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Art. 223 Abs. 2 und Art. 229 ZPO
Art. 257 Abs. 1 ZPO
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Art. 119 ZPO, Art. 326 ZPO
Art. 147 ZPO, Art. 219 ZPO, Art. 223 ZPO
Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO

Art. 227 ZPO, Art. 317 ZPO

Regeste:

Art. 227 ZPO, Art. 317 ZPO – Eine Klageänderung im Berufungsverfahren ist nur noch zulässig, wenn die Voraussetzungen nach Art. 227 Abs. 1 ZPO gegeben sind und sie zudem auf neuen Tatsachen und Beweismitteln beruht. Bei einer doppelseitigen Klage (actio duplex) ist die beklagte Partei ungeachtet ihrer Parteirolle im vorinstanzlichen Verfahren (auch) als Klägerin zu betrachten. Die Klägerin kann eine Klageänderung aber nur dann beantragen, wenn sie entweder Berufung oder Anschlussberufung erhoben hat.

Aus dem Sachverhalt:

Das Kantonsgericht Zug schied mit Urteil vom 8. Juni 2011 die Ehe der Parteien und verpflichtete den Kläger, der Beklagten zur Abgeltung ihrer güterrechtlichen Ansprüche einen Betrag von CHF 41'777.-- zu bezahlen. Gegen diese Pflicht zur Zahlung erhob der Kläger beim Obergericht Zug Berufung. Die Beklagte beantragte in der Berufungsantwort im Wesentlichen die Abweisung der Berufung und damit die Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils; neu stellte sie zudem das Begehren, der Mietvertrag betreffend die Familienwohnung sei auf sie zu übertragen.

Aus den Erwägungen:

(...)

4. Die Beklagte liess in der Berufungsantwort beantragen, «ergänzend» sei der Mietvertrag betreffend die Familienwohnung auf sie zu übertragen. Zur Begründung brachte sie im Wesentlichen vor, die Zuweisung dieser Wohnung sei noch nicht definitiv geregelt. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand im Verlauf des Sommers 2011 massiv verschlechtert habe und zur nachhaltigen Stabilisierung jedwede Veränderung im Lebensalltag zu vermeiden sei, erscheine es nunmehr geboten, diese existentielle Frage im laufenden Berufungsverfahren zu regeln. Im vorinstanzlichen Verfahren habe sich diese Notwendigkeit noch nicht gezeigt, da die Beklagte mit einer baldigen und letztlich einvernehmlichen Beendigung des Scheidungsverfahrens gerechnet habe.

4.1 Für das vorliegende Berufungsverfahren gilt – wie bereits in Erwägung 1 dargelegt – die Schweizerische Zivilprozessordnung, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist. Die Anwendbarkeit des neuen Rechts ist in der Regel umfassend und das neue Recht gilt auch dann, wenn dies in Einzelfällen – namentlich mit Bezug auf die Zulässigkeit von Noven – für bestimmte Parteien unbefriedigend ist (vgl. Freiburghaus/Afheldt, in: Sutter-Somm/Hasen­böhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Zürich/Basel/Genf 2010, N 4 f zu Art. 405 ZPO.; Frei/Willisegger, Basler Kommentar, Schwei­zerische Zivilprozessordnung, Basel 2010, N 13 zu Art. 405 ZPO).

4.2 Gemäss Art. 317 ZPO werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (Abs. 1 lit. a und b). Eine Klageänderung ist nur noch zulässig, wenn die Voraussetzungen nach Art. 227 Abs. 1 ZPO gegeben sind und sie zudem auf neuen Tatsachen und Beweismitteln beruht (Abs. 2 lit. a und b).

4.3 Die Scheidungsklage ist eine sog. «doppelseitige Klage» (actio duplex). Sie charakterisiert sich dadurch, dass die beklagte Partei hinsichtlich der Scheidungsfolgen eigene Rechtsbegehren stellen kann, ohne dafür Widerklage erheben zu müssen (Sutter-Somm/Lazic, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O., N 5 zu Art. 290 ZPO). Unter diesem Aspekt ist die Beklagte ungeachtet ihrer Parteirolle im vorinstanzlichen Verfahren (auch) als Klägerin zu betrachten. Mit ihrem Antrag, mit dem sie «ergänzend» die Zuweisung der ehe­lichen Wohnung gemäss Art. 121 Abs. 1 ZGB verlangt, erweitert sie ihr ursprüngliches Rechts­begehren, was als Klageänderung im Sinne von Art. 227 ZPO gilt (Leuenberger, in: Sutter-Somm/Hasen­böhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O., N 1 zu Art 227 ZPO). Im Rechts­mittelverfahren kann allerdings auch der Kläger eine Klageänderung nur dann beantragen, wenn er entweder Berufung (oder Anschlussberufung) erhoben hat. Wäre es anders, so könnte die (etwa im Rahmen der Berufungsantwort verlangte) Klageänderung zu einer (unzulässigen) reformatio in peius zuungunsten des Berufungsklägers führen. Es ist daher ausgeschlossen, dass der Kläger in der Berufungsantwort (oder in der Anschlussberufungsantwort) eine Klageänderung beantragt. Dies gilt nach dem neuen Recht auch für das Scheidungsverfahren, jedenfalls soweit dort die Dispositionsmaxime anwendbar ist. Auf der anderen Seite ist es dem Beklagten, selbst wenn er selbst Berufung oder Anschlussberufung erhoben hat, von vornherein verwehrt, eine Klageänderung vorzunehmen, da gar keine Klage von ihm vorliegt, welche geändert werden könnte (vgl. Reetz/Hilber, in: Sutter-Somm/Hasen­böhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O., N 74 und 79 f. zu Art. 317 ZPO).

Hinsichtlich der von der Beklagten beantragten Übertragung des Mietvertrages für die eheliche Wohnung gilt die Dispositionsmaxime. Die Beklagte hat vorliegend keine Berufung oder Anschlussberufung erhoben, sondern den Antrag im Rahmen der Berufungsantwort gestellt. Ihr Begehren bzw. die damit verbundene Klageänderung erweisen sich daher als unzulässig, weshalb nicht darauf eingetreten werden kann. Abgesehen davon lässt die Beklagte zwar implizit vorbringen, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse seit dem Erlass des vor­instanz­lichen Urteils wesentlich verändert hätten. Sie hat dies aber weder hinreichend nachgewiesen, noch hat sie in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass sie die (angeblich neuen) Tatsachen, auf die sie ihr Begehren stützt, trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor dem Kantonsgericht hätte vorbringen können (s. dazu Reetz/Hilber, a.a.O., N 86 zu Art. 317 ZPO). Mithin kann auch aus diesem Grund auf die beantragte Klageänderung nicht eingetreten werden.

Obergericht, I. Zivilabteilung, 1. Mai 2012

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