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Art. 58 Abs. 1 ATSG
Art. 59 ATSG
Art. 4 Abs. 1 IVG

Art. 8 IVG

Regeste:

Die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung unterliegt den allgemeinen Anspruchsvoraussetzung gemäss Art. 8 IVG (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Eingliederungswirksamkeit). Die Abgabe eines Elektrorollstuhls bzw. eines mit einer elektrischen Schub- und Zughilfe ausgerüsteten Rollstuhls muss für die versicherte Person selbst eine Erleichterung darstellen. Eingliederungsziel der fraglichen Hilfsmittel ist nicht die Unterstützung der betreuenden Drittpersonen, sondern die Gewährung der Selbständigkeit der Fortbewegung des Behinderten selbst. Selbiges gilt bei der Hilfsmittelabgabe nach AHVG.

Aus dem Sachverhalt:

Der 1946 geborene Versicherte M. leidet seit Geburt an cerebralen Bewegungsstörungen und ist aktuell an den Rollstuhl gebunden. Am 17. November 2011 reichte er ein Gesuch um Kostengutsprache für die Anschaffung einer Rollstuhl-Anschiebe- und Bremshilfe Via Mobil V25 bei der IV-Stelle ein. Dies nachdem die am Rollstuhl befestigte Anschiebehilfe Via Mobil 10 kaputt gegangen war. Die in der Zwischenzeit aufgrund des Rentenalters des Versicherten zuständige Ausgleichskasse wies das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 6. Januar 2012 ab. Zur Begründung führte sie aus, Elektrorollstühle oder Hilfsantriebe für Handrollstühle könnten im Grundsatz nur abgegeben werden, wenn sie von der versicherten Person selbst bedient werden könnten, mithin der selbständigen Fortbewegung dienten. Die angeforderte Schiebe- und Bremshilfe diene einzig der Unterstützung einer Hilfsperson und erlaube die selbständige Fortbewegung nicht. Die dagegen erhobene Einsprache von M. wies die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 23. Februar 2012 ab. Dagegen erhob M. am 12. März 2012 Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragte sinngemäss die Aufhebung des anspruchverneinenden Einspracheentscheids. Im Wesentlichen führte M. aus, dass vorliegend kein Neuantrag sondern eine Ersatzanschaffung im Raume stehe und berief sich auf die Besitzstandsgarantie. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Abweisung der Beschwerde. Im Wesentlichen führte sie aus, es sei unerheblich, wenn in der Vergangenheit eine entsprechende Kostenzusage erteilt worden sei. Ob die Voraussetzungen für die damalige Kostengutsprache überhaupt gegeben gewesen seien, sei zumindest fraglich. Im Ergebnis würde dies jedoch nichts ändern, da der Anspruch auf Besitzstandsgarantie für Versicherte im AHV-Alter nur hinsichtlich der Hilfsmittel gegeben sei, für welche die massgebenden Voraussetzungen der IV weiterhin erfüllt seien. Dies sei vorliegend nicht der Fall, fehle es doch an der Selbständigkeit der Fortbewegung. Folglich hätte der Anspruch auch abgewiesen werden müssen, wäre das AHV-Alter noch nicht erreicht.

Aus den Erwägungen:

(...)

2.1 Der Bundesrat bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Bezügerinnen und Bezüger von Altersrenten oder Ergänzungsleistungen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontakts oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedürfen, Anspruch auf Hilfsmittel haben (Art. 43quater Abs. 1 AHVG). (…) In Art. 66ter der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) vom 31. Oktober 1947 wird die entsprechende Rechtsetzungsskompetenz dem Departement des Innern übertragen und festgestellt, dass Art. 14bis und 14ter der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) vom 17. Januar 1961 (Beschaffung und Vergütung der Hilfsmittel resp. Einschränkung der Austauschbefugnis) sinngemäss gelten. Für die Geltendmachung des Anspruchs verweist Art. 67 Abs. 1ter AHVV auf Art. 66 IVV. Der Anspruch wird in der Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (HVA) vom 28. August 1978 weiter präzisiert. So hält Art. 4 HVA sinngemäss fest, wer bei Entstehen des Anspruchs auf eine Altersrente Hilfsmittel oder Ersatzleistungen nach den Artikeln 21 und 21bis des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) vom 19. Juni 1959 erhalten habe, dem bleibe der Anspruch auf diese Leistungen in Art und Umfang bestehen, solange die massgebenden Voraussetzungen erfüllt seien und soweit die vorliegende Verordnung nichts anderes bestimme. (…) Im Anhang zur HVA findet sich die Hilfsmittelliste nach AHVG, welche unter Ziff. 9 bzw. 9.51 Rollstühle ohne motorischen Antrieb enthält. Demgegenüber hält der Anhang zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) vom 29. November 1976 unter Ziff. 9.01 Rollstühle ohne motorischen Antrieb, unter Ziff. 9.02 Elektrorollstühle fest und statuiert, Anspruch hätten Versicherte, die einen gewöhnlichen Rollstuhl nicht bedienen und sich nur dank des elektronischen Antriebs selbständig fortbewegen könnten.

