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Art. 20a Abs. 5 VRV, Art. 8 Abs. 1 BV

Regeste:

Art. 20a Abs. 5 VRV – Personen, die infolge geistiger Beeinträchtigungen ganz allgemein der Begleitung bzw. des Schutzes bedürfen, fallen nicht unter den Begriff der «Gehbehinderung» der Verkehrsregelnverordnung (VRV). Solche Personen haben keinen Anspruch auf eine « Parkkarte für gehbehinderte Personen» (Erw. 4e).

Art. 8 Abs. 1 BV – Eine wörtliche Auslegung von Art. 20a Abs. 5 VRV hält vor dem Gleichheitsgebot der Verfassung stand (Erw. 5c). Keine Parkkartenberechtigung für zwei autistische Kinder, die ständiger Begleitung bedürfen, aber in der Lage sind, deutlich mehr als 200 m zu gehen (Erw. 5e).

Aus dem Sachverhalt:

Am 14. Oktober 2016 widerrief das Strassenverkehrsamt eine am 9. August 2016 erfolgte Zuteilung von zwei Parkkarten an C.N. Dieser hatte am 20. Juli 2016 zwei Parkkarten für Gehbehinderte aufgrund der autistischen Erkrankung seiner beiden Kinder A.N., geboren am 1. Oktober 2011, und B.N., geboren am 16. November 2012, beantragt. Zur Begründung des Widerrufs gab das Strassenverkehrsamt an, man habe nach eingehenden internen und externen Abklärungen festgestellt, dass die beiden Kinder nicht gehbehindert seien.

Mit Eingabe vom 31. Oktober 2016 erhob C.N. dagegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragte unter anderem sinngemäss, die Verfügung sei aufzuheben, unter Kosten- und Entschädigungsfolge zulasten des Strassenverkehrsamtes des Kantons Zug. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, das Strassenverkehrsamt habe diverse medizinische Atteste, welche die Mobilitätseinschränkung seiner Kinder bestätigt hätten, zurückgewiesen und den Vertrauensarzt Dr. med. B. dazu gebracht, seine Bestätigung zu widerrufen. Der Vertreter des Strassenverkehrsamtes und dessen «externes Team» hätten sich über die Gutachten der Ärzte hinweggesetzt und an deren Stelle entschieden.

Aus den Erwägungen:

(...)

3. (...)

c) Strittig und zu prüfen ist, ob die Symptome des bei zwei Kindern des Beschwerdeführers diagnostizierten frühkindlichen Autismus den Beschwerdeführer zu einer Parkkarte für Gehbehinderte berechtigen oder nicht.

4. a) Gemäss Art. 20a Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV, SR 741.11) können gehbehinderte Personen und Personen, die sie transportieren, gewisse Parkierungserleichterungen in Anspruch nehmen, sofern sie über eine «Parkkarte für gehbehinderte Personen» verfügen. Eine Parkkarte wird ausgestellt für Personen, die mittels ärztlichen Zeugnisses eine erhebliche Gehbehinderung nachweisen, und für Halter von Fahrzeugen, die nachweislich für den häufigen Transport von erheblich gehbehinderten Personen eingesetzt werden (Art. 20a Abs. 5 VRV). Die Parkkarte wird durch die kantonale Behörde erteilt (Art. 20a Abs. 5 VRV). Zu den beanspruchbaren Parkierungserleichterungen zählen unter anderem das zeitlich begrenzte Parkieren an Stellen, die mit einem Parkverbot markiert sind (Art. 20a Abs. 1 lit. a VRV), das unbeschränkte Parkieren auf Parkplätzen (Art. 20a Abs. 1 lit. b VRV) und das Parkieren in Begegnungszonen (Art. 20a Abs. 1 lit. c VRV). Die Bestimmung ist als gesetzliche Massnahme nach Art. 8 Abs. 4 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV, SR 101) anzusehen, welche die tatsächliche Gleichstellung gehbehinderter Personen zu fördern bezweckt (vgl. SCHEFER/HESS-KLEIN, a.a.O., S. 523).

