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Art. 684 und 688 ZGB sowie § 111a Abs. 1 EG ZGB

Regeste:

Art. 684 und 688 ZGB sowie § 111a Abs. 1 EG ZGB – Nachbarrecht, hochstämmiger Baum

Zur Frage, ob ein Baum als hochstämmiger Baum im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB gilt, kann auf die Pflanzenlisten in der Publikation «Bäume und Sträucher im Nachbarrecht» von Wasserfallen/JardinSuisse (4. A. 2014) abgestellt werden.

Allgemeiner Hinweis
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Erwägungen teilweise gekürzt und/oder leicht geändert.

Aus dem Sachverhalt:
Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks A. Dieses Grundstück grenzt an das Grundstück B der Beklagten. Auf dem Grundstück B steht ein 10,96 Meter hoher Walnussbaum (Juglans regia) mit einem Grenzabstand von 4,6 Metern zum Grundstück A. Die Stammhöhe des Walnussbaums beträgt ein Meter.

Aus den Erwägungen:

1. Im vorliegenden Verfahren ist strittig, ob die Beklagte den auf ihrem Grundstück stehenden Walnussbaum zu beseitigen hat. Die einschlägigen Rechtsgrundlagen lauten wie folgt:

1.1 Gemäss Art. 684 ZGB ist jedermann verpflichtet, bei der Ausübung seines Eigentums, wie namentlich beim Betrieb eines Gewerbes auf seinem Grundstück, sich aller übermässigen Einwirkung auf das Eigentum der Nachbarn zu enthalten (Abs. 1). Verboten sind insbesondere alle schädlichen und nach der Lage und Beschaffenheit der Grundstücke oder nach Ortsgebrauch nicht gerechtfertigten Einwirkungen durch Luftverunreinigung, üblen Geruch, Lärm, Schall, Erschütterung, Strahlung oder durch den Entzug von Besonnung oder Tageslicht (Abs. 2).

1.2 Die Kantone sind gemäss Art. 688 ZGB befugt, für Anpflanzungen je nach der Art des Grundstücks und der Pflanzen bestimmte Abstände vom nachbarlichen Grundstück vorzuschreiben. Nach Lehre und Rechtsprechung stellt Art. 688 ZGB einen echten zuteilenden Vorbehalt zu Gunsten der Kantone auf. Gestützt darauf sind diese ermächtigt, die Abstände, welche die Eigentümer für Anpflanzungen einhalten müssen, festzulegen und Sanktionen für die Verletzung entsprechender Bestimmungen vorzusehen (BGE 126 III 452 E. 3a). Von diesem Vorbehalt hat der Kanton Zug im Gesetz betreffend die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches für den Kanton Zug (EG ZGB; BGS 211.1) Gebrauch gemacht, wobei der Kantonsrat die Bestimmungen zum Nachbarrecht mit Beschluss vom 31. März 2016 revidiert hat. Diese neuen Bestimmungen sind seit dem 11. Juni 2016 in Kraft.

1.2.1 Bis zum Inkrafttreten der revidierten Bestimmungen galten für Anpflanzungen folgende kantonalen Vorschriften:

Gegen den Willen des Nachbars dürfen hochstämmige Bäume jeder Art (Waldbäume oder grosse Zierbäume, wie Platanen, Pappeln, wilde Kastanien, Nuss- und Kirschbäume und dergleichen) nicht näher als acht Meter, gewöhnliche Kulturobstbäume, wie Apfel- und Birnbäume, nicht näher als vier Meter, Zwergobst-, Zwetschgen-, Pflaumenbäume usw. nicht näher als zwei Meter, niedere bis auf drei Meter unter der Schere zu haltende Gartenbäume und Ziersträucher nicht näher als 50 Zentimeter an das nachbarliche Grundstück gesetzt werden (a§ 102 Abs. 1 EG ZGB).

