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Art. 58 Abs. 1 ATSG
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Art. 4 Abs. 1 IVG
Art. 8 IVG
§ 82 VRG, Art. 73 Abs. 1 BVG

Art. 9 Abs. 2 UVV i.V.m. Art. 4 ATSG

Regeste:

Art. 9 Abs. 2 UVV i.V.m. Art. 4 ATSG: Mit Ausnahme der Ungewöhnlichkeit müssen auch bei den unfallähnlichen Körperschädigungen (Listenverletzung) alle Merkmale des Unfalls erfüllt sein. Die schädigende äussere Einwirkung kann auch in einer körpereigenen Bewegung bestehen, eine lediglich alltägliche Bewegung genügt dafür jedoch nicht. Gefordert ist ein sinnfälliges, plötzliches, sprich einmaliges Ereignis, wie beispielsweise eine heftige Bewegung. Verlangt ist mithin ein Geschehen, dem ein gesteigertes Schädigungspotential zukommt oder das Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit der Vornahme der alltäglichen Lebensverrichtung führenden Faktors. Auch wenn durch die Rechtsprechung gewissen Sportarten (z.B. Fussballspiel) ein gesteigertes Gefährdungspotential zuerkannt wird, heisst das nicht, dass jede im Zusammenhang mit einer solchen Sportart aufgetretene Listenverletzung auch automatisch als unfallähnliche Körperschädigung anzuerkennen ist (vgl. Erw. 5.2.1).

Aus dem Sachverhalt:

Der 1986 geborene Versicherte K. war bei der V. AG gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Beim Snowboarden kam es zu einer Schulterluxation. Im Rahmen der detaillierteren Hergangsschilderung gab er an, sich an einem Baum festgehalten zu haben. Beim Loslassen habe er den Arm nach hinten gestreckt und sich dabei die Schulter ausgekugelt. In diesem Zusammenhang verwies er auch darauf, dieselbe Schulter vorgängig schon zweimal luxiert zu haben. Mit Verfügung vom 19. Oktober 2011 verneinte die V. AG ihre Leistungspflicht, da kein Unfall vorliege und es für eine unfallähnliche Körperschädigung an der Sinnfälligkeit mangle. Dagegen erhob der Versicherte am 16. November 2011 sowie die SUVA als Vorunfallversicherer am 4. November 2011 Einsprache. Beide wurden von der V. AG mit Entscheid vom 16. Januar 2012 abgewiesen. Zur Begründung führte sie aus, dass die Schulterluxation zwar eine Listenverletzung nach Art. 9 Abs. 2 UVV darstelle, beim Auslösefaktor fehle es allerdings an der erforderlichen Sinnfälligkeit, damit von einem unfallähnlichen Vorgang gesprochen werden könne. Zwar könne der Auslösefaktor alltäglich und diskret sein, wesentlich sei, dass ein plötzliches Ereignis, wie beispielsweise eine heftige Bewegung, die Verletzung verursache. Dem Geschehen müsse praxisgemäss ein gewisses, gesteigertes Gefährdungspotential innewohnen, was vorliegend nicht erfüllt sei. Dagegen erhob die SUVA Verwaltungsgerichtsbeschwerde, da eine unfallähnliche Körperschädigung zu bejahen sei, wenn die Tätigkeit im Rahmen einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen werde, wie dies etwa für viele sportliche Betätigungen zutreffe. So sei das Fussballspiel vom Bundesgericht als Geschehen mit einem gesteigerten Gefährdungspotential bezeichnet worden, da eine Vielzahl von nicht alltäglichen Bewegungen, die den Körper mannigfach belasten, ausgeführt würden. Das Snowboardfahren beinhalte unvermeidlich auch plötzliche, ruckartige und unkontrollierbare Bewegungen, mithin handle es sich um eine Sportart, welche ein gesteigertes Gefährdungspotential aufweise.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.1 Erste Voraussetzung für die Leistungspflicht eines Unfallversicherers ist das Vorliegen eines Unfalls resp. einer unfallähnlichen Körperschädigung. Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG, vgl. auch: aArt. 9 Abs. 1 UVV). Artikel 9 Abs. 2 UVV enumeriert abschliessend die Körperschädigungen, die (....) auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung Unfällen gleichgestellt werden (vgl. auch Art. 6 Abs. 2 UVG). Aufgezählt werden a) Knochenbrüche, b) Verrenkungen von Gelenken, c) Meniskusrisse, d) Muskelrisse, e) Muskelzerrungen, f) Sehnenrisse, g) Bandläsionen und h) Trommelfellverletzungen. Überdies regelt Art. 9 UVG die Leistungspflicht des Unfallversicherers bei Berufskrankheiten resp. den Berufskrankheiten gleichgestellten Krankheiten.

