Navigieren auf Kanton Zug

Gerichtspraxis

Rechtspflege

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht

Staats- und Verwaltungsrecht

Strafrecht

Zivilrecht

Familienrecht

Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
Art. 176 Abs. 3 ZGB, Art. 6 Abs. 1 EMRK
Art. 276 ZPO

Art. 276 ZPO, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV

Regeste:

Art. 276 ZPO, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV – Wird einer Partei die Eingabe der Gegenpartei zur Kenntnisnahme zugestellt, ist mit der Entscheidfällung zuzuwarten, bis angenommen werden darf, der Adressat habe auf eine weitere Eingabe verzichtet, damit das Äusserungsrecht als Teilgehalt des rechtlichen Gehörs nicht beschnitten wird (E. 2.3.2 f.). Die Kostenvorschusspflicht setzt unter anderem die Bedürftigkeit des ansprechenden Ehegatten voraus. Konnte dieser unbestritten zur Finanzierung einer Eigentumswohnung bei einer Bank eine Hypothek von CHF 800 000.– aufnehmen, setzt die Tragbarkeit der Hypothek entsprechende finanzielle Mittel voraus. Mithin ist nicht glaubhaft, dass der ansprechende Ehegatte bedürftig ist (E. 3). Hat eine Partei ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, so darf sie nicht vorbehaltslos zur Leistung eines  Prozesskostenvorschusses verpflichtet werden, wenn über das Gesuch noch nicht befunden worden ist (E. 4).

Aus den Erwägungen:

(...)

2. Die Gesuchstellerin verlangt vom Gesuchsgegner die Bezahlung eines Prozesskostenvorschusses von CHF 39 000.–, falls er die ausstehenden Unterhaltsbeiträge nicht begleicht. Sollte die offene Unterhaltsforderung hingegen nun bezahlt werden, würde sie die Berufung im materiellen Teil zurückziehen (act. 1 S. 5).

2.1 Die Kostenvorschusspflicht geht als Ausfluss der ehelichen Solidarität der staatlichen Fürsorge vor. Deshalb hat ein bedürftiger Ehegatte keinen Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung, soweit der andere Gatte leistungsfähig ist (Isenring / Kessler, in: Basler Kommentar ZGB I, 5. A, 2014, Art. 163 N 17 mit weiteren Hinweisen). Voraussetzung für die Zusprechung eines solchen Vorschusses ist in erster Linie, dass die Sache nicht aussichtslos ist. Im Weiteren setzt sie einerseits die Bedürftigkeit des ansprechenden und andererseits die Leistungsfähigkeit des angesprochenen Ehegatten voraus (Bräm / Hasenböhler, Zürcher Kommentar, 3. A., Zürich 1998, Art. 159 ZGB N 135). Die Beistandsbedürftigkeit ist gegeben, wenn der Ansprecher ohne Beeinträchtigung des angemessenen Lebensunterhalts nicht über eigene Mittel rechtlich oder tatsächlich und binnen nützlicher Frist verfügen kann, die für die gehörige Prozessführung erforderlich sind. Solange ein Ehegatte den Prozess aus eigenen Mitteln finanzieren kann, ohne bedürftig zu werden, bedarf es keines Vorschusses, selbst wenn der andere Teil zu dessen Leistung in der Lage wäre oder sogar wirtschaftlich besser gestellt ist (vgl. Bühler/Spühler, Berner Kommentar, 1980, Art. 145 aZGB N 268 f. und 273).

2.2 Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass das Scheidungsverfahren (A1 2010 116), auf welches sich das Gesuch um Leistung eines Prozesskostenvorschusses bezieht, nicht aussichtslos ist.