1.2.2 Die neuen, seit dem 11. Juni 2016 in Kraft stehenden und im vorliegenden Fall massgebenden kantonalen Bestimmungen lauten wie folgt:

Pflanzungen dürfen, unter Vorbehalt abweichender Vereinbarungen, nie höher gehalten werden als das Doppelte ihres Grenzabstands. Ab einem Grenzabstand von 8,0 Metern besteht keine Höhenbeschränkung (§ 102 Abs. 1 EG ZGB). Bei Pflanzungen, die den Abstandsvorschriften widersprechen, kann die Eigentümerschaft des betroffenen Nachbargrundstücks die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen, wobei auf die Vegetationsperiode Rücksicht zu nehmen ist (§ 102b Abs. 1 EG ZGB). Hochstämmige Bäume, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung die Maximalhöhe gemäss § 102 Abs. 1 überschreiten, bleiben in ihrem Bestand geschützt, wenn sie fünf Jahre vor Inkrafttreten dieser Bestimmung gepflanzt worden sind (§ 111a Abs. 1 EG ZGB).

1.3 Halten Pflanzungen die kantonalrechtlichen Abstände nicht ein, kann ihre Beseitigung (bzw. die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands) vorbehaltlos, d.h. ohne Nachweis übermässiger Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB, verlangt werden (BGE 126 III 452 E. 3c.bb).

2. Zwischen den Parteien ist in erster Linie strittig, ob der Walnussbaum ein hochstämmiger Baum und daher gemäss § 111a Abs. 1 EG ZGB in seinem Bestand geschützt ist.

Damit die Bestimmung von § 111a Abs. 1 EG ZGB überhaupt anwendbar ist, muss es sich allerdings nicht nur um einen hochstämmigen Baum handeln. Vielmehr muss dieser Baum auch vor dem 11. Juni 2011 (d.h. fünf Jahre vor dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen) gepflanzt worden sein und am 11. Juni 2016 die Maximalhöhe gemäss § 102 Abs. 1 EG ZGB überschritten haben. Diese beiden weiteren Voraussetzungen sind vorliegend offenkundig erfüllt: Der Walnussbaum ist mindestens 35-jährig und war im Jahr 2016 rund 10,5 Meter hoch. Im Weiteren ist unbestritten, dass der 4,6 Meter von der Grundstücksgrenze entfernte Walnussbaum infolge seiner Höhe die Abstandsvorschrift gemäss § 102 Abs. 1 EG ZGB im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmungen am 11. Juni 2016 nicht einhielt. Er überschritt mit seinen damaligen 10,47 Metern die zulässige Maximalhöhe von 9,2 Metern (2 x 4,6 Meter Grenzabstand).

(…)

4. Hinsichtlich der von den Klägern beantragten Beseitigung des Walnussbaums ist festzuhalten, dass gemäss § 102b Abs. 1 EG ZGB bei Pflanzungen, die den Abstandsvorschriften widersprechen, einzig die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangt werden kann. Gestützt auf das kantonale Recht könnte die Beklagte daher nur dazu verpflichtet werden, den Walnussbaum bis zur zulässigen Maximalhöhe von 9,2 Metern – soweit möglich und sinnvoll – «unter der Schere zu halten», nicht jedoch den Walnussbaum zu fällen. Dessen ungeachtet darf die Maximalhöhe dann überschritten werden, wenn der Walnussbaum als hochstämmiger Baum zu qualifizieren und gemäss § 111a Abs. 1 EG ZGB in seinem Bestand zu schützen ist.

5. Ob es sich beim Walnussbaum um einen hochstämmigen Baum im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB handelt, ist durch Auslegung des Gesetzes zu ermitteln.

5.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus abgeleiteten Sinn ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann. Abweichungen vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Gesetzeswortlaut sind daher zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass er nicht dem wahren Sinn der Bestimmung entspricht. Solche Gründe können sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm (historisches Auslegungselement), aus ihrem Zweck (teleologisches Auslegungselement) oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften (systematisches Auslegungselement) ergeben. Bei der Auslegung einer Norm sind daher nebst dem Wortlaut auch diese Auslegungselemente zu berücksichtigen, wobei das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus befolgt und es ablehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei darf das Gericht die ratio legis nicht nach den eigenen, subjektiven Wertvorstellungen ermitteln, sondern hat sich nach den Vorgaben des Gesetzgebers zu richten. Eine historisch orientierte Auslegung ist zwar für sich alleine nicht entscheidend. Doch vermag nur sie die sich insbesondere aus den Materialien ergebende Regelungsabsicht des Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des Gerichts bleibt (vgl. BGE 143 IV 122 E. 3.2.3; 143 III 385 E. 4.1; 142 III 557 E. 8.3; 140 I 305 E. 6.1 f.; 131 III 314 E. 2.2; je m.w.H.; Urteil des Bundesgerichts 8C_655/2017 vom 3. Juli 2018 E. 4.1 m.w.H.).

