrechtlichen Streitigkeiten der Streitwert von mindestens CHF 10'000.-- erreicht wird (Art. 308 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 ZPO). Aufgrund des generellen Verweises in Art. 158 Abs. 2 ZPO ist auch für die Bestimmung des Streitwerts an das Massnahmerecht anzuknüpfen. Der Streitwert für die vorsorgliche Beweisführung richtet sich daher nach dem Streitwertinteresse eines allfälligen Hauptprozesses (Schweizer, Vorsorgliche Beweisabnahme nach schweizerischer Zivilprozessordnung und Patentgesetz, ZZZ 2010, S. 24). Streitwertbestimmend ist mithin die avisierte Schadenersatzforderung des Gesuchstellers gegenüber der Gesuchsgegnerin, welche CHF 10'000.-- unbestrittenermassen übersteigt.

2.1 Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren vor Vorinstanz allerdings nicht ab. Erst mit der Abnahme des Beweismittels wird das Verfahren abgeschlossen. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich beim angefochtenen Entscheid um einen Zwischenentscheid oder eine prozessleitende Verfügung handelt (vgl. Schweizer, a.a.O., S. 28). Dies ist insofern relevant, als prozessleitende Verfügungen nur mit Beschwerde angefochten werden können.

2.2 Das Gericht kann einen Zwischenentscheid treffen, wenn durch abweichende oberinstanz-liche Beurteilung sofort ein Endentscheid herbeigeführt und so ein bedeutender Zeit- oder Kostenaufwand erspart werden kann (Art. 237 Abs. 1 ZPO). Zwischenentscheide sind selbständig anzufechten; eine spätere Anfechtung zusammen mit dem Endentscheid ist ausgeschlossen (Art. 237 Abs. 2 ZPO). Klar ist, dass die obere kantonale Instanz durch einen (das Gesuch um vorsorgliche Beweisabnahme ablehnenden) Entscheid sofort einen Endentscheid herbeiführen kann. Die Frage, ob ein bedeutender Zeit- oder Kostenaufwand durch den Zwischenentscheid erspart bleibt, ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich durch einen anderslautenden Entscheid der Oberinstanz die Abklärung vieler offener Rechtsfragen oder eine umfangreiche Erhebung von Beweismitteln erübrigt (BGE 133 III 629, 633 E. 2.4.2). Dass vorliegend ein erheblicher Zeit- und Kostenaufwand vermieden werden kann, ist nicht zweifelhaft. Die Erstellung des medizinischen Gutachtens erfordert umfangreiche Untersuchungen und wird mit erheblichen Kosten von rund CHF 13'000.-- veranschlagt. Es kann deshalb offen bleiben, ob bei Abnahme eines einzelnen Beweismittels in der Regel nicht von einem bedeutenden Zeit- oder Kostenaufwand gesprochen werden könne und deshalb mit Schweizer (a.a.O., S. 28) von einer prozessleitenden Verfügung auszugehen wäre, gegen die lediglich die Beschwerde zur Verfügung stünde. Zu berücksichtigen wäre jedenfalls, dass es wenig Sinn machen würde, die Berufung erst zuzulassen, nachdem das entsprechende Beweismittel vorsorglich abgenommen worden ist.

2.3 Beim hier angefochtenen Entscheid handelt es sich mithin um einen Zwischenentscheid im Rahmen der vorsorglichen Beweisführung gegen den die Berufung zulässig ist. Diese ist denn auch form- und fristgerecht eingereicht worden (Art. 314 Abs. 1 i.V.m. 311 ZPO).

3.1 Der Gesuchsteller macht in seiner Berufungsantwort in formeller Hinsicht geltend, die Gesuchsgegnerin werde in ihrer Rechtsposition durch den vorinstanzlichen Entscheid nicht beeinträchtigt, weshalb auf das angehobene Rechtsmittel nicht einzutreten sei. Da Letztere die Folgen der Beweislosigkeit nicht zu tragen habe, fehle ihr der Rechtsanspruch, den es durchzusetzen gälte, weshalb keine materielle Beschwer vorliege. Es gehe der Gesuchsgegnerin lediglich darum, den Gesuchsteller mit zwei sich widersprechenden Gutachten zurückzulassen, um ihn entweder zu einem Vergleich zu zwingen oder ihm einen Prozess aufzunötigen, für welchen er den Kostenvorschuss kaum bezahlen könne. Aus all diesen Gründen habe die Gesuchsgegnerin kein schutzwürdiges Interesse an der Berufung.