2.3 Die Vorinstanz erwog in Bezug auf die Bedürftigkeit, die Gesuchstellerin habe aus rückständigen Unterhaltszahlungen für die Zeit von Mai 2013 bis September 2014 gestützt auf den Entscheid vom 8. September 2014 noch einen Betrag von CHF 58 480.– bzw. CHF 61 880.– (für den Sohn CHF 3 400.– bzw. CHF 6 800.– [je nachdem, ob die Kinderzulagen bisher geleistet worden seien] und CHF 55 080.– für sie persönlich) zugute. Dieser Betrag liege weit über den Kostenvorschüssen für die Gutachten. Nach der Tilgung der zur Bestreitung des Lebensunterhaltes in der Zeit von Mai 2013 bis Ende September 2014 angehäuften Schulden von CHF 22 661.– (monatliche Verschuldung CHF 1 333.– während 17 Monaten), verbleibe ihr immer noch ein Betrag von mindestens CHF 35 819.–. Damit sei die Gesuchstellerin in der Lage, den grössten Teil der Vorschüsse zu begleichen. Den Restbetrag von CHF 3 181.– könne sie mit vier monatlichen Raten von CHF 700.– und einer Rate von CHF 381.– tilgen.

2.3.1 Die Gesuchstellerin stellt ihren Anspruch auf Unterhaltszahlungen in der Höhe von über CHF 60 000.– nicht in Abrede. Sie wendet aber ein, weil der Gesuchsgegner seiner Verpflichtung trotz Betreibung bislang nicht nachgekommen sei, könne sie die Kostenvorschüsse für die Erstellung der Gutachten nicht bezahlen. Der Gesuchsgegner handle krass gegen Treu und Glauben, wenn er einerseits in der Stellungnahme vom 9. März 2015 ausführe, er müsse Unterhaltsbeiträge von rund CHF 60 000.– bezahlen, was die Gutachterkosten bei Weitem übersteige, andererseits diesen Betrag aber treuwidrig nicht bezahle. Indem die Vorinstanz ihr die Stellungnahme des Gesuchsgegners erst mit dem angefochtenen Entscheid zugestellt habe, sei ihr das rechtliche Gehör verwehrt worden.

2.3.2 Als Teilgehalt des rechtlichen Gehörs haben die Parteien Anspruch darauf, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu replizieren (Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV). Dementsprechend ist es den Gerichten verboten, einer Partei das Äusserungsrecht zu eingegangenen Stellungnahmen bzw. Vernehmlassungen der übrigen Verfahrensparteien, unterer Instanzen und weiterer Stellen abzuschneiden. Die Partei ist vom Gericht nicht nur über den Eingang dieser Eingaben zu orientieren; sie muss ausserdem die Möglichkeit zur Replik haben. Wird einer Partei eine Eingabe zur Kenntnisnahme zugestellt und möchte sie nochmals zur Sache Stellung nehmen, so hat sie dies nach Treu und Glauben umgehend zu tun. In der Regel ist mit der Entscheidfällung zuzuwarten, bis angenommen werden darf, der Adressat habe auf eine weitere Eingabe verzichtet (BGE 133 I 98 E. 2.1 S. 99; Urteil des Bundesgerichts 5A_370/2009 vom 4. August 2009 E. 4.3).

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist grundsätzlich formeller Natur. Stellt die Rechtsmittelinstanz eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs durch die Vorinstanz fest, so leidet der Entscheid an einem schweren Mangel und ist aufgrund der sogenannten formellen Natur des Gehörsanspruchs aufzuheben, unabhängig davon, ob das Urteil ohne die Verletzung anders ausgefallen wäre. Eine Heilung ist immerhin zulässig, wenn die Gehörsverletzung nicht gravierend ist und die Rechtsmittelinstanz die gleiche Kognition in Tat- und Rechtsfragen hat wie die Vorinstanz (Sutter-Somm/Chevalier in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur ZPO, 2. A., Zürich/Basel/Genf 2013, Art. 53 N 26 f. mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung).