3.1.1 Die unfallähnlichen Körperschädigungen müssen sämtliche Unfallbegriffsmerkmale erfüllen mit Ausnahme der ungewöhnlichen äusseren Einwirkung. Besondere Bedeutung kommt der Voraussetzung eines äusseren Ereignisses – allenfalls im Körperinnern – zu. Hat ein solches nicht stattgefunden, und sei es auch nur als Auslöser eines Gesundheitsschadens, liegt eindeutig eine krankheits- oder degenerativ bedingte Gesundheitsschädigung vor. Seit Januar 1998 gelten Körperschädigungen, die von einer Erkrankung oder Degeneration herrühren, explizit als ausgeschlossen. Wie erwähnt ist die Auflistung in Art. 9 Abs. 2 UVV abschliessend, weshalb Erweiterungen durch Analogieschlüsse nicht zulässig sind. (...)

3.1.4 Aus der von den Parteien zitierten Judikatur ergibt sich das Folgende: Im Entscheid BGE 114 V 301 Erw. 3c hielt das damalige EVG im Wesentlichen fest, der auslösende Faktor einer Listenverletzung könne alltäglich und diskret sein. Wesentlich sei, dass ein plötzliches Ereignis, zum Beispiel eine heftige Bewegung die Verletzungszustände hervorrufe. Auch der zeitliche Faktor sei relevant. Fehle es an einem unmittelbaren Geschehen und sei die Läsion vielmehr wiederholten, im täglichen Leben erfolgten Mikrotraumata zuzuschreiben, die eine allmähliche Abnützung bewirkten, welche schliesslich zur Behandlungsbedürftigkeit führe, so sei von einer Krankheit auszugehen. Im Entscheid BGE 129 V 466 Erw. 4.3 enumerierte das höchste Gericht unter Berufung auf die SUVA verschiedene Sachverhalte, bei welchen ein äusserer Faktor zu verneinen sei. Dies galt für die – nach mehrfachen krankheitsbedingten Schulterluxationen – beim wiederholten, mit ausgestrecktem Arm erfolgten Herunternehmen eines 20 kg schweren Plastiksacks von einer Laderampe plötzlich einschiessenden Schulterschmerzen; für die beim Anheben eines Armes, um etwas zu zeigen, erfolgte Schulterluxation sowie für die beim Wegwerfen eines Pfirsichsteins in den Abfalleimer einschiessenden Schulterbeschwerden. Mit Urteil vom 26. Juli 2011 [8C_186/2011] äusserte das Bundesgericht – im Hinblick auf eine Knieverletzung bei einem unglücklichen Zusammenstoss während eines Zweikampfs –, das Fussballspiel sei rechtsprechungsgemäss ein Geschehen mit einem gesteigerten Gefährdungspotential, da eine Vielzahl von nicht alltäglichen Bewegungen (abruptes Beschleunigen oder Stoppen, seit- und rückwärts Laufen, Drehen, Strecken, Schiessen des Balls, Hochspringen beim Kopfball etc.) den gesamten Körper mannigfach belasteten. Somit stelle es selbst für geübte Spieler eine nicht alltägliche Lebensverrichtung dar (vgl. Erw. 8.4 des zitierten Entscheids). Hinsichtlich der während des Carvens eingetretenen Innenbandverletzung am rechten Knie eines Skilehrers hielt das damalige EVG mit Entscheid vom 27. Oktober 2005 [U 223/05] fest, das beim Carven ausgeübte dynamische Skifahren stelle ein Geschehen mit einem gesteigerten Gefährdungspotential dar und sei auch für einen Skilehrer keine alltägliche Lebensverrichtung, zumal es geeignet sei, Änderungen der Körperlage auszulösen, die nach unfallmedizinischer Erfahrung häufig zu körpereigenen Traumen führten. Vorliegend sei der Schmerz beim Kurvendrehen aufgetreten. (...) Beim normalen Joggen komme es nicht zu plötzlichen, ruckartigen und unkontrollierten Bewegungen. Vielmehr zeichne sich dieses durch einen gleichmässigen Bewegungsablauf im Rahmen einer physiologisch normalen und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers aus (Urteil vom 23. Oktober 2008 [8C_118/2008] Erw. 3.3 mit Hinweisen auf U 100/03 Erw. 3.3 und U 258/04). Im Entscheid vom 22. Februar 2011 [8C_546/2010] Erw. 3.3 hielt das Bundesgericht schliesslich fest, der äussere Faktor als gesteigertes Schädigungspotential zufolge allgemein gesteigerter Gefahrenlage könne bei Pilates als Methode eines ganzheitlichen Körpertrainings für eine korrekte und gesunde Körperhaltung, basierend auf den Prinzipien «Kontrolle, Konzentration, bewusste Atmung, Zentrierung, Entspannung, Bewegungsfluss und Koordination» von vornherein verneint werden. In casu sei die Übung – seitliches Aufstützen auf der rechten Hand und dem rechten Fuss, Hochstemmen und Stabilisieren des Gewichts – denn auch unter normalen äusseren Bedingungen erfolgt. Die fragliche Übung stelle sodann eine Verrichtung dar, die üblicherweise im Rahmen einer physiologisch normalen und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers ausgeführt werde.