2.2 Dem Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI), gültig ab 1. Juli 2011, ist in Randziffer 9.02 zu entnehmen, dass Voraussetzung für die Abgabe eines Elektrorollstuhls ist, dass die versicherte Person sich nur dank des Elektrorollstuhls selbständig fortbewegen kann. Nach Randziffer 9.02.6 kann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen für einen Elektrorollstuhl erfüllt sind, auf Wunsch des Versicherten auch ein batteriebetriebener Hilfsantrieb für einen gewöhnlichen Rollstuhl abgegeben werden. (…) Dem Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (KSHA), gültig ab 1. Juli 2011, kann unter Randziffer 1003 ergänzend sinngemäss entnommen werden, dass Versicherten, denen bis zum Eintritt ins ordentliche AHV-Rentenalter bereits von der IV Hilfsmittel zugesprochen worden sind, der Anspruch in Art und Umfang erhalten bleibt, solange die Voraussetzungen der IV weiterhin erfüllt sind und soweit das vorliegende Kreisschreiben nichts anderes bestimmt. Wer Anspruch auf Besitzstandswahrung hat, hat auch Anspruch auf Reparatur bzw. teilweisen Ersatz, allfällige Betriebs- und Unterhalts- sowie Reisekosten. (…)

2.3 Im Entscheid vom 18. November 1987 hielt das damalige EVG im Wesentlichen fest, Elektrofahrstühle (gemeint sind Elektrorollstühle) könnten nur an Versicherte abgegeben werden, wenn diese sie bedienen und sich damit selbständig fortbewegen könnten. Mithin und im Sinne der Austauschbefugnis gingen auch batteriebetriebene Schubgeräte zum Anschub eines gewöhnlichen Rollstuhls nur dann zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn diese sowohl vom Versicherten selbst wie auch von einer Hilfsperson bedient werden könnten (ZAK 1988 S. 180 ff.). Im Entscheid BGE 135 I 161 ff. rekapitulierte das Bundesgericht, dass elektrische Schub- und Zughilfen für gewöhnliche Rollstühle funktionell als Elektrorollstühle nach Ziff. 9.02 HVI-Anhang zu behandeln seien. Weiter wurde auf die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 IVG (Geeignetheit/Erforderlichkeit/Eingliede­rungswirksamkeit) verwiesen und festgestellt, der Anspruch auf einen Elektrorollstuhl bestehe nur, wenn dieser für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sei. Die Selbständigkeit in der Fortbewegung mit einem elektromotorisch angetriebenen Rollstuhl sei Eingliederungsziel und folglich Voraussetzung für die Abgabe eines Elektrorollstuhls. An anderer Stelle wurde wiederum präzisiert, dass ein Schub- und Zuggerät nur dann zu Lasten der Invalidenversicherung gehe, wenn es nicht nur von einer Hilfsperson, sondern auch von der Versicherten selbst bedient werden könne (BGE 135 I 161 Erw. 4 und 4.1). Schliesslich hielt das höchste Gericht im Entscheid 9C_940/2010 vom 24. März 2011 noch einmal fest, dass auch die Schiebe- und Bremshilfen Viamobil funktionell als Elektrorollstühle zu betrachten seien. Weiter wurde ausgeführt, dass die Selbständigkeit in der Fortbewegung eine vom Verordnungsgeber im Rahmen seiner gesetzlich verankerten weiten Gestaltungsfreiheit eingefügte Voraussetzung sei und diese bundesrechtskonform sei. Sodann wurde festgestellt, dass der Versicherte in casu aufgrund seiner schweren Behinderung nicht in der Lage sei, sich dank des elektromotorischen Antriebs selbständig fortzubewegen. Auch könne er die Schiebe- und Bremshilfe nicht selbständig bedienen. Würdigend wurde schliesslich erkannt, ein Schub- und/oder Zuggerät gehe nur dann zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn es nicht nur von einer Hilfsperson, sondern auch von der versicherten Person selbst bedient werden könne. Eine Ausnahme bestehe dann, wenn der versicherten Person ohne das beantragte Hilfsmittel der Aufenthalt bei der eigenen Familie verunmöglicht würde (Urteil vom 24. März 2011 [9C_940/2010] Erw. 3 und 4.1 und 4.2).

(...)