b) Der Begriff «erhebliche Gehbehinderung» wird im Bundesrecht nicht definiert. Gemäss einem von der asa Vereinigung der Strassenverkehrsämter herausgegebenen Merkblatt «Parkierungserleichterungen für gehbehinderte Personen» wie auch den soweit ersichtlich wortgleichen «Richtlinien Parkierungserleichterungen gehbehinderte Personen» der Interkantonalen Kommission für den Strassenverkehr IKST (nachfolgend: Merkblätter) äussert sich die erhebliche Gehbehinderung darin, dass «der gehbehinderten Person dauernd oder vorübergehend während mindestens 6 Monaten eine Fortbewegung zu Fuss nur bis ca. 200 m, bzw. mit besonderen Hilfsmitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson möglich ist». Es handle sich hierbei um Gehbehinderungen, deren Ursache einerseits im Bewegungsapparat der Beine (direkte Gehbehinderung) und andererseits im Atem- und Kreislaufsystem (indirekte Gehbehinderung) liegen könne. Laut den Merkblättern kann die Behörde zusätzlich ein ärztliches Zeugnis eines Vertrauensarztes verlangen.

Nach allgemeinem Verständnis heisst gehbehindert eine Einschränkung in der Gehfähigkeit. Als Synonym für Gehbehinderung gilt allgemein etwa Lahmheit. Auch die bezüglichen, international gebräuchlichen Piktogramme zeigen Rollstuhlfahrer oder Personen mit einem Stock (vgl. das gemäss den Anhängen 2 Ziff. 5 und 3 Ziff. 2 zur Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 [SSV, SR 741.21], auf der Parkkarte für behinderte Personen abgebildete, in Anhang 4 Ziff. 2 der Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge vom 19. Juni 1995 [VTS, SR 741.41] aufgeführte Zeichen für Fahrzeuge von Gehbehinderten). Anspruch soll offensichtlich eine Person haben, die sich wegen der Schwere ihrer Gehbehinderung dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit grosser Anstrengung ausserhalb eines Fahrzeuges bewegen kann. Eine «direkte Gehbehinderung» kann z.B. die Folge einer Gelenkarthrose sein. Ausserhalb des Bewegungsapparates liegende Faktoren, die im Ergebnis eine – mittelbare bzw. «indirekte» – Gehbehinderung bewirken, können ihre Ursache im Atem- und Kreislaufsystem haben. Zu denken ist etwa an Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz oder Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkungen der Lungenfunktion.

c) Der Beschwerdegegner stützt sich zur Begründung des Entzugs der Parkkarten im Wesentlichen auf die zitierten Richtlinien der IKST und führt aus, im Vordergrund stehe immer die Gehbehinderung und somit eine Einschränkung im Bewegungsapparat. Personen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, deren Bewegungsapparat das Gehen nicht einschränke, seien weder direkt noch indirekt gehbehindert; dies auch dann nicht, wenn eine Begleitperson oder weitere Hilfsmittel notwendig seien. Diese klare Definitionsabgrenzung sei bewusst gewählt worden, weil die Anzahl Gehbehindertenparkkarten aus verkehrs- und verkehrssicherheitstechnischen Gründen klein bleiben müsse. Zur Wahrung der Rechtsgleichheit und der Gleichbehandlung dürfe der Beschwerdegegner nicht auf die bedauerliche Situation der Familie N. Rücksicht nehmen. Intensive Abklärungen hätten überdies ergeben, dass das Gehen und somit die Überwindung von Distanzen zu Fuss für die Kinder in der Entwicklung nur förderlich sein könne. Wenn der Beschwerdeführer annehme, seine Kinder hätten deshalb Anspruch auf eine Parkkarte für Gehbehinderte, weil sie nicht in der Lage seien, Gehstrecken selbständig und ohne Hilfe zurückzulegen und ständig auf Begleitung angewesen seien, so gehe seine Argumentation fehl. Wenn man dieser folge, hätten alle Babys und Kleinkinder einen entsprechenden Anspruch. Auch würde diese Voraussetzung auf eine Vielzahl anderer Behinderter zutreffen wie Taubblinde oder Sehbehinderte. Eine derartige Auslegung würde aber zu einer massiven Ausweitung der anspruchsberechtigten Personen führen und wäre deshalb aus verkehrs- und verkehrssicherheitstechnischen Gründen problematisch. Sie würde überdies den Richtlinien der IKST und der Praxis der kantonalen Strassenverkehrsämter widersprechen.