5.2 Der Gesetzeswortlaut von § 111a Abs. 1 EG ZGB ist insoweit unklar, als sich ihm nicht direkt entnehmen lässt, welche Bäume als hochstämmig zu qualifizieren sind. Gemäss Duden wird unter «Hochstamm» eine «Zuchtform von Gehölzen mit relativ hohem Stamm» verstanden. «Hochstämmig» bedeutet «einen hohen Stamm aufweisend». Diese Definitionen lassen offen, wann ein Baum hochstämmig ist. Es trifft zwar zu, dass sich der Begriff «Hochstamm» – wie die Kläger vorbringen – aus den beiden Wörtern «hoch» und «Stamm» zusammensetzt, weshalb für einen hochstämmigen Baum – auch in Einklang mit den Definitionen des Duden – durchaus ein Stamm mit einer gewissen Höhe vorausgesetzt werden darf. Dass dabei jedoch alleine die effektive Höhe eines bestimmten Baumstamms für die Definition des «Hochstämmers» massgebend sein soll, ist dem Wortlaut nicht eindeutig zu entnehmen. So sieht § 111a Abs. 1 EG ZGB denn auch keine bestimmte Stammhöhe vor.

5.3 Es stellt sich somit die Frage, welche Pflanzungen nach dem Willen des Gesetzgebers unter den in § 111a Abs. 1 EG ZGB verwendeten Begriff der hochstämmigen Bäume fallen. Gerade bei jüngeren Gesetzen – wie den vorliegend revidierten Bestimmungen des EG ZGB – kommt der historischen Auslegung und damit den Materialien zur Gesetzesrevision eine besondere Bedeutung zu.

(…)

5.3.2 Vor und an der 2. Lesung im Kantonsrat schlug die vorberatende Kommission vor, § 111a Abs. 1 EG ZGB wie folgt zu formulieren: «Hochstämmige Bäume, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung die Maximalhöhe gemäss § 102 Abs. 1 EG ZGB überschreiten, bleiben in ihrem Bestand geschützt, wenn sie fünf Jahre vor Inkrafttreten dieser Bestimmung gepflanzt worden sind». Diese Formulierung stelle klar, dass ein Bestandesschutz nur für hochstämmige Bäume, d.h. für Baumtypen, die in Fachkreisen als «Hochstämmer» bezeichnet würden, bestehe. Der Regierungsrat schloss sich diesem Antrag an der 2. Lesung im Kantonsrat an, woraufhin das Gesetz mit diesem Wortlaut verabschiedet wurde (vgl. S. 2 der Anträge der vorberatenden Kommission zur 2. Lesung [Hervorhebungen hinzugefügt]).

(…)

5.4.1 Unbestritten ist, dass hinsichtlich der Definition des hochstämmigen Baums an der 1. Lesung im Kantonsrat sowie in den Anträgen der vorberatenden Kommission zur 2. Lesung auf Fachleute und Fachmeinungen bzw. Fachkreise verwiesen wurde.

(…)

5.5 Regierungsrätin Manuela Weichelt-Picard hielt an der 1. Lesung im Kantonsrat fest, für Fachleute sei klar, was «hochstämmig» sei. Wann ein Baum als hochstämmig gilt, ist allerdings nicht abschliessend geklärt; vielmehr kommt es in der Praxis mit Bezug auf den Begriff des «Hochstämmers» regelmässig zu Abgrenzungsschwierigkeiten.