2.3.3 Das Gesuch um Leistung eines Prozesskostenvorschusses hat die Gesuchstellerin am 24. September 2014 bei der Vorinstanz eingereicht. In diesem Zeitpunkt waren die gegen den Entscheid vom 8. September 2014 von den Parteien eingeleiteten Berufungsverfahren noch hängig (Z2 2014 45/46). Da der Berufung des Gesuchsgegners in dem Sinne aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, dass die im Entscheid vom 8. September 2014 verfügten Unterhaltsbeiträge einstweilen ab 1. Oktober 2014 galten, bestand für die Unterhaltsbeiträge von Mai 2013 bis September 2014 in der Höhe von über CHF 60 000.– (inkl. Kinderzulagen) erst nach der Abweisung der Berufungen durch das Obergericht am 14. Januar 2015 ein vollstreckbarer Titel. Dieses Urteil wurde seitens des Gesuchsgegners nicht mehr angefochten. Damit hat sich die Ausgangslage im Hinblick auf das Verfahren um Leistung eines Prozesskostenvorschusses geändert. Der Gesuchsgegner stellte in seiner Vernehmlassung vom 9. März 2015 die Bedürftigkeit der Gesuchstellerin unter anderem aufgrund der ihr nun zustehenden Unterhaltsbeiträge in Abrede. Eine Zustellung der Gesuchantwort vor Erlass des angefochtenen Entscheides hätte sich aufgedrängt, um der Gesuchstellerin die Einreichung einer Replik zu ermöglichen, falls sie dies als notwendig erachtet hätte. Indem die Vorinstanz dies unterlassen hat, wurde der Gehörsanspruch der Gesuchstellerin verletzt. Ob die Verletzung des rechtlichen Gehörs im Rechtsmittelverfahren geheilt werden kann, braucht gestützt auf die nachstehenden Erwägungen aber nicht abschliessend geklärt zu werden.

3. Der Gesuchsgegner moniert, die Vorinstanz habe den Umstand, dass die Gesuchstellerin zwischenzeitlich mit Eigenmitteln von CHF 400 000.– eine Eigentumswohnung zum Preis von rund CHF 1.2 Mio. erworben habe, nicht beachtet. Die Gesuchstellerin habe es bis heute unterlassen, die Belege betreffend die Finanzierung der Wohnung einzureichen. Insbesondere sei von Interesse, wie das finanzierende Institut die Tragbarkeit der Hypothek über CHF 800 000.– berechnet habe. Um eine Hypothek in dieser Höhe finanzieren zu können, müsse die Gesuchstellerin über ein Einkommen von rund CHF 150 000.– verfügen. Es sei somit mehr als glaubhaft gemacht, dass die Gesuchstellerin über unbelegte Einnahmequellen und Geldmittel verfügen müsse, ansonsten ihr die Finanzierung der Wohnung nicht gewährt worden wäre. Bei einem Einkommen von CHF 150 000.– sei die Gesuchstellerin ohne Weiteres in der Lage, die bei ihr erhobenen Vorschüsse zu bezahlen (act. 5).