d) Die Kinder des Beschwerdeführers leiden unter frühkindlichem Autismus. Dieser stellt gemäss Wikipedia eine zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnete psychische Erkrankung dar. Die Symptome treten in der Regel vor dem dritten Lebensjahr auf und zeigen sich in drei Bereichen. Erstens in Problemen im sozialen Umgang, zweitens durch Auffälligkeiten bei der sprachlichen und nonverbalen Kommunikation. Drittens kommen eingeschränkte, stereotype und sich wiederholende Verhaltensweisen und Interessen dazu. Autismus gilt als angeboren und nicht heilbar. Aufgrund der Behinderung durch Autismus benötigen die meisten Autisten eine lebenslange Hilfe und Unterstützung. Autismus ist unabhängig von der Intelligenzentwicklung, jedoch gehört Intelligenzminderung zu den häufigen Mehrfachbehinderungen bei Autisten.

Der Beschwerdeführer bringt zur Situation seiner Kinder vor, diese würden sich ohne Begleitung überhaupt nicht zu Fuss fortbewegen, könnten ohne Hilfe weder ins Auto ein- noch aussteigen, tendierten dazu «durchzubrennen» und könnten keine Gefahren erkennen. Seine Tochter sei ausserdem sehbehindert. Die behandelnden Ärzte Dres. med. F. und G. vom Kinderspital Luzern führten im Attest vom 15. Juli 2016 dazu aus, die Kinder seien nicht in der Lage, Gehstrecken selbständig und ohne Hilfe zurückzulegen, und seien auf ständige Begleitung angewiesen (...). Eine ähnliche Bestätigung stellte am 4. August 2016 auch Dr. med. B. aus (...), wobei der spätere «Widerruf» – wie im Schreiben vom 13. September 2016 festgehalten – auf einer mutmasslich fehlerhaften Regelauslegung beruhte, nicht jedoch auf einer medizinischen Fehleinschätzung. Doktor med. Regula C. führte am 31. Oktober 2016 ausserdem aus, die beiden Kinder des Beschwerdeführers könnten nicht selbständig Wegstrecken zurücklegen, sich im Verkehr orientieren oder Gefahren richtig einschätzen. Sie müssten ständig angeführt oder begleitet werden; auch seien sie nicht in der Lage, kleinere Anweisungen zu interpretieren und würden sie in der Folge nicht ausführen (...).