5.5.1 Wie die Kläger zutreffend vorbringen, wird der Begriff «Hochstammbaum» bzw. «Hochstämmer» von Baumzüchtern und in Baumschulen als Fachbegriff verwendet. In der Baumzucht gilt als «Hochstämmer» ein Baum, welcher einen Stamm von einer bestimmten Höhe aufweist, was oftmals künstlich – z.B. in Baumschulen mittels Absägens aller Äste unterhalb der gewünschten Kronenhöhe – erreicht wird. Die Höhe eines Stamms wird dadurch zu einem gewissen Qualitätsmerkmal eines einzelnen Baums. In den Fachkreisen werden bei der Definition eines «Hochstämmers» verschiedene Stammhöhen vorgeschlagen: 1,2 und 1,6 Meter gemäss den Hochstamm Suisse Richtlinien (unterteilt nach Steinobstbäumen [1,2 Meter] sowie Kernobstbäumen, Kastanien- und Nussbäumen [1,6 Meter], wobei auch Ausnahmen bewilligt werden können [vgl. Ziff. 3.1 Abs. 2 der Richtlinien]); 1,7 Meter gemäss den Schweizer Qualitätsbestimmungen für Baumschulpflanzen und Stauden von «JardinSuisse» und 1,8 bzw. 2 Meter bei zwei- bzw. dreimal verpflanzten Bäumen gemäss der aktuellen DIN-Norm 18916 (vgl. Ziff. 4.1 der DIN-Norm 18916 i.V.m. den Gütebestimmungen für Baumpflanzschulen, Ziff. 2.3.1.1 und 2.3.2.1; FLL [Hrsg.], Fokus Baum, 2. A. 2019, S. 46 und 121).

Demgegenüber wird in der Botanik (bzw. der Dendrologie als Teilgebiet der Botanik, welche sich mit verholzenden Pflanzen, insbesondere Bäumen, Sträuchern und verschiedenen Kletterpflanzen beschäftigt) nicht zwischen verschiedenen Stammhöhen eines Baums unterschieden. Bäume haben – im Unterschied zu Sträuchern – in der Regel einen kräftigen, verholzenden Stamm und eine belaubte Krone. Zudem ist anerkannt, dass die Ausbildung des Stamms und der Seitenäste zur Krone durch die genetische Veranlagung der jeweiligen Baumart bestimmt wird (vgl. Lüder, Grundkurs Gehölzbestimmung, 3. A. 2018, S. 16 f.).

5.5.2 Im Pflanzenrecht zeigt sich exemplarisch, dass bestimmte Begrifflichkeiten von verschiedenen Kreisen unterschiedlich verwendet werden. Gemäss der botanischen Nomenklatur wird in der Fachsprache eine Pflanze mit einem aus der Gattungsbezeichnung (z.B. «Juglans») und der Artbezeichnung (z.B. «regia») zusammengesetzten lateinischen und latinisierten Namen eindeutig bezeichnet. Diese beiden Angaben genügen aus botanischer Sicht, um eine Pflanze eindeutig zuzuordnen. Eine zusätzliche Sortenbezeichnung kann zur Unterscheidung von Eigenschaften bestimmter Pflanzenarten (z.B. bei unterschiedlichen Blütenfarben) angegeben werden, hat aber botanisch keine Bedeutung. Demgegenüber werden in der Umgangssprache die Begriffe «Gattung», «Art» und «Sorte» nicht konsequent voneinander unterschieden. Hingegen findet sich in der Alltagssprache der von der Botanik nicht näher definierten Begriff des «Typs» einer Pflanze. Die erwähnten Begriffe werden umgangssprachlich oftmals generell als Sammelbegriffe für eine bestimmte Pflanzenart im botanischen Sinn verwendet. Zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens ist im Folgenden derjenige Sprachgebrauch massgebend, von welchem der Gesetzgeber in seinen Beratungen ausging und gestützt auf welchen er die Gesetzesbestimmungen erliess. Würde den Gesetzesbestimmungen im Nachhinein ein anderer Bedeutungsgehalt beigemessen, liefe dies auf eine Missachtung des gesetzgeberischen Willens hinaus.

