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Art. 58 Abs. 1 ATSG
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Art. 4 Abs. 1 IVG

Regeste:

Art. 4 Abs. 1 IVG: Ob bei somatoformen Schmerzstörungen ausnahmsweise auf Invalidität erkannt werden kann, ist anhand der vom Bundesgericht als hierfür massgebend erklärten Foerster-Kriterien zu beurteilen (Erw. 3.1). Wenn es um die Ergänzung einer von einer Fachperson gegebenen Stellungnahme zu einem feststehenden medizinischen Sachverhalt geht, kann das Gericht einen Fall an die Vorinstanz zurückweisen (Erw. 4.6.2).

Aus dem Sachverhalt:

Bei der 1969 geborenen Versicherten, A., traten im Jahr 2002 im Zusammenhang mit einer zahnärztlich behandelten Entzündung Schmerzen im Gesichtsbereich auf. Da 2004 weitere Beschwerden hinzukamen (Kopfschmerzen, Schmerzen im Bereich der oberen und unteren Extremitäten, Zittern der Hände etc.), musste A. eine im August 2004 begonnene Ausbildung zur Lehrerin im Mai 2005 wieder abbrechen. Ab Oktober 2006 konnte A. als Schulassistentin in einem Pensum von 32 % bis 50 % arbeiten, bis sie am 31. Januar 2008 die Stelle wegen ihrer Beschwerden kündigte. Schon knapp zwei Jahre vorher, im Mai 2006, hatte A. das Gesuch um Ausrichtung einer Invalidenrente gestellt, welches von  der IV-Stelle des Kantons Zug am 29. September 2008 abschlägig beantworte wurde. Im Zuge des Rechtsmittelverfahrens wies das Verwaltungsgericht am 25. Juni 2010 die Sache zur Durchführung einer polydisziplinären Begutachtung an die IV-Stelle zurück. Im darauf erstellten polydisziplinären Gutachten vom 6. Oktober 2011 der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Zentralschweiz kam der federführende Gutachter in Absprache mit seinen Kolleginnen und Kollegen zum Schluss, dass A. eine medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit von zirka 50 % aufweise. In der Folge holte die IV-Stelle Zug eine Stellungnahme bei Dr. M., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie beim Regionalärztlichen Dienst (RAD), ein. In Beurteilung des psychiatrischen Teilgutachtens des MEDAS-Arztes med. pract. H. schrieb Dr. M. am 6. Februar 2012, dass er die von H. formulierte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht nachvollziehen könne. Sodann wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 5. März 2012 erneut ab.

Mit Eingabe vom 5. April 2012 lässt A. dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht Zug einreichen und darin unter anderem die Aufhebung der Verfügung vom 5. März 2012 beantragen. Ferner sei ihr IV-Grad festzustellen und gestützt darauf ihr eine Invalidenrente zuzusprechen.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.1 Obwohl im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 25. Juni 2010 nicht ausdrücklich erwähnt, hat die Beschwerdegegnerin richtig erkannt, dass der begutachtende MEDAS-Psychiater, der sich zur Frage der Überwindbarkeit der Schmerzproblematik bei der Beschwerdeführerin zu äussern hatte, seine Beurteilung anhand der vom Bundesgericht als hierfür massgebend erklärten Foerster-Kriterien vorzunehmen hatte. Die entsprechende bundesgerichtliche Rechtsprechung lautet wie folgt: Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit Krankheitswert – worunter anhaltende somatoforme Schmerzstörungen grundsätzlich fallen – ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (...). Namentlich vermag nach der Rechtsprechung eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken (...). Ein Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in jenen Fällen in Betracht, in denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver Betrachtung – und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (...) – sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist (...). Die – nur in Ausnahmefällen anzunehmende – Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien voraus. So sprechen unter Umständen (1) chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, (2) ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, (3) ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; «Flucht in die Krankheit») oder schliesslich (4) unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person für die ausnahmsweise Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung (BGE 130 V 352, Erw. 2.2.3, mit weiteren Hinweisen).

(...)

4.4 Mit Blick auf die [hiervor angeführten] Erwägungen ist somit zu sagen, dass es der Beschwerdegegnerin nicht zum vornherein verwehrt war, in ihrer Verfügung vom 5. März 2012 auf die Stellungnahme des RAD-Arztes M. abzustellen. (...) Dem Bericht von M. kann allerdings nur Beweiskraft zukommen, wenn die übrigen vom Bundesgericht verlangten Anforderungen erfüllt sind. In formeller Hinsicht ist dabei festzuhalten, dass M. als Facharzt für Psychiatrie unbestrittenermassen über die erforderlichen fachlichen Qualifikationen verfügt hat, um einerseits Stellung zu einem von einem Psychiater erstellten Gutachten zu beziehen und sich andererseits eigenständig – gestützt auf die Foerster-Kriterien – zur (Un-)zumutbarkeit der Schmerzüberwindung der Beschwerdeführerin äussern zu können. Ferner steht in formeller Hinsicht fest, dass ihm die Krankheitsgeschichte der Beschwerdeführerin aus den ihm zur Verfügung gestellten Vorakten, darunter insbesondere dem MEDAS-Gutachten, bekannt war. Schliesslich war es, entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin, vorliegend auch nicht erforderlich, dass M. die Beschwerdeführerin selber untersuchte. (...)