e) Die unter frühkindlichem Autismus leidenden Kinder des Beschwerdeführers sind nach den Aussagen der Ärzte offensichtlich weder mit Einschränkungen im Bewegungsapparat noch im Atem- und Kreislaufsystem konfrontiert und können sich ohne Hilfsmittel und Hilfspersonen über 200 m weit bewegen. Sie sind also nicht direkt oder indirekt physisch behindert in der eigentlichen Fortbewegung auf ihren eigenen Füssen, sondern sie bedürfen für das Gehen lediglich der Anleitung, Begleitung, Kontrolle, d.h. des Schutzes. Sie sind aufgrund ihres frühkindlichen Autismus nicht in der Lage, alleine, d.h. selbstbestimmt und selbstverantwortlich, oder auch nur auf Anweisung eine kürzere oder längere Strecke von A nach B zurückzulegen, bzw. wären sie als Fussgänger auf sich allein gestellt im Strassenverkehr grösster Gefahr ausgesetzt. Damit sind sie offensichtlich in ihrer Bewegungsfreiheit bzw. in ihrem sozialen Verhalten in der Öffentlichkeit eingeschränkt, nicht aber in ihrer Fortbewegung. Sie sind beim sowohl motorisch als auch bezüglich Atmen und Kreislauf problemlos möglichen Gehen einzig zu ihrem Schutz auf Kontrolle und Begleitung angewiesen, nicht aber im Sinne des Wortes «gehbehindert». Vom Wortlaut der Verordnungsbestimmung her ist also festzustellen, dass die Kinder des Beschwerdeführers sich ohne weiteres auf eigenen Füssen bewegen können und lediglich in der Öffentlichkeit ständig begleitet werden müssen. Personen, die infolge geistiger Beeinträchtigungen ganz allgemein der Begleitung bzw. des Schutzes bedürfen, fallen klarerweise nicht unter den Begriff der «Gehbehinderung». Ihr Schutzbedürfnis geht vielmehr weit über die Notwendigkeit der Begleitung im Gehen hinaus.

5. a) Zu prüfen bleibt, ob sich die Praxis und die sich darauf beziehenden Merkblätter aller kantonalen Strassenverkehrsämter zu Recht auf diese wörtliche Auslegung der Verordnungsbestimmung von Art. 20a Abs. 5 VRV abstützen. Diese äussert sich nicht zu den möglichen Ursachen der zur Erlangung der Parkkarte vorausgesetzten Gehbehinderung. Soweit ersichtlich wird in der Literatur zum Strassenverkehrsrecht und dem Behindertengleichstellungsgesetz nirgends die Forderung nach einer darüber hinausgreifenden Auslegung der Verordnungsbestimmung erhoben.

b) Beachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei den erwähnten Merkblättern nur, aber immerhin, um eine Hilfe zur einheitlichen Anwendung des Strassenverkehrsrechts in der Schweiz handelt. Die Merkblätter stellen weder Rechts- oder Verwaltungsverordnungen noch Gesetze im formellen Sinne dar, zumal weder der asa noch der IKST irgendwelche Rechtssetzungskompetenzen zukommen. Während die Merkblätter also durchaus einen wertvollen Beitrag zur Konkretisierung des Bundesrechts und der Gewährleistung einer einheitlichen Praxis der Strassenverkehrsämter leisten und auch das Verwaltungsgericht nicht ohne Not in die Praxis der rechtsanwendenden Behörden eingreifen soll, so ist das Gericht letztlich nicht an die in den Merkblättern festgelegten Definitionen gebunden. Vielmehr hat es entsprechend der bundesgerichtlichen Praxis die jeweilige Norm in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen, wobei es an einen klaren und unzweideutigen Wortlaut in der Regel gebunden ist, und berücksichtigt ferner alle herkömmlichen Auslegungselemente, wobei es einen pragmatischen Methodenpluralismus zu befolgen hat (BGE 131 III 314 E. 2.2; 124 III 266 E. 4; 127 III 318 E. 2b). Obschon keine Hierarchie der Auslegungselemente besteht, ist bei der Auslegung von Verwaltungsnormen die Frage nach dem Sinn und Zweck einer Norm (teleologische Auslegung), gegebenenfalls in Kombination mit einer geltungszeitlichen bzw. (bei jüngeren Normen) historischen Auslegung, besonders bedeutsam (TSCHANNEN / ZIMMERLI / MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Bern 2014, § 25 Rz. 5). Kommen die anerkannten Auslegungsmethoden zu unterschiedlichen Deutungen einer Norm, ist jenes Ergebnis zu wählen, welches der Verfassung am besten entspricht (BGE 138 II 217 E. 4.1).