5.5.3 Entscheidend ist vorliegend, dass der Bestandesschutz gemäss § 111a Abs. 1 EG ZGB nach dem gesetzgeberischen Willen nur für hochstämmige Bäume, d.h. für Baumtypen, die in Fachkreisen als «Hochstämmer» bezeichnet werden, gilt (vgl. S. 2 der Anträge der vorberatenden Kommission zur 2. Lesung [Hervorhebung hinzugefügt]). Dass der Botanik der Begriff des Baumtyps in ihrer systematischen Einteilung fremd ist, ändert nichts daran, dass der Kantonsrat – in der botanischen Fachsprache gesprochen – auf die einzelne Baumart (z.B. «Juglans regia») abstellte.

Daraus folgt, dass es für die Qualifikation eines Baums als «Hochstämmer» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB nur auf die Baumart ankommt. Der Kantonsrat stellte für die Definition hochstämmiger Bäume mithin auf den einer Baumart innewohnenden, natürlichen Keim zum artgemässen Hochstammwachstum – bzw. auf seine genetische Veranlagung entsprechend der grundlegenden Botanik – ab. Die «konkrete Gestalt» des einzelnen Baums (z.B. die effektive Höhe seines Stamms) spielt somit keine Rolle (vgl. Roos, Pflanzen im Nachbarrecht, 2002, S. 149), was auch mit der botanischen Lehre übereinstimmt (vgl. Roloff, Handbuch Baumdiagnostik, 2015, S. 8 [es geht nicht um den gerade aktuellen Habitus eines bestimmten Baums, sondern um den potenziellen der Baumart allgemein]). Neigt somit eine Baumart zum artgemässen Hochstammwachstum, gilt ein Baum dieser Art – unabhängig von seinem tatsächlichen Erscheinungsbild – als hochstämmiger Baum bzw. «Hochstämmer» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden R 17 15 vom 12. September 2017 E. 4). Diese Ansicht scheint im Übrigen auch das Bundesgericht zu teilen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_69/2017 vom 25. Oktober 2017 E. 3.1.1; Roos, a.a.O., S. 149).

Somit ist nach dem gesetzgeberischen Willen auf diejenigen Fachkreise abzustellen, welche Baumarten im Sinne ihrer art- bzw. naturgemäss üblichen Gestalt als hochstämmige oder nicht hochstämmige Bäume bezeichnen. Demgegenüber ist der Fachkreis der Baumzucht, der zur Definition des Fachbegriffs des «Hochstämmers» auf die Stammhöhe eines Baums abstellt, nicht zu berücksichtigen.

5.5.4 Damit ist dem Hauptargument der Kläger, wonach der streitige Walnussbaum infolge seiner geringen Stammhöhe kein «Hochstämmer» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB sei, der Boden entzogen. Entgegen ihrer Auffassung ist nach dem gesetzgeberischen Willen eben nicht die menschengemachte Zuchtform eines Baums für dessen Einordnung massgebend, sondern die Baumart. Es trifft daher auch nicht zu, dass die Beklagte den Walnussbaum mittels entsprechenden Schnitts und fachmännischer Pflege zu einem «Hochstämmer» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB hätte trimmen können. Wie gesehen, kommt es im Zusammenhang mit dem «Hochstämmer» gemäss § 111a Abs. 1 EG ZGB – im Unterschied zur Baumzucht – eben gerade nicht darauf an, ob der Walnussbaum (z.B. durch Absägen der unteren Äste) zu einem «Hochstämmer» hätte «herangezüchtet» werden können. Im Übrigen könnte dadurch die Qualifikation eines Baums mit einem menschlichen Eingriff beeinflusst werden, was nicht sachgerecht wäre (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden R 17 15 vom 12. September 2017 E. 4.b).

5.5.5 Es erstaunt daher auch nicht, dass es in den von den Klägern angeführten Publikationen ("Schweizer Qualitätsbestimmungen für Baumschulpflanzen und Stauden" von «JardinSuisse»; «Hochstamm Suisse Richtlinien» von «Hochstamm Suisse») und der von der Vorinstanz hinzugezogenen Verordnung über die Direktzahlungen an die Landwirtschaft hauptsächlich um die Qualitätssicherung von Pflanzen und Bäumen geht (vgl. den Anhang 4 Ziff. 12.1 und 12.2 zur DZV [Qualitätsstufe I und II]). Dies stellen die Kläger denn auch gar nicht in Abrede. Vielmehr führen sie diesbezüglich an, dass mit dem Abstellen auf diese Publikationen eben gerade sichergestellt werde, dass nur Bäume in ihrem Bestand geschützt würden, die eine gewisse Qualität aufwiesen. Dabei verkennen sie aber, dass das (allenfalls) baumzüchterisch erzeugte "Qualitätsmerkmal" der bestimmten Stammhöhe auf die Zuordnung eines Baumtyps bzw. einer Baumart zu den «Hochstämmern» keinen Einfluss hat.