(...)

5.1 Zum Hergang des Ereignisses ist zunächst festzustellen, dass ein Sturz aufgrund der Angaben des Versicherten eindeutig auszuschliessen ist (...). Der Versicherte, mit Kollegen in Japan beim Snowboarden, war der Erste der Gruppe, weshalb er bei einem kleinen Baum anhielt, um auf die übrigen zu warten. Mit dem im 90°-Winkel waagrecht ausgestreckten rechten Arm hielt er sich an dem kleinen Baum, umgriff den Stamm mit der Hand. Als er, über die rechte Schulter nach hinten blickend, die Kollegen nahen sah, entschied er sich, seitlich nach links runter zu fahren. Er neigte sich leicht nach vorne und machte mit Oberkörper und Hüfte eine Körperdrehung nach links, um das Brett in diese Richtung zu bewegen. Dabei hielt er sich noch immer am Baum fest, liess diesen, nach seiner Ansicht, zu spät los. Sein Arm sei nämlich rechts nach hinten gezogen worden und deshalb ausgekugelt. (...)

5.2.1 Würdigend ist (...) daran zu erinnern, dass das Vorliegen einer Listenverletzung allein nicht ausreicht, um eine unfallähnliche Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV anzunehmen. Zwar kann das auslösende Moment alltäglich und diskret sein. Allerdings ist ein sinnfälliges, plötzliches, sprich einmaliges Ereignis, beispielsweise eine heftige Bewegung, gefordert. Verlangt ist mithin ein Geschehen, dem ein gewisses gesteigertes Gefährdungspotential innewohnt, oder das Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit der Vornahme der alltäglichen Lebensverrichtung führenden Faktors, d.h. eine plötzliche Störung des normalen Bewegungsablaufs. Zu bedenken ist weiter, dass das Bundesgericht zwar gewissen Sportarten per se ein gesteigertes Gefährdungspotential zuerkannte. Nach Ansicht des Gerichts besagt dies indes nicht, dass jede im Zusammenhang mit einer entsprechenden Sportart aufgetretene Listenverletzung auch automatisch als unfallähnliche Körperschädigung anzuerkennen ist. Vielmehr ist zu beachten, welche nicht alltäglichen Bewegungen bei der jeweiligen Sportart hinsichtlich Verletzung als besonders gefährdend erachtet werden, und es ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Listenverletzung im Rahmen der Ausübung einer solchen Bewegung eintrat. Diesbezüglich hat das Bundesgericht in den in Erwägung 3.1.4 zitierten Entscheiden die beim Fussballspiel möglichen, besonders verletzungsgefährdenden Bewegungen exemplarisch aufgelistet und hinsichtlich Carven zumindest auf das – in der Regel in der Hocke, in schneller Fahrt und unter besonderer Belastung jeweils eines Innenskis erfolgende – dynamische Kurvendrehen verwiesen. E contrario darf daraus geschlossen werden, dass Listenverletzungen, die nachweislich nicht bei Verrichtung einer entsprechenden