4.1 In Würdigung der vorliegenden Sachlage ist zunächst festzustellen, dass Elektrorollstühle sowie Anschiebehilfen für normale Rollstühle im Anhang zur HVA nicht verzeichnet sind. Das Entstehen eines originären Anspruchs erst im AHV-Alter erschiene folglich als zumindest fraglich. Unter Verweis auf die in Erwägung 2.1 wiedergegebenen gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere auf HVI Anhang Ziff. 9.02, auf die in Erwägung 2.2 angesprochenen Kreisschreiben, insbesondere auf KHMI Rz. 9.02, resp. auf die in Erwägung 2.3 kurz umrissene höchstrichterliche Praxis ist überdies zu bedenken, dass der IV-rechtliche Anspruch auf einen Elektrorollstuhl resp. im Sinne der Austauschbefugnis auf eine Schiebehilfe für einen normalen Rollstuhl grundsätzlich bedingt, dass das Gerät vom Behinderten selbst und nicht nur von seinen Betreuern bedient werden kann. Auch betont das Bundesgericht immer wieder, dass die Selbständigkeit in der Fortbewegung mit einem elektromotorisch angetriebenen Rollstuhl resp. mit einem durch eine Schiebehilfe angetriebenen gewöhnlichen Rollstuhl Eingliederungsziel und demzufolge unabdingbare Voraussetzung für die Abgabe eines entsprechenden Gerätes sei. (...) In casu ist unstreitig, dass der Beschwerdeführer weder einen Elektrorollstuhl noch eine Schiebe- und /oder Bremshilfe selbständig bedienen kann resp. dass er sich damit ohne Dritthilfe nie fortbewegen könnte. Gewähren der Elektrorollstuhl oder die batteriebetriebene Schiebehilfe die Fortbewegung ohne Dritthilfe nun aber nicht, führen sie also nicht dazu, dass der Versicherte nun vermehrt alltägliche Lebensbedürfnisse (...) ohne Fremdhilfe selbständig abdecken kann, lassen sie den Bedarf an Dritthilfe mithin nicht geringer werden bzw. gar entfallen, so verfehlen sie auch das obgenannte Eingliederungsziel der – mindestens erheblich vermehrten – Selbständigkeit in der Fortbewegung ganz klar. Damit gilt eine wichtige gesetzliche Anspruchsvoraussetzung für die Abgabe eines entsprechenden Hilfs­mittels vorliegend als eindeutig nicht erfüllt. Ein Ausnahmefall im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis, wonach das Hilfsmittel – selbst wenn die behinderte Person dieses nicht bedienen kann – gewährt werden könne, wenn nur damit der Aufenthalt bei der eigenen Familie ermöglicht würde, wurde in casu weder behauptet, noch ergeben sich aus den Akten Hinweise darauf. (...)

4.2 Zum Aspekt der Besitzstandswahrung ist auf Art. 4 HVA sowie auf KSHA Rz. 1003 zu verweisen. Demzufolge bleibt ein Anspruch auf ein von der IV vor Erreichen des AHV-Alters gewährtes Hilfsmittel nur dann in Art und Umfang bestehen, solange die massgebenden Voraussetzungen erfüllt sind. Der Hinweis darauf, dass die massgebenden Voraussetzungen weiterhin erfüllt sein müssten, bedeutet, dass es dem Sozialversicherer nicht nur erlaubt, sonders vielmehr geboten ist, die massgebenden Voraussetzungen bei jeder Geltendmachung eines Anspruchs, sei es zulasten der IV oder nach Erreichen des Pensionsalters zulasten der AHV, wieder neu zu prüfen. Da die vom Verordnungsgeber statuierte und von der höchstrichterlichen Praxis als bundesrechtskonform bestätigte Voraussetzung der Selbständigkeit der Fortbewegung aktuell unbestrittenermassen nicht gegeben ist, kann der Beschwerdeführer auch unter dem Aspekt der Besitzstandswahrung keinen Anspruch auf das beantragte Hilfsmittel geltend machen. Dass die fragliche Voraussetzung in casu zu keiner Zeit erfüllt war mit der Konsequenz, dass das Via Mobil 10 im Jahre 2001 wohl zu Unrecht bewilligt wurde, vermag dem Beschwerdeführer schliesslich ebenfalls keinen Anspruch auf die nun geforderte Ersatzbeschaffung zu vermitteln. Jedenfalls gewährt ein früheres fehlerhaftes Verwaltungshandeln – auch unter dem Aspekt von Treu und Glauben bzw. dem Gutglaubensschutz (…) keinen Anspruch auf weitere fehlerhafte, dem Gesetz, der Verordnung und der Rechtsprechung zuwiderlaufende Verfügungen, zumal es keine Hinweise dafür gibt, dass die Beschwerdegegnerschaft an einer gesetzeswidrigen Praxis festhalten wolle. (...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. Juni 2012 S 2012 44

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