3.2 Dem kann nicht gefolgt werden. Die Partei, die ein Rechtsmittel einlegt, hat dann ein Rechtsschutzbedürfnis, dass die Entscheidung zu ihren Gunsten abgeändert wird, wenn sie durch diese benachteiligt ist. Jeder Anspruch auf staatlichen Rechtsschutz setzt mithin eine Beschwer voraus. Es wird zwischen formeller und materieller Beschwer unterschieden, die in der Regel beide vorliegen müssen. Die formelle Beschwer ist gegeben, wenn der Partei nicht zugesprochen worden ist, was sie beantragt hat, die materielle Beschwer, wenn der angefochtene Entscheid für die Partei in seiner rechtlichen Wirkung nachteilig ist (BGE 120 II 5 E. 2a). Da die Gesuchsgegnerin im vorinstanzlichen Verfahren Partei war und zudem ihrem Antrag auf Abweisung des Gesuchs um vorsorgliche Beweiserhebung durch die Vorinstanz nicht entsprochen wurde, liegt die formelle Beschwer zweifelsohne vor. Der Gesuchsgegnerin kann jedoch auch die materielle Beschwer nicht abgesprochen werden, schliesslich könnte das Beweisergebnis des zu erstellenden Gutachtens in einem allfälligen Prozess gegen sie verwendet werden. Die Gesuchsgegnerin hat daher ein berechtigtes Interesse an der Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheids (Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO).

4. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Berufung einzutreten.

5. Gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO nimmt das Gericht im Rahmen einer vorsorglichen Beweisführung jederzeit Beweis ab, wenn die gesuchstellende Partei eine Gefährdung der Beweismittel oder ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft macht. Nach der bundesrätlichen Botschaft wird mit dem Begriff des schutzwürdigen Interesses in Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO auf die Möglichkeit Bezug genommen, eine vorsorgliche Beweisführung auch zur Abklärung der Beweis- und Prozessaussichten durchzuführen. Diese Möglichkeit soll dazu beitragen, aussichtslose Prozesse zu vermeiden (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 [nachfolgend kurz: Botschaft ZPO], 7315). Daneben wird aber auch eine Vereinfachungswirkung für den Hauptprozess postuliert (Staehlin/Staehelin/Groli-mund, Zivilprozessrecht, Nach dem Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung und weiteren Erlassen - unter Einbezug des internationalen Rechts, Zürich 2008, § 18 N 140). Mit der blossen Behauptung eines Bedürfnisses, Beweis- und Prozessaussichten abzuklären, ist ein schutzwürdiges Interesse an einer vorsorglichen Beweisführung jedoch noch nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Eine vorsorgliche Beweisführung kann nur mit Blick auf einen konkreten materiellrechtlichen Anspruch verlangt werden, hängt doch das Interesse an einer Beweisabnahme vom Interesse an der Durchsetzung eines damit zu beweisenden Anspruchs ab. Der Gesuchsteller, der sich auf Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO stützt, muss daher glaubhaft machen, dass ein Sachverhalt vorliegt, gestützt auf den ihm das materielle Recht einen Anspruch gegen die Gesuchsgegnerin gewährt, und zu dessen Beweis das abzunehmende Beweismittel dienen kann (BGE 138 III 76 E. 2.4.2, S. 81 f. mit Hinweis auf Schweizer, a.a.O., S. 7; Meier, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 311; Schmid, in: Oberhammer [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2010, Art. 158 N 4; Zürcher, in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, Zürich/St. Gallen 2011, Art. 158 N 15; Killias/Kramer/Rohner, Gewährt Art. 158 ZPO eine «pre-trial discovery» nach US-amerikanischem Recht?, in: Lorandi/ Staehelin [Hrsg.], Innovatives Recht, Festschrift für Ivo Schwander, 2011, S. 941; in diesem Sinne auch Francesco Trezzini, in: Commentario al Codice di diritto processuale civile svizzero [CPC], 2011, S. 760; a.M. aber wohl Fellmann, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leu-enberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Zürich/Basel/ Genf 2010, Art. 158 N 23, der auch im Anwendungsbereich von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO keine Glaubhaftmachung eines Hauptanspruches zu verlangen scheint). Lediglich für Tatsachen, die mit dem vorsorglich abzunehmenden Beweismittel bewiesen werden sollen, kann keine eigentliche Glaubhaftmachung verlangt werden, denn sonst würde der Zweck von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO, die vorprozessuale Abklärung von Beweisaussichten zu ermöglichen, vereitelt. Stellt das abzunehmende Beweismittel das einzige dar, mit dem die Gesuchstellerin ihren Anspruch beweisen kann, muss es genügen, dass sie das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen lediglich substanziiert behauptet (BGE 138 III 76 E. 2.4.2, S. 81 f. mit Hinweis auf Schweizer, a.a.O., S. 7 f.). Einem Gesuch um vorsorgliche Beweisabnahme ist in der Regel stattzugeben, es sei denn, es liege gemäss Art. 2 Abs. 2 ZGB ein offenbarer Rechtsmissbrauch vor, was in Anbetracht des aus Art. 8 ZGB abgeleiteten Grundsatzes des Rechts auf Beweisführung (BGE 126 III 315 E. 4a) und der alleinigen Kostentragungspflicht des Gesuchstellers (vgl. Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO) mit grosser Zurückhaltung zu prüfen ist und in casu höchstens unter dem Titel unnütze Rechtsausübung in Frage kommen könnte (Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen BS.2012.5 vom 5. April 2012 E. 2b).