Bewegung auftraten, jedenfalls nicht ohne weiteres als unfallähnliche Körperschädigung anzuerkennen sind. Folglich reicht beispielsweise das Tragen von Carving-Skis nicht aus, um für eine mit Skiern an den Füssen erstmals bemerkte Listenverletzung die Leistungspflicht des Unfallversicherers zu bejahen. Ob das Snowboardfahren seinerseits überhaupt als Sportart mit einem gesteigerten Gefährdungspotential zu qualifizieren ist resp. ob es demnach – wie die Beschwerdeführerin dies möchte – mit dem Carven gleichgesetzt werden darf, kann vor diesem Hintergrund schliesslich offen bleiben. Unter Verweis auf den in Erwägung 5.1 wiedergegebenen Ereignisablauf ist immerhin festzustellen, dass vorliegend keine besonders heftige, plötzliche oder brüske resp. intensive Bewegung, aber auch kein erhöhter Kraftaufwand dargestellt bzw. behauptet wurden. Weder das Halten oder Loslassen des kleinen Baumes noch das langsame Losfahren auf dem Snowboard enthalten ein besonderes Gefährdungspotential, schon gar nicht für Schulterverletzungen. Auch lässt sich in der Hergangsschilderung kein Hinweis auf einen äusseren Faktor erkennen, der zur Undurchführbarkeit der geplanten Verrichtung, des Losfahrens nach dem kurzen Halt, hätte führen können. Im Gegenteil darf festgestellt werden, dass der Bewegungsablauf durch keine äusseren Faktoren gestört wurde. Hielt sich der Versicherte solange am fraglichen Bäumchen fest, dass sein Arm nach hinten gedreht wurde, ist zum einen zu bedenken, dass es sich beim Halten und Loslassen um eine grundsätzlich willensgesteuerte Tätigkeit handelt – von abruptem Hängen am rechten Arm im Sinne des Beispiels unter Erwägung 4.2.2 kann jedenfalls nicht gesprochen werden –, die dem Versicherten nicht «unverhofft widerfahren» konnte. Zum andern stellt das Halten des ausgestreckten Arms nach hinten, gerade bei etwas nach vorn geneigter, somit leicht gebückter Haltung, keine mehr als physiologisch normale und psychologisch beherrschte Beanspruchung des Körpers dar. Die erwähnte Körperbewegung mit dem nach hinten gestreckten Arm ist sodann auch nicht typisch für das Snowboarden, könnte sich eine ähnliche Situation doch auch beim Radfahren oder gar beim Wandern einstellen. Dass es bei dieser blossen und alltäglichen Bewegung mit dem ausgestreckten Arm zu einer neuerlichen Luxation der bereits zweifach vorgeschädigten Schulter kam, kann somit nicht überwiegend wahrscheinlich einem sinnfälligen Ereignis zugerechnet werden, sondern ist wohl vielmehr im Zusammenhang mit der Vorschädigung bzw. einem degenerativen Geschehen zu sehen. (...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. Juni 2012 S 2012 24

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