5.5.6 Die Kläger argumentieren im Weiteren, dass es der Rechtssicherheit abträglich wäre, wenn der Walnussbaum aufgrund seiner Gattung [bzw. Art] als «Hochstämmer» taxiert würde, während die [baumzüchterische] Praxis für den Begriff des Hochstamms eine andere Definition verwende. Diesfalls gäbe es fortan zwei Definitionen davon, was ein «Hochstammbaum» sei, was offensichtlich nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen sei. So habe Regierungsrätin Manuela Weichelt-Picard an der 1. Lesung im Kantonsrat denn auch festgehalten, dass eine Definition des Begriffs «hochstämmig» im EG ZGB unnötig sei und zu Rechtsunsicherheiten führen könnte, wenn diese von der Fachmeinung abweiche.

Bei dieser Argumentation verkennen die Kläger, dass der Begriff des «Hochstämmers» bereits heute zwei Definitionen kennt – nämlich diejenige, welche der grundlegenden Botanik zugrunde liegt, und diejenige, welche in der Baumzucht verwendet wird. Daraus können die Kläger jedoch nichts zu ihren Gunsten ableiten, zumal nach dem Willen des Gesetzgebers betreffend § 111a Abs. 1 EG ZGB auf die grundlegende Botanik abzustellen ist. Dass mit diesen unterschiedlichen Definitionen eine Rechtsunsicherheit einhergeht, ist zwar unbefriedigend, letztlich aber hinzunehmen, bringt doch nicht der blosse Gesetzeswortlaut, sondern erst die Gesetzesauslegung den wahren Sinn einer Bestimmung zu Tage. Abgesehen davon würde mit der von den Klägern vertretenen Auffassung die geltend gemachte Rechtsunsicherheit noch verstärkt, wäre doch damit nicht geklärt, ob für einen «Hochstämmer» die Stammhöhe nun mindestens 1,2 oder 1,6 oder 1,7 oder gar 1,8 bis 2 Meter (bei mehrfach verpflanzten Bäumen) betragen muss.

5.5.7 Schliesslich berufen sich beide Parteien auf eine Äusserung von Regierungsrätin Manuela Weichelt-Picard an der 2. Lesung im Kantonsrat, wonach «die Fünfjahresfrist […] verhindern [soll], dass Grundeigentümerinnen und -eigentümer vor Inkrafttreten der revidierten Bestimmungen noch rasch hochstämmige Bäume pflanzen, in der Absicht, von den attraktiveren Grenzabstandsbestimmungen des noch geltenden Rechts zu profitieren und danach Bestandesschutz zu geniessen». Diese Äusserung spricht jedoch weder für die eine noch die andere Auffassung der Parteien hinsichtlich des Begriffs hochstämmiger Bäume. So hätten einerseits – nach Lesart der Beklagten – noch rasch Baumarten, die den natürlichen Keim zum artgemässen Hochstammwachstum in sich tragen, gepflanzt werden können. Andererseits hätten aber – im Sinne der klägerischen Auffassung – auch noch Bäume mit einer Stammhöhe von 1,2 bis 1,7 oder 1,8 bis 2 Metern (z.B. in einem Grenzabstand von 0,5 Metern) gepflanzt werden können. Allerdings wurde – wie die Beklagte zu Recht vorbringt – die effektive Stammhöhe im ganzen Gesetzgebungsverfahren nie thematisiert, was gegen die klägerische Auffassung spricht.

5.5.8 Zu prüfen bleibt, gestützt auf welche Publikation zu bestimmen ist, ob eine Baumart das Hochstammwachstum in sich trägt oder nicht.