5.1 Die Vorinstanz erachtet das schutzwürdige Interesse als gegeben. Sie erwägt, es sei aufgrund des erfolgten Auffahrunfalls nicht auszuschliessen, dass der Gesuchsteller gegenüber der Gesuchsgegnerin Schadenersatzansprüche geltend machen werde. Es sei daher naheliegend, vorab ein gerichtliches Gutachten erstellen zu lassen, damit der Gesuchsteller seine Prozesschancen beurteilen könne. Daran ändere nichts, dass bereits medizinische Gutachten erstellt worden seien, denn für die Beantwortung von medizinischen Fragen im Zivilprozess sei in der Regel ein gerichtliches Gutachten erforderlich. Dem Gesuchsteller sei es somit gelungen, bezüglich der Erstellung eines medizinischen Gutachtens ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft zu machen.

5.2 Die Gesuchsgegnerin rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht von einem schutzwürdigen Interesse ausgegangen. Obwohl an das Bestehen eines schutzwürdigen Interesses keine hohen Anforderungen zu stellen seien, bestehe kein uneingeschränkter Anspruch auf vorsorgliche Beweisführung zur Abklärung von Beweis- und Prozessaussichten. Ein schutzwürdiges Interesse sei einzig gegeben, wenn die vorsorgliche Beweisabnahme zur Abschätzung der Prozesschancen der anvisierten Klage geeignet und vor allem notwendig sei. Kein genügendes Interesse an der vorsorglichen Massnahme bestehe, wenn die Klageerhebung aufgrund der Sachlage möglich und zumutbar sei (unter Hinweis auf Zürcher, a.a.O., Art. 158 N 12 sowie Urteil des Obergerichts Zürich LF110116 vom 20. Dezember 2011, E. 2.5). In casu sei für die Beurteilung der Prozesschancen ein weiteres Gutachten nicht notwendig, da der Gesuchsteller seine Prozesschancen und Risiken anhand der umfangreichen medizinischen Dokumentation, welche auch zwei polydisziplinäre Gutachten umfasse, selber einschätzen könne. Der von einem fachkundigen Rechtsanwalt vertretene Gesuchsteller könne gestützt auf die bisherige Aktenlage auf jeden Fall entscheiden, ob er einen Haftpflichtprozess als aussichtsreich erachte. Zwar bestünden hinsichtlich der Schlussfolgerungen der beiden Gutachten einige Differenzen, die aber auch durch ein weiteres Gutachten nicht beseitigt werden könnten. Im Übrigen entspreche die Einschätzung der Vorinstanz ohnehin einer falschen Rechtsanwendung, weil sich im Verfahren nach Art. 158 ZPO das schutzwürdige Interesse auf die Abnahme des Beweismittels und nicht auf den Hauptanspruch beziehen müsse.

5.3 Der Gesuchsteller hält dem im Wesentlichen entgegen, dass es einem Laien der Medizin, zu denen nun einmal auch Rechtsanwälte gehörten, nicht möglich sei, herauszufinden, welches der beiden sich widersprechenden polydisziplinäre Gutachten inhaltlich kohärent und beweistragend sei. Diese Unsicherheit vermöge nur ein weiteres Gutachten zu beseitigen. Sinn und Zweck der vorsorglichen Beweisführung sei es ja gerade, in einer Sachlage, wo verschiedene medizinische und divergierende Standpunkte vertreten würden, Klarheit zu schaffen. Um mithin seine Prozesschancen besser abschätzen zu können, habe der Gesuchsteller Anspruch auf ein vorprozessuales gerichtliches Gutachten. Dies gelte umso mehr, als ihm gestützt auf Art. 6 EMRK und 29 Abs. 2 BV ein Rechtsanspruch auf vorsorgliche Beweisführung zustehe.