c) Im Vordergrund für die weitere Auslegung steht Art. 8 Abs. 1 BV, gemäss dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Der allgemeine Gleichheitssatz bindet sowohl die rechtssetzenden als auch die rechtsanwendenden Behörden und wirkt in zwei Richtungen: Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln (Gleichheitsgebot), Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich (Differenzierungsgebot) (KIENER/ KÄLIN, Grundrechte, 2. Aufl., Bern 2013, S. 414). Rechtsanwender wie die Verwaltungsbehörden und die Gerichte haben die Berechtigten in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Verhältnissen zu behandeln: Personen, die sich in unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnissen befinden, sind unterschiedlich zu behandeln, während zwischen Personen, die sich in der gleichen Lage befinden, auf Differenzierungen zu verzichten ist (KIENER/KÄLIN, a.a.O., S. 414). Aus den vorstehenden Grundsätzen folgt, dass Personen mit Behinderungen unterschiedlicher Ursache von den rechtsanwendenden Behörden insofern gleich zu behandeln sind, als sich ihre Behinderungen gleich auswirken.

Es ist gerichtsnotorisch, dass gesunde Kinder im Alter der Tochter des Beschwerdeführers, welche im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung gerade fünf Jahre alt geworden war, normalerweise insofern bereits über eine gewisse geistige Reife und Selbständigkeit verfügen, als sie ihnen bekannte, autofreie Strecken bis ca. 200 m alleine zurücklegen können. Auch jüngere Kinder im Alter des Sohnes des Beschwerdeführers (der im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung knapp vier Jahre alt war) sind bei normaler Entwicklung immerhin in der Lage, offensichtliche Gefahrenherde wie fahrende Autos zu erkennen und einfache Anweisungen ihrer Begleitperson zu verstehen und ihnen Folge zu leisten. So ist ein gesundes vierjähriges Kind im Allgemeinen in der Lage, auf Anweisung neben dem Fahrzeug zu warten und im Beisein eines Erwachsenen längere Strecken zu Fuss zu gehen, ohne dabei ständig an der Hand gehalten zu werden.

Wie die Ärzte sowohl schriftlich als auch per Telefon aktenkundig ausgeführt haben, verfügen demgegenüber A.N. und B.N. über keine der vorgenannten Fähigkeiten. Insbesondere sind sie nach Aussage von Dr. med. C. nicht in der Lage, auch einfachste Anweisungen zu verstehen, geschweige denn zu befolgen, und können sich nicht einmal annähernd selbständig fortbewegen oder unbegleitet still stehen, da ihnen jedes Gefahrbewusstsein zu fehlen scheint. Zwischen dem Fortbewegungsverhalten gesunder Vier- bzw. Fünfjähriger und demjenigen von A.N. und B.N. bestehen damit zweifellos erhebliche Unterschiede. Die Kinder des Beschwerdeführers benötigen aufgrund ihrer Erkrankung bei der Fortbewegung zu Fuss weit mehr Unterstützung, als es bei gesunden Kindern im gleichen Alter der Fall wäre, und sind damit insgesamt bei der Fortbewegung gegenüber gleichaltrigen Kindern erheblich eingeschränkt. Hinzu kommt, dass nach der Feststellung von Dr. med. C. mit zunehmendem Alter damit zu rechnen sei, dass sich die Unterschiede zwischen dem Verhalten der Kinder des Beschwerdeführers und jenem gesunder Gleichaltriger vergrössern (und sich die Behinderung insofern noch akzentuieren) würden.