Zur einfachen und praktikablen Bestimmung, ob eine bestimmte Baumart als «Hochstämmer» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB zu qualifizieren ist, eignet sich die Pflanzenlisten der Publikation "Bäume und Sträucher im Nachbarrecht" von Andreas Wasserfallen und «JardinSuisse» (vgl. Wasserfal-len/JardinSuisse, Bäume und Sträucher im Nachbarrecht, 4. A. 2014, S. 3). Dabei fällt zwar vorab auf, dass auch in dieser Publikation in der Tabelle «Kantone und Pflanzabstände» solche Bäume «als hochstämmig […] bezeichnet [werden], deren unterste Äste erst ab einer Stammhöhe von rund 1.70 m austreiben» (vgl. Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 10 Fn 5). Auch in den «Erläuterungen zu den Pflanzenlisten» findet sich unter der Kategorie «Hochstämmige Obstbäume» der Hinweis, dass «Obstbäume mit einem Stamm, deren Kronenansatz bei mindestens 1.70 m liegt, […] als Hochstamm-Obstbäume bezeichnet» werden (vgl. Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 29). Entgegen der klägerischen Auffassung kann daraus aber nicht geschlossen werden, dass es sich beim vorliegenden Walnussbaum [wegen seiner geringen Stammhöhe] nicht um einen Hochstammbaum handelt. In der Tabelle «Kantone und Pflanzabstände» wird nämlich auf sämtliche kantonalen Bestimmungen Bezug genommen und im Übrigen ebenso ausgeführt, dass unter hochstämmigen Bäumen generell auch Nussbäume zu verstehen seien (vgl. Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 10 Fn 5). Auch «hinsichtlich der Kategorie Hochstämmige Obstbäume» wird in der Publikation darauf hingewiesen, dass die dort aufgeführten Kategorien «meist aus den kantonalen Einführungsgesetzen zum Zivilgesetzbuch (EG ZGB) stammen» (Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 29). Eine konkret auf den Kanton Zug bezogene Regelung lässt sich diesen allgemeinen Bemerkungen jedoch nicht entnehmen, zumal die zugerischen Bestimmungen in der Zwischenzeit ohnehin revidiert worden sind. Insbesondere verkennen die Kläger aber auch, dass vor der Revision die in a§ 102 Abs. 1 EG ZGB aufgezählten Nussbäume per se als hochstämmige Bäume galten, ohne dass eine bestimmte Stammhöhe bzw. eine Stammhöhe von 1,7 Metern vorausgesetzt war. Gemäss dem neuen Recht ist aber hinsichtlich der Definition hochstämmiger Bäume im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB nur noch auf den von Fachkreisen als «Hochstämmer» bezeichneten «Baumtyp» abzustellen. Mithin kann aus den früher geltenden Bestimmungen auch die Beklagte nichts zu ihren Gunsten ableiten.

5.5.9 Entscheidend ist vorliegend, dass die Publikation «Bäume und Sträucher im Nachbarrecht» unter «Teil 2 Fachliche Grundlagen» die beiden Pflanzenlisten «Laubgehölze» und «Nadelgehölze» führt und darunter verschiedene Baumarten listet (Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 34-52). Mithilfe dieser beiden Pflanzenlisten lässt sich in einfacher und praktikabler Weise bestimmen, welche Baumarten von Natur aus den hochstämmigen Bäumen zuzuordnen sind. Die (Mit-)Zugehörigkeit zu den «hochstämmigen Bäumen» (Kategorie A) oder den «hochstämmigen Obstbäumen» (Kategorie B) genügt, damit eine Baumart als hochstämmiger Baum im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB gilt, ist doch damit die genetische Veranlagung belegt (vgl. z.B. das Beispiel des Apfelbaums [Malus domestica] bei Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 41). Übereinstimmend mit der Beurteilung des Bundesgerichts, welches die Rosskastanie im Verfahren 1C_69/2017 als hochstämmig qualifizierte, bezeichnet auch die Pflanzenliste «Laubgehölze» die Rosskastanie klarerweise als hochstämmigen Baum (vgl. die Rosskastanie [Aesculus hippocastanum] bei Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 34).

