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Jugendstrafrecht

Art. 97 f. StGB, Art. 44 Abs. 3 JStPO

Regeste:

1. Bei Übergangstätern bestimmt sich die Verfolgungsverjährung für die Taten nach Vollendung des 18. Altersjahres nach Art. 97 f. StGB (E. I.4).

2. Die solidarische Haftung der Eltern gemäss Art. 44 Abs. 3 JStPO knüpft weder an die Unterhaltspflicht nach Art. 276 f. ZGB an noch müssen die Haftungsvoraussetzungen von Art. 333 ZGB erfüllt sein. Dem Gericht steht ein Ermessen zu, um auf eine solidarische Haftbarkeit zu erkennen (E. VII.1.2).

Aus dem Sachverhalt:

1. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) warf D. (nachfolgend: Beschuldigte) in der Anklageschrift vom 18. Mai 2022 zusammengefasst Folgendes vor:  

1.1 Taten nach Vollendung des 18. Altersjahres

1.1.1  Am 18. August 2021, ca. 14.20 Uhr, habe die Beschuldigte auf dem Bundesplatz in Zug, im Hinterhof zur Liegenschaft Bundesplatz, B. (nachfolgend: Privatkläger) aus einer Distanz von ca. zwei Armlängen unvermittelt mit dem mitgeführten Einhandmesser (Klingenlänge 9 cm) mit ihrer rechten Hand blitzschnell und kräftig in die linke Halsvorderseite gestochen und ihm so eine ca. 4 cm lange Hautdurchtrennung auf der Halsvorderseite mit ca. 7 cm tiefem Stichkanal mit Durchtrennung der Muskulatur, des Schilddrüsenunterpols und Längseröffnung der linken äusseren Drosselvene zugefügt. Dadurch, sowie durch den darauf folgenden Blutverlust und mögliche Luftembolien habe für den Privatkläger unmittelbare Lebensgefahr bestanden, was die Beschuldigte in Kauf genommen habe. Kurze Zeit später um ca. 14.40 Uhr habe die Beschuldigte bei der Migros-Filiale an der Grabenstrasse 7 in Zug eine Personenkontrolle der Polizei durch Flucht behindert.

1.1.2  Zudem habe sie zwischen Anfang August 2021 bis ca. 18. August 2021 unbefugt insgesamt drei Mal Marihuana in Zug an unbekannten Orten konsumiert.

1.2     Taten vor Vollendung des 18. Altersjahres

1.2.1  Der Beschuldigten wurde weiter vorgeworfen, am 3. März 2020, zwischen ca. 01.07 Uhr bis 02.10 Uhr, im Kinder- und Jugendheim L. in M. die Betreuerin N. mit einem Klappmesser und einem Schlagring bedroht und mehrfach genötigt zu haben. Im Laufe dieses Vorfalls habe die Beschuldigte eine Bürotür, ein Bett und zwei Zahnputzgläser beschädigt (Sachschaden: ca. CHF 1'020.–). Weiter habe die Beschuldigte kurze Zeit später im Zeitraum ca. 02.23 Uhr bis 02.35 Uhr beim Versuch der zwischenzeitlich eingetroffenen Polizisten, sie zu arretieren, dem Polizisten O. gezielt und unvermittelt einen metallenen Teleskopschlagstock gegen die linke Kopfoberseite geschlagen, wodurch dieser ein Schädel-Hirntrauma Grad I sowie anhaltende Probleme beim Fokussieren und anhaltende Schmerzen im rechten Auge erlitten habe. Dadurch habe sie ihn schwer am Körper verletzt, eventualiter dies mindestens versucht. Überdies habe die Beschuldigte gegen das Waffengesetz verstossen, da sie den inkriminierten Teleskopschlagstock und Schlagring zuvor unberechtigt erworben bzw. geschenkt erhalten und sodann am 3. März 2020 unberechtigt getragen habe.

1.2.2  Schliesslich wurde der Beschuldigten zur Last gelegt, am 13. Juni 2020, zwischen ca. 21.15 Uhr bis 21.21 Uhr, im kantonalen Jugendheim P. in Q. absichtlich ungezielt um sich geschlagen und so versucht zu haben, die Betreuungsperson R. zu verletzen. Zudem habe sie Tonscherben gegen zwei Polizisten geworfen und überdies die Polizistin S. und den Polizisten T. leicht verletzt.