5.4 Die angerufenen Art. 6 EMRK und 29 Abs. 2 BV verleihen einer Partei das Recht auf Beweisführung innerhalb eines hängigen Prozesses, nicht aber - wie es  der Gesuchsteller behauptet - im vorprozessualen Verfahren. Lediglich unter bestimmten Voraussetzungen kann die Beweisabnahme auf Antrag der Parteien schon vor Rechtshängigkeit eines Prozesses erfolgen. Nach Auffassung des Gesetzgebers soll die vorsorgliche Beweisführung - wie bereits erwähnt - unter anderem der Abklärung der Beweis- und Prozessaussichten dienen (Botschaft ZPO, S. 7315). Erforderliche Voraussetzung ist das Glaubhaftmachen eines schutzwürdigen Interesses (Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO). Wie die Gesuchsgegnerin richtig anerkennt, sind an das Bestehen eines schutzwürdigen Interesses keine hohen Anforderungen zu stellen. Sie übersieht allerdings, dass das Interesse an der Beweisabnahme vom Interesse am damit zu beweisenden Anspruch abhängt (Schweizer, a.a.O., S. 7). So ist die vorsorgliche Beweisführung gerade in denjenigen Fällen von grosser Bedeutung, in denen die Prozessaussichten bis anhin nur durch private Gutachten abgeklärt werden konnten (Fellmann, a.a.O., Art. 158 N 18, mit Hinweis auf Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. A., Bern 2000, Art. 222 N 1). Da einem privaten Gutachten in einem allfälligen Prozess keine oder nur eine schwache Beweiskraft zukommt, ist ein solches zur Beurteilung der Prozessaussichten unter Umständen wenig geeignet. Wird das Gutachten hingegen im Verfahren nach Art. 158 ZPO eingeholt, liegt ein gerichtliches Gutachten vor, das für eine Klage, die Abwehr einer Klage oder für Vergleichsgespräche eine solidere Grundlage schafft als ein privates Gutachten. Auch die Kosten für eine solche Klärung der Prozessaussichten sind erheblich kleiner als der bisherige Ausweg über die Teilklage (Fellmann, a.a.O., Art. 158 N 18, mit Hinweis auf Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, a.a.O., Art. 222 N 1). Es genügt, dass der Gesuchsteller einen praktischen Nutzen für seine rechtliche oder tatsächliche Situation glaubhaft macht. Ein solcher Nutzen liegt beispielsweise dann vor, wenn die vorsorgliche Beweisführung eine Unsicherheit beseitigt und eine Grundlage für weitere Dispositionen schafft (Fellmann, a.a.O., Art. 158 N 19). Wenn sich die Gesuchsgegnerin in diesem Zusammenhang auf den Entscheid des Zürcher Obergerichts LF110116 vom 20. Dezember 2011 beruft, übersieht sie, dass dieser sich mit der vorliegenden Sachlage nicht vergleichen lässt. In diesem Entscheid wurde die Erstellung eines vorsorglichen gerichtlichen Gutachtens abgelehnt, da der Gesuchsteller bereits im Besitze zahlreicher medizinischer Fachmeinungen gewesen war, die ihm erlaubten, die Prozessaussichten genügend abzuschätzen. Im vorliegenden Fall gelangen jedoch die polydisziplinären Gutachten unbestrittenermassen nicht zum selben Schluss. Daher lässt sich auch kein einheitliches Bild für die Beurteilung der Prozesschancen ausmachen. Die dem Gesuchsteller vorliegende Grundlage ist mithin eine unsichere. Diesem Umstand kann letztlich nur durch ein gerichtliches Gutachten Rechnung getragen werden. Wenn also die Vorinstanz das schutzwürdige Interesse des Gesuchstellers an der vorsorglichen Beweisabnahme darin erblickt, dass für die Beantwortung medizinischer Fragen im Zivilprozess in der Regel ein gerichtliches Gutachten erforderlich sei, ist dies nicht zu beanstanden. So kann dem anbegehrten Gutachten das schutzwürdige Interesse zur Abschätzung der Prozesschancen nicht mit der Begründung abgesprochen werden, der Gesuchsteller könne seine Prozesschancen und Risiken anhand der umfangreichen medizinischen Dokumentation (Beilagen 6 - 20 zum Gesuch vom 29. August 2011), welche auch zwei polydisziplinäre Gutachten umfasse, selber einschätzen. Der Gesuchsteller darf beim Vorliegen sich widersprechender Privatgutachten nicht schlechter gestellt werden, als wenn keines in Auftrag gegeben worden wäre. Es kommt hinzu, dass sich mit Bezug auf das von der Gesuchsgegnerin in Auftrag gegebene Medas-Gutachten ernsthaft Fragen nach der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stellen (vgl. die Ausführungen in act. 4, S. 31 ff.). Es muss dem Gesuchsteller also die Möglichkeit zugestanden werden, auf eigene Kosten eine gerichtliche Expertise erstellen zu lassen (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen BS.2012.5 vom 5. April 2012 E. 2d/aa). Wie der Gesuchsteller zutreffend ausführt, ist Sinn und Zweck einer vorsorglichen gerichtlichen Begutachtung, eine einheitliche Grundlage für die Bestimmung der Prozesschancen zu schaffen. Insofern ist der vorinstanzliche Entscheid nicht zu beanstanden.