Gestützt darauf könnte im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes ungeachtet unterschiedlicher Ursachen, aber in Berücksichtigung der (teilweise) identischen Folgen trotz der fehlenden Beeinträchtigung des Bewegungsapparates argumentiert werden, dass die dargelegten, durch Autismus verursachten Beeinträchtigungen im Ergebnis ebenfalls insofern eine – indirekte – Gehbehinderung darstellen, als die – unbegleitete – Fortbewegung zu Fuss beeinträchtigt sei. Die in den Merkblättern gewählte Umschreibung der «indirekten Gehbehinderung» – «[h]ierbei handelt es sich um Gehbehinderungen deren Ursache im Bewegungsapparat der Beine (direkte Gehbehinderung) wie auch im Atem- und Kreislaufsystem (indirekte Gehbehinderung) liegen können» – geht davon aus, dass einzig Beeinträchtigungen, deren Ursache im Atem- oder Kreislaufsystem liegt, als «indirekte Gehbehinderungen» zu qualifizieren sind. Während – physische – Beeinträchtigungen des Atem- und Kreislaufsystems selbstverständlich geeignet sind, Betroffene bei der Fortbewegung zu Fuss zu behindern, so können an sich solche psychischer bzw. geistiger Natur im Ergebnis ebenfalls eine «indirekte Gehbehinderung» verursachen. Konsequenterweise würde sich dann aber auch die Frage stellen, ob Personengruppen, welche sich altersbedingt aufgrund ihrer mangelnden geistigen Reife ohnehin nicht bzw. nicht ohne Hilfsmittel bzw. Hilfspersonen fortbewegen können (Babys und Kleinkinder), ebenfalls indirekt als gehbehindert zu betrachten wären. Um dies auszuschliessen, müsste die Umschreibung der Gehbehinderung dahingehend interpretiert werden, als die Beeinträchtigung der Fortbewegung zu Fuss eine erhebliche Schlechterstellung gegenüber jener Situation bedeuten muss, in welcher sich die betroffene Person bei voller Gesundheit bzw. nach ihrem normalen physischen und psychischen Entwicklungsstand befände. Es zeigen sich also schwierige Abgrenzungsfragen, auf welche der Beschwerdegegner zu Recht hingewiesen hat.

Nach Überzeugung des Gerichts wird dadurch, dass einzig – direkte oder indirekte – physische Beeinträchtigungen als Grund für Gehbehinderungen anerkannt werden, keine Unterscheidung getroffen, die den Gleichheitssatz verletzen würde. Vielmehr wird die umstrittene Differenzierung den tatsächlich klar unterscheidbaren Verhältnissen zwischen physisch – direkt oder indirekt – «gehbehinderten» Personen und Personen wie den Kindern des Beschwerdeführers gerecht, die sich problemlos bewegen können, dabei aber beaufsichtigt bzw. begleitet werden müssen. Es handelt sich dabei um zwei grundlegend verschiedene Ursachen bzw. Umstände, die eine unterschiedliche Betrachtung rechtfertigen.

d) Was die teleologische Auslegung betrifft, so zielt die umstrittene Vorschrift von Art. 20a Abs. 5 VRV zweifellos darauf ab, Personen Parkierungserleichterungen zu gewähren, die aus physischen Gründen schon mittlere Strecken – die Praxis spricht von 200 m – nicht selber oder nur in Begleitung zurückzulegen fähig sind. Denn nur diese Personen bedürfen der zusätzlichen Erleichterung spezieller Parkierungsmöglichkeiten, um sich in der Gesellschaft gleich wie andere bewegen zu können. Von diesem Zweck nicht direkt erfasst werden aber Fälle, in denen Personen lediglich zu ihrem Schutz bzw. zu ihrer Anleitung der Begleitung bedürfen. Diese können offensichtlich selber gehen, müssen aber – und dies letztlich generell in ihrem Alltag, also nicht nur auf der Strasse, sondern z.B. auch in einem öffentlichen Verkehrsmittel – stets begleitet und beschützt werden. So wie Eltern ihre Kleinkinder begleiten müssen, kann auch von den Eltern und Betreuern von geistig behinderten Kindern erwartet werden, dass sie ihre Schützlinge im Alltag ohne die zusätzliche Erleichterung durch Parkierungsvorrechte betreuen und begleiten, also z.B. allgemeine private und öffentliche Parkierungsmöglichkeiten nutzen.