(…)

Aus den Erwägungen:

I. Formelles und Prozessuales

(…)

4. Kann ein Urteil definitiv nicht ergehen, ist das Verfahren einzustellen (Art. 329 Abs. 4 i.V.m. Art. 379 StPO). Die Verfolgungsverjährung stellt ein Verfahrenshindernis dar. Die Vor­instanz stellte das Strafverfahren gegen die Beschuldigte wegen Hinderung einer Amtshandlung am 18. August 2021 und mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Zeitraum vom 1. bis 18. August 2021 ein. Die Staatsanwaltschaft ficht diese Verfahrenseinstellung an.

4.1     Die Vorinstanz begründete die Verfahrenseinstellung zusammengefasst wie folgt: Bei der Beschuldigten handle es sich um eine sog. Übergangstäterin. Die Verjährung richte sich bei Übergangstätern ausschliesslich nach Art. 36 JStG. Die Ansicht von Riesen-Kupper, dass sich bei Übergangstätern die Verfolgungsverjährung der nach Vollendung des 18. Altersjahres begangen Taten nach Art. 97 f. StGB richte, sei nicht nachvollziehbar. Das Bundesgericht habe diese Frage bislang nicht beantwortet. Art. 3 Abs. 2 JStG spreche klar nur von der Anwendbarkeit des StGB hinsichtlich der Strafen. Die Strafen (und Massnahmen) würden im dritten Titel des StGB, die Verjährung jedoch im sechsten Titel des StGB geregelt. Weiter sei bei Übergangstätern das Jugendstrafverfahren anwendbar. Aufgrund des Legalitätsprinzips sei bei der echten Lückenfüllung zu Ungunsten der beschuldigten Person sodann besondere Zurückhaltung geboten. Das Obergericht des Kantons Uri habe sich der Auffassung von Riesen-Kupper angeschlossen und ausgeführt, dass ein Übergangstäter für Taten, die er als Jugendlicher begangen habe, nicht schlechter gestellt sein solle, als ein Täter, bei dem lediglich Taten vor Vollendung des 18. Altersjahres zu beurteilen seien. Umgekehrt solle der Übergangstäter für Taten, die er als Erwachsener begangen habe, nicht besser gestellt werden als ein Täter, bei welchem lediglich Taten nach Vollendung des 18. Altersjahres zu beurteilen seien. Diese Überlegungen würden zwar dem Gerechtigkeitsgedanken und -empfinden entsprechen. Dennoch erachte das Gericht [die Vorinstanz] eine Lückenfüllung zu Ungunsten der Beschuldigten als heikel (OG GD 1 E. I.1.5.1.2 S. 12 f.).

Die Staatsanwaltschaft bringt vor, die Vorinstanz habe zu Unrecht die Frage der Verjährung nach dem JStG beurteilt. Das JStG sei bei Übergangstätern nur anwendbar, wenn eine jugendstrafrechtliche Massnahme angeordnet werde. Die Verjährung von Taten nach Vollendung des 18. Altersjahres beurteile sich nach Erwachsenenstrafrecht (OG GD 2/1 S. 4; OG GD 10/7 S. 3).

4.2 Wie die Vorinstanz zutreffend ausführte, wurde die konkrete Rechtsfrage vom Bundesgericht bislang nicht geklärt (vgl. BGE 143 IV 49 E. 1.10 in fine). Entgegen der Ansicht der Vor­instanz ist jedoch keine (heikle und damit allenfalls unzulässige) Lückenfüllung erforderlich. Die Auslegung des Gesetzes ergibt klar, dass die Verjährung der Taten als Erwachsener nach Art. 97 f. StGB zu beurteilen und Art. 36 JStG nur hinsichtlich jener vor Vollendung des 18. Altersjahres anwendbar ist. Art. 3 Abs. 2 JStG, den die Vorinstanz in ihrer Argumentation anführt, lautet wie folgt: «Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar. Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde. Bedarf der Täter einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme nach dem StGB oder nach diesem Gesetz anzuordnen, die nach den Umständen erforderlich ist. Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar. Andernfalls ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar». Diese Norm regelt nur bestimmte Aspekte der Beurteilung von Übergangstätern. So bestimmt sie, dass für alle Taten hinsichtlich der Strafen das StGB anwendbar ist. Ohne diese Regelung wären die vor Vollendung des 18. Altersjahres begangenen Taten nach JStG zu bestrafen und jene nach Vollendung des 18. Altersjahres nach StGB. Art. 3 Abs. 2 JStG enthält somit Ausnahmen vom Grundsatz, dass für Taten vor Vollendung des 18. Altersjahres das JStG und für solche nach Vollendung des 18. Altersjahres das StGB gilt. Mit anderen Worten modifiziert die Bestimmung den persönlichen Geltungsbereich des Gesetzes hinsichtlich der Sanktionen (vgl. die Marginalie von Art. 3 JStG). Betreffend Verjährung besteht keine solche Ausnahme, weshalb der erwähnte Grundsatz bzw. der normale persönliche Geltungsbereich gilt. Dies bestätigt sich auch in Anbetracht des Gesetzgebungsprozesses. Der Entwurf des Bundesrates sah vor, dass bei Übergangstätern nur das StGB zur Anwendung kommt (Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes] und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998, BBl 1999 II 1979 ff., 2401; vgl. dazu auch Urteil des Bundesgerichts 6B_1445/2021 vom 14. Juni 2023 E. 2.4.2.3). Der Ständerat stimmte diesem Entwurf zunächst zu (AB 2000 S 742). Die Kommission des Nationalrates präsentierte aber die heute geltende abgeschwächte Form (AB 2002 N 129). Bei der Debatte ging es um die Frage, ob bzw. inwiefern die Taten vor Vollendung des 18. Altersjahres bei Übergangstätern dem StGB unterliegen. Es sollte eine Verschlechterung der Rechtsposition des Jugendlichen gegenüber dem damals geltenden Recht verhindert werden, weshalb die Kommission den heute bestehenden Mittelweg vorschlug. Dass der Übergangstäter für die Taten als Erwachsener vom Jugendstrafrecht profitieren soll, war kein Thema im Parlament.