3.1 Der Gesuchsgegner hat bereits in seiner Stellungnahme im erstinstanzlichen Verfahren die Bedürftigkeit der Gesuchstellerin insbesondere unter Verweis auf den Erwerb einer Eigentumswohnung zum Preis von CHF 1.2 Mio. in Abrede gestellt. Da die Vorinstanz ihren Entscheid einzig mit dem Unterhaltsanspruch der Gesuchstellerin begründete, brauchte die Gesuchstellerin in ihrer Berufung zwar grundsätzlich nicht zwingend substanziiert auf diese Vorbringen des Gesuchsgegners einzugehen. Nachdem der Gesuchsgegner aber in der Stellungnahme zur Berufung – welche der Gesuchstellerin am 29. Juni 2015 zur Kenntnisnahme zugestellt wurde – erneut vor allem den Erwerb der Eigentumswohnung ins Feld führte, um die Bedürftigkeit der Gesuchstellerin zu verneinen, hätte für die Gesuchstellerin Anlass bestanden, spätestens in diesem Zeitpunkt zu den Ausführungen des Gesuchsgegners substanziiert Stellung zu nehmen. In ihrer Berufung stellte sie lediglich in Abrede, dass ihr liquide Mittel zur Verfügung stünden und sie die Hypothek aufstocken könne. Sie habe gegenüber der Bank kein Einkommen von CHF 150 000.– deklarieren müssen (act. 1 S. 6). Es ist indes notorisch, dass Finanzinstitute bei der Prüfung der Tragbarkeit in der Regel von einem Hypothekarzins von 5 % sowie Nebenkosten von 1 % des Verkehrswertes ausgehen, wobei dieser Betrag nicht mehr als rund einem Drittel des Einkommens entsprechen soll (vgl. Websites diverser Banken und der Basler Versicherungen). Wie der Gesuchsgegner richtig festhält, ergäbe dies vorliegend ein notwendiges Jahreseinkommen von rund CHF 150 000.–. Vor diesem Hintergrund reicht es für eine substanziierte Bestreitung nicht aus, wenn die Gesuchstellerin die Deklaration eines Einkommens von CHF 150 000.– in allgemeiner Weise in Abrede stellt, ohne aber nachvollziehbar darzutun, wie sie den Kaufpreis von CHF 1.2 Mio. konkret hat aufbringen und wie sie insbesondere das finanzierende Institut von der Tragbarkeit einer Hypothek von CHF 800 000.– hat überzeugen können. Da sie dies auch nach Zustellung der Berufungsantwort weiterhin unterlässt, muss Verzicht auf eine weitere Stellungnahme zu den Vorbringen des Gesuchsgegners angenommen werden (Urteil des Bundesgerichts 4A_747/2012 vom 5. April 2013 E. 3.3). Mithin wurden die Vorbringen des Gesuchsgegners in der Berufungsantwort nicht substanziiert bestritten, wonach die Gesuchstellerin über ein jährliches Einkommen von CHF 150 000.– verfügen müsse, da andernfalls kein Finanzinstitut die Tragbarkeit der Hypothek von CHF 800 000.– bejaht hätte. Dementsprechend gelingt der Gesuchstellerin die Glaubhaftmachung ihrer Bedürftigkeit nicht.

(...)

4. Die Gesuchstellerin stellt – wie bereits im erstinstanzlichen Verfahren – erneut den Antrag, die Frist zur Bezahlung des Kostenvorschusses gemäss Beschluss vom 2. Juli 2014 sei bis zum rechtskräftigen Entscheid über das Gesuch um Leistung eines Prozesskostenvorschusses bzw. bis zum rechtskräftigen Entscheid über das Gesuch betreffend unentgeltliche Rechtspflege abzunehmen.

Die Vorinstanz führt diesbezüglich zwar zutreffend aus, dass der Kostenvorschuss der Gesuchstellerin erst nach Einreichung des Gesuchs um Gewährung der unentgeltlichen Rechtpflege auferlegt worden sei, weshalb sie bei Gutheissung des Gesuchs von der Vorschusspflicht befreit wäre. Bei rechtskräftiger Abweisung des Antrages auf Prozesskostenvorschuss müsse deshalb zuerst das Verfahren betreffend unentgeltliche Rechtspflege erledigt werden, bevor die Folgen von Art. 102 Abs. 3 ZPO eintreten würden. Sie zieht daraus indes den falschen Schluss, dass sich eine Fristabnahme bzw. -erstreckung erübrige (Vi-act. 4 Erw. Ziff. 9). Da das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege bereits lange vor dem Beschluss vom 2. Juli 2014 anhängig gemacht wurde, hätte die Gesuchstellerin vor Erledigung des hängigen Verfahrens betreffend unentgeltliche Rechtspflege nicht vorbehaltslos zur Bezahlung eines Kostenvorschusses verpflichtet werden dürfen (Art. 118 Abs. 1 lit. a ZPO). Dementsprechend ist die angesetzte Frist zur Leistung der Beweiskostenvorschüsse antragsgemäss abzunehmen. Sie ist gegebenenfalls nach dem Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege vom Scheidungsrichter neu anzusetzen.

(...)

Obergericht, II. Zivilabteilung, 19. August 2015

Weitere Informationen

Fusszeile

Deutsch