e) Weitere Auslegungsmethoden erscheinen vorliegend nicht sachgerecht. Entscheidend erscheint dem Gericht eine vom Wortlaut ausgehende Auslegung von Art. 20a Abs. 5 VRV und die Tatsache, dass gestützt auf die Abklärungen des Kantonsarztes klar feststeht, dass bei beiden Kindern des Beschwerdeführers das «Gehen» motorisch und vom Kreislauf her kein Problem darstellt, auch nicht über längere Distanzen oder auf Treppen. Wie auch vor Gericht unwidersprochen blieb, legen die Kinder des Beschwerdeführers beispielsweise bei Arztbesuchen im Kinderspital des Kantons Luzern vom Parkhaus bis zur Arztpraxis weit mehr als 200 m zurück. Die Rechtsauffassung des Beschwerdegegners ist somit ohne weiteres mit dem Wortlaut der Verordnungsbestimmung («Gehbehinderung») vereinbar. Es kann darüber hinausgehend aber nicht gesagt werden, dass der allgemeine Gleichheitssatz oder Sinn und Zweck der Norm nach einem Einbezug solcher indirekter Behinderungen in der Fortbewegung rufen, damit auch Personen, die als Folge einer geistigen Beeinträchtigung ganz generell ständiger Begleitung bedürfen, Anspruch auf Parkkarten haben müssten. Denn sie bedürfen ihrer Begleitpersonen nicht zum Gehen, sondern aus anderen Gründen, d.h. vor allem zu ihrem Schutz. Hierin unterscheiden sich die beiden Fallkonstellationen also ganz erheblich.

f) Würde man eine weitergehende Auslegung von Art. 20a Abs. 5 VRV favorisieren und auch das Erfordernis der ständigen Begleitung beim an sich uneingeschränkt möglichen Gehen zu Fuss als anspruchsbegründend für eine Parkkarte bezeichnen, würde zudem einer Ausweitung des Anspruchs in einem Masse der Boden bereitet, dass wegen der damit verbundenen Folgen einzig der Gesetzgeber eine Regelung zu treffen hätte. Denn eine solche Auslegung bzw. Praxis würde – abgesehen von schwierigen Abgrenzungsfragen für Behörden und Gerichte – zu einer unabsehbaren Ausweitung der anspruchsberechtigten Personen führen und wäre deshalb aus verkehrs- und verkehrssicherheitstechnischen Gründen sehr problematisch. Die öffentlichen Strassen- und Parkflächen würden in einem Masse beansprucht, welches nach einer grundsätzlich neuen und umfassend ausgestalteten Regelung rufen würde. Wie der Beschwerdegegner zu Recht geltend macht, besteht nur eine beschränkte Anzahl von Parkplätzen für Gehbehinderte und würde eine Ausweitung auf enge Grenzen stossen.

6. Bei allem Verständnis für das Anliegen des Beschwerdeführers und die schwierige Situation seiner Familie muss deshalb festgestellt werden, dass kein Anspruch auf die beantragten und zunächst bewilligten Parkkarten besteht und die Widerrufsverfügung somit rechtmässig und angemessen ist. Auch führt die bei einem Widerruf nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen in jedem Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts und jenem der Rechtssicherheit vorliegend zu keiner anderen Beurteilung. Weder ist gemäss der Rechtsprechung durch die ohnehin periodisch auf ihre Anspruchsvoraussetzungen zu überprüfende und kurze Zeit gültig gewesene Verfügung (maximale Gültigkeit: 5 Jahre) ein subjektives Recht begründet worden, noch ging es bei der erfolgten Bewilligung um eine allseitige Prüfung und Abwägung sich gegenüberstehender Interessen (vgl. BGE 121 II 273 E. 1a/aa). Der Widerruf erfolgte nicht willkürlich und verstösst nicht gegen Treu und Glauben. Demzufolge ist die Beschwerde abzuweisen.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 28. März 2017, V 2016 109
Das Urteil ist rechtskräftig.

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