(…)

5.6 Neben der historischen Auslegung ist das teleologische Element besonders wichtig, da es der Ermittlung des Zwecks einer Gesetzesbestimmung dient. Es ist oftmals eng mit der Entstehungsgeschichte einer Norm – d.h. dem historischen Auslegungselement – verbunden. Um zur «ratio legis» zu gelangen, muss man sich fragen, welche Interessen dem Gesetzgeber vorgelegen haben und wie er die Interessenabwägung vorgenommen hat. Häufig kann auch die systematische Stellung der auszulegenden Norm im Gesamtkontext eines Gesetzes – mithin das systematische Auslegungselement – helfen, den Zweck einer Norm zu eruieren.

Der Gesetzgeber wollte mit dem als «Übergangsbestimmung» betitelten § 111a Abs. 1 EG ZGB bestimmten Bäumen eine «Bestandesgarantie» zugestehen und dabei explizit «stattliche» sowie «alte, wertvolle» Bäume schützen (vgl. das Protokoll des Kantonsrats vom 28. Januar 2016, Vormittag, 1. Lesung, S. 712). Da auch in diesem Zusammenhang die effektive Stammhöhe mit keinem Wort erwähnt wurde, scheint klar, dass die Stammhöhe für die «Stattlichkeit» eines Baums keine Rolle spielen kann. Es kommt folglich nicht – bzw. nicht nur – auf die Stammhöhe an, ob ein Baum «stattlich» ist oder nicht. Die «Stattlichkeit» ergibt sich vielmehr gestützt auf eine Gesamtbetrachtung des Baums (gemäss Duden bedeutet «stattlich»: «von beeindruckender grosser und kräftiger Statur» bzw. «[in Hinsicht auf äussere Vorzüge] ansehnlich, bemerkenswert»). Die teleologische Auslegung deckt sich demnach mit den Ausführungen zur historischen Auslegung, weshalb ohne Weiteres darauf verwiesen werden kann.

5.7 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich dem Wortlaut von § 111a Abs. 1 EG ZGB nicht eindeutig entnehmen lässt, was unter «hochstämmigen Bäume» im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist. Auch aus der systematischen Stellung der Norm lässt sich diesbezüglich nichts ableiten. Jedoch gebieten das historische und das teleologische Auslegungselement die art- bzw. naturgemäss übliche Gestalt einer bestimmten Baumart zu berücksichtigen, um die «hochstämmigen Bäume» im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB zu bestimmen. Hierzu kann auf die Pflanzenlisten «Laubgehölze» und «Nadelgehölze» der Publikation «Bäume und Sträucher im Nachbarrecht» abgestellt werden: Zählen diese Pflanzenlisten eine Baumart zu den hochstämmigen Bäumen (oder hochstämmigen Obstbäumen), gilt der dieser Baumart zugehörige Baum als hochstämmiger Baum im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB. Demgegenüber sind die Kriterien des in der Baumzucht gebräuchlichen Fachbegriffs des «Hochstamms», d.h. die tatsächliche Einhaltung einer bestimmten Stammhöhe, nicht massgeblich. Ob die «Stattlichkeit», das Alter oder der «Wert» eines Baums als zusätzliche Voraussetzung für das Vorliegen eines «hochstämmigen Baums» gilt, kann vorliegend offenbleiben, sind diese Kriterien beim vorliegenden Walnussbaum doch ohne Weiteres erfüllt.

6. Die Pflanzenliste «Laubgehölze» der Publikation «Bäume und Sträucher im Nachbarrecht» qualifiziert den Walnussbaum als hochstämmigen Baum bzw. hochstämmigen Obstbaum (vgl. Wasserfallen/JardinSuisse, a.a.O., S. 40). Damit gehört der vorliegend zu beurteilende Walnussbaum der Beklagten zu den hochstämmigen Bäumen im Sinne von § 111a Abs. 1 EG ZGB. Ausserdem kann er zweifellos als «stattlich» bezeichnet werden und auch sein Alter ist beachtlich. Einen solchen Baum wollte der Gesetzgeber mithin klarerweise weiterhin im Bestand schützen.

(…)

Obergericht, I. Zivilabteilung, Urteil vom 27. November 2020 (Z1 2019 25)

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