4.5 Es bleibt nachfolgend somit zu klären, ob die Stellungnahme des RAD-Arztes auch inhaltlich nachvollzogen werden kann, das heisst, ob sie in der Beschreibung der medizinischen Situation und Zusammenhänge einleuchtet und seine Schlussfolgerungen begründet sind.

(...)

4.5.3 Würdigend gilt es festzuhalten, dass die Schlussfolgerung vom RAD-Arzt, wonach er die vom MEDAS-Psychiater formulierte Arbeitsunfähigkeit von 50 % nicht nachvollziehen könne, auf einer eigenen, einlässlichen und einleuchtenden Auseinandersetzung mit den einzelnen Foerster-Kriterien beruht. Angesichts des ihm sich gesamthaft aus den Akten darbietenden Krankheitsbildes der Beschwerdeführerin verneint er gut nachvollziehbar einerseits die Erfüllung des Kriteriums der mitwirkenden psychisch ausgewiesenen Komorbidität, andererseits aber auch die ausreichende Erfüllung der übrigen vier Kriterien, deren Vorhandensein gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit einer gewissen Intensität und Konstanz bejaht werden müsste, um bei Fehlen einer psychisch ausgewiesenen Komorbidität auf ein invalidisierendes Leiden erkennen zu können (BGE 136 V 279, Erw. 3.2.1). Die Schlussfolgerung vom RAD-Arzt M. ist demnach als wohl begründet zu bezeichnen.

4.6 Nach dem Gesagten ist somit auch inhaltlich an der RAD-Stellungnahme vom 6. Februar 2012 nichts auszusetzen. Die Stellungnahme erfüllt damit insgesamt die allgemeinen beweisrechtlichen Anforderungen an einen ärztlichen Bericht, und es kann darauf abgestellt werden.

4.6.1 Die Beschwerdegegnerin kommt in ihrer Verfügung vom 5. März 2012 zum Ergebnis, da der RAD-Arzt M. das MEDAS-Gutachten H. in Bezug auf die dort attestierte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht habe nachvollziehen können, habe dieser eine versicherungsmedizinische Einschränkung der Arbeitsfähigkeit durch die Fibromyalgie für nicht gegeben gehalten (...). Diese Interpretation der RAD-Stellungnahme ist indessen nicht korrekt. Eine Lektüre des Berichts von M. ergibt nämlich, dass dieser sich zur Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin gar nicht ausdrücklich geäussert hat. Insbesondere hat er nicht geschrieben, er halte die Beschwerdeführerin für 100 % arbeitsfähig. Zwar kritisiert er das MEDAS-Teilgutachten mit der Formulierung, es entstehe der Eindruck, die Einschätzung einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % sei aus einem sogenannten «Bauchgefühl» heraus erfolgt. Doch möchte er damit nicht ausschliessen, dass die Beschwerdeführerin mit dem bestehenden Schmerzsyndrom durchaus eine gewisse Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit besitze (...). Gerade aufgrund dieser letzten, relativierenden Formulierung würden sich ganz andere Schlüsse aufdrängen als derjenige, den die Beschwerdegegnerin gezogen hat. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit der Stellungnahme hätte die Beschwerdegegnerin (...) weitere Abklärungen beim RAD-Arzt über die Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin in die Wege leiten müssen. Indem sie dies unterliess und aus den Ausführungen des RAD-Psychiaters aktenwidrige Schlussfolgerungen zog, hat sie den Sachverhalt unvollständig festgestellt und den Untersuchungsgrundsatz verletzt.

4.6.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es dem kantonalen Gericht unter dem Aspekt der Verfahrensgarantien unbenommen, eine Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, wenn eine Ergänzung von gutachtlichen Ausführungen erforderlich ist (BGer 9C_646/2010 vom 23. Februar 2011, Erw. 4; BGE 137 V 210, Erw. 4.4.1.4). Da es vorliegend lediglich um die Ergänzung einer von einer Fachperson gegebenen Stellungnahme zu einem bereits feststehenden medizinischen Sachverhalt handelt, rechtfertigt es sich somit, die Sache erneut an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese hat bei ihrem RAD-Arzt M. eine zusätzliche Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin einzuholen, welche, um darauf abzustellen zu können, den allgemeinen beweisrechtlichen Anforderungen an einen ärztlichen Bericht genügen muss. Sollte der RAD-Arzt der Meinung sein, er könne alleine aufgrund der Akten keine fundierte Aussage zur Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin machen, so ist es ihm selbstredend unbenommen, selber eine Untersuchung durchzuführen (Art. 49 Abs. 2 IVV). Gestützt auf die Ausführungen ihres RAD-Arztes hat die Vorinstanz alsdann neu über das gestellte Leistungsbegehren der Beschwerdeführerin zu befinden.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 25. Juli 2012 S 2012 51

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