5.5 Die Gesuchsgegnerin argumentiert ferner, ein nach Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO eingeholtes Gutachten sei im Hauptprozess frei zu würdigen, weshalb ihm keine präjudizierende Wirkung zukommen könne. Eine Verschiebung des Prozesses in das «pre-trial discovery» - Verfahren sei nicht Sinn und Zweck der vorsorglichen Massnahme. Mittels einer vorsorglichen Beweisabnahme könne wegen des einseitigen Vorbringens des Gesuchstellers kein Obergutachten mit präjudizierender Wirkung erstellt werden, hierzu sei er auf den Hauptprozess zu verweisen. Eine abschliessende Klärung bringe lediglich das Beweisverfahren im Hauptprozess. Das Institut der vorsorglichen Beweisabnahme solle nicht dafür hinhalten, einen allfälligen Hauptprozess zu präjudizieren, sondern diene primär der Beweissicherung. Im Rahmen der vorsorglichen Beweisabnahme dürfe daher nicht umfassend geklärt werden, ob der behauptete materiell-rechtliche Anspruch des Gesuchstellers begründet sei oder nicht. Diese Frage müsse im Hauptverfahren geklärt werden. Genau darauf ziele jedoch der Gesuchsteller ab, indem er ausführe, dass er im Sinne «eines Obergutachtens Auskunft über seine somatischen Leiden» (Gesuch vom 29. August 2011, S. 14) erhalten müsse. Wenn aber bereits vor Prozessbeginn ein «Obergutachten» erstellt werde, sei im Hauptprozess wohl auch kein Raum für ein weiteres Gutachten. Dies sei aber gerade nicht Sinn und Zweck der vorsorglichen Beweisführung im Sinne von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO. Dies verkenne im Übrigen auch die Vorinstanz, wenn sie dafür halte, dass für die Beantwortung von medizinischen Fragen im Zivilprozessrecht in der Regel ein gerichtliches Gutachten erforderlich sei.

5.6 Die Gesuchsgegnerin verkennt, dass das anbegehrte Gutachten dem Gesuchsteller lediglich die Einschätzung seiner Beweis- und Prozesschancen erleichtert und ihn nicht davon entbindet, in einem allfälligen Prozess substanziierte Behauptungen aufzustellen, zu denen die Gesuchsgegnerin sodann Stellung nehmen, Gegenbehauptungen anbringen und Gegenbeweismittel anerbieten kann. Im Verfahren der vorsorglichen Beweisabnahme findet keine Beweiswürdigung statt. Es handelt sich auch entgegen der Insinuation der Gesuchsgegnerin nicht um ein «Obergutachten» im Sinne von Art. 188 Abs. 2 ZPO. Die vorsorgliche Beweisabnahme bezweckt hier nicht, einen Entscheid im Hauptprozess zu präjudizieren, sondern dient alleine der Abklärung der Prozessaussichten vor Rechtshängigkeit. Wie die Gesuchsgegnerin selbst zutreffend festhält, ist ein vorsorglich erstelltes Gutachten im Hauptprozess frei zu würdigen. Erfolgt die Beweisführung vor Einleitung des Prozesses, schliesst sie eine Beweisabnahme zum gleichen Thema im Hauptprozess nicht aus. Es muss den Parteien nämlich möglich sein, ohne Nachweis eines speziellen Interesses neue Beweisanträge oder eine Ergänzung der bereits erhobenen Beweise zu beantragen (Fellmann, a.a.O., Art. 158 N 46). Sie können aber auch unter Umständen die Wiederholung der Beweisführung verlangen (Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, a.a.O., Art. 228 N 1). Die vorgetragenen Befürchtungen der Gesuchsgegnerin erweisen sich mithin als unbegründet.

6. Im Übrigen bemängelt die Gesuchsgegnerin, dass die Formulierung von Dispositiv-Ziff. 2 im angefochtenen Entscheid Art. 185 Abs. 3 ZPO widerspreche. Die Edition diene nicht zur Klärung des Sachverhalts, sondern zu dessen Beweis (Schweizer, a.a.O., S. 14 f.), weshalb Dispositiv-Ziff. 2 aufzuheben und zu korrigieren sei.

Dem kann nicht gefolgt werden. Zwar müssen die zu edierenden Urkunden so genau bezeichnet werden, dass die Gesuchsgegnerin ohne Schwierigkeiten ermitteln kann, welche Urkunde sie zu edieren hat. Diese Voraussetzung verhindert, dass die vorprozessuale Edition zur unerlaubten Ausforschung des Sachverhalts dienen kann (Schweizer, a.a.O., S. 12 f.). Die Gesuchsgegnerin interpretiert jedoch Dispositiv-Ziff. 2. falsch, wenn sie meint, sie habe danach sämtliche Unterlagen mit Bezug auf den fraglichen Unfall und dessen Folgen herauszugeben. Darin wäre tatsächlich eine verpönte «fishing expedition» zu erblicken. Indes haben die Parteien der Gutachterin lediglich auf deren konkrete Aufforderung hin die relevanten Auskünfte zu erteilen und die klar bezeichneten Unterlagen herauszugeben. Es ist denn auch Sache der Gutachterin zu bestimmen, welche Auskünfte und Unterlagen sie zur Erstellung ihres Gutachtens benötigt. Weigert sich die Gesuchsgegnerin dabei zu kooperieren, bleibt dies weitgehend sanktionslos: Die unberechtigte Verletzung der Editionslast durch eine Partei kann nur durch Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung sanktioniert werden. Im Verfahren der vorsorglichen Beweisabnahme findet aber keine Beweiswürdigung statt. Das Gericht entscheidet nicht über den Hauptanspruch und damit auch nicht darüber, ob der Beweis für den substanziiert behaupteten anspruchsbegründenden Sachverhalt erbracht wurde. Legt die herausgabebelastete Partei die fragliche Urkunde in einem späteren Prozess über den Hauptanspruch vor, so folgt aus der Weigerung, die Urkunde vorprozessual herauszugeben, nicht, dass das Gericht im Hauptprozess die Urkunde nicht mehr beachten dürfte. Sie wird allerdings dann trotz Obsiegens in einem späteren Hauptprozess gemäss Art. 107 Abs. 1 lit. b ZPO sämtliche Prozesskosten tragen müssen, wenn sie gerade wegen der Vorlage der Urkunde den Hauptprozess gewonnen hat (Schweizer, a.a.O. S. 13 f.).

7. Schliesslich rügt die Gesuchsgegnerin, dass die Verfahrensherrschaft unzulässigerweise an die Gutachterstelle abgegeben werde, wenn diese in Dispositiv-Ziff. 3 angewiesen werde, die Teilgutachter, welche sich am Gutachten beteiligen würden, den Parteien, statt dem Kantonsgericht mitzuteilen. Auch diese Rüge ist indes unbegründet. In Anbetracht dessen, dass das vorinstanzliche Verfahren erst mit der Abnahme der Beweismittel abgeschlossen wird (vgl. Ziff. 2.1 vorstehend), verbleibt die Verfahrensherrschaft klar bei der Vorinstanz. Indem diese die Gutachterstelle verpflichtet, den Parteien bzw. ihren Rechtsvertretern zu gegebener Zeit schriftlich bekannt zu geben, welche Teilgutachter das Gutachten erstellen werden, gibt sie die Verfahrensherrschaft keineswegs ab. Sinn dieser Regelung ist einzig, dass die Gutachterin direkt - also ohne Umweg über die Vorinstanz - den Parteien bekannt geben soll, welche Teilgutachter in Frage kommen. Dies ändert aber nichts daran, dass allfällige Ausstandgesuche an die Vorinstanz zu richten sind und Letztere auch darüber zu entscheiden hat.

Obergericht, II. Zivilabteilung, 24. Oktober 2012

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