Die Auffassung der Vorinstanz würde schliesslich dazu führen, dass ein Täter, der vor und nach Vollendung des 18. Altersjahres Delikte begangen hat, gegenüber jenem, der nur als Erwachsener straffällig wurde, privilegiert würde. Eine Privilegierung des Übergangstäters ist vom Gesetz jedoch nicht vorgesehen. Vielmehr soll ein Täter, ob er nun einzig als Jugendlicher oder Erwachsener Delikte begangen hat oder ein Übergangstäter ist, gleich bestraft werden. Dies ergibt sich bspw. aus Art. 49 Abs. 3 StGB, wonach ein Übergangstäter nicht schwerer bestraft werden darf, als wenn er für die Taten vor und nach Vollendung des 18. Altersjahres alleine beurteilt worden wäre. Zum gleichen Ergebnis kam das Bundesgericht auch bei der Frage der Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Landesverweisung auf einen Übergangstäter. Es führte hierzu aus, dass es nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein könne, einen jungen Straftäter, der im Alter von über 18 Jahren eine Anlasstat begeht, hinsichtlich einer allfälligen Landesverweisung bevorzugt zu behandeln, nur bzw. gerade weil er zuvor als Jugendlicher bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und deshalb (gleichzeitig) eine vor und eine nach Vollendung seines 18. Altersjahres begangene Tat beurteilt werden (Urteil des Bundesgerichts 6B_1445/2021 vom 14. Juni 2023 E. 2.4.2.5).

Zusammengefasst ist die Frage der Verjährung der Taten nach Vollendung des 18. Altersjahres nach Art. 97 f. StGB zu beurteilen (so auch Urteil des Obergerichts des Kantons Uri S 19 5 vom 31. Dezember 2020 E. 7.2; Riesen-Kupper, in: Donatsch et. al. [Hrsg.], StGB/JStG Kommentar, mit weiteren Erlassen und Kommentar zu den Strafbestimmungen des SVG, BetmG, AIG und OBG, 21. A. 2022, Art. 36 JStG N 5; Geiger/Redondo/Tirelli, Petit Commentaire, Droit pénal des mineurs, 2019, Art. 36 JStG N 33).

4.3 Hinderung einer Amtshandlung gemäss Art. 286 StGB wird mit Geldstrafe bis zu 30 Tages­sätzen bestraft. Die Verjährungsfrist beträgt somit sieben Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. d StGB). Die Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz gemäss Art. 19a Ziff. 1 BetmG wird mit Busse bestraft. Die Strafverfolgung verjährt in drei Jahren (Art. 109 StGB). Die Taten sind damit offensichtlich nicht verjährt.

(…)

VII. Kosten- und Entschädigungsfolgen des Vorverfahrens und erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens

(…)

1.2

1.2.1 Sind die Voraussetzungen für eine Kostenauflage zulasten der beschuldigten jugendlichen Person erfüllt (Art. 426 StPO), können ihre Eltern für die Kosten solidarisch haftbar erklärt werden (Art. 44 Abs. 3 JStPO). Gemäss einigen Auffassungen in der Lehre lasse sich eine solche Haftbarkeit nur begründen, wenn die Voraussetzungen von Art. 333 ZGB erfüllt seien, d.h. die Eltern nicht darzutun vermöchten, dass sie das übliche und durch die Umstände gebotene Mass an Sorgfalt in der Beaufsichtigung ihres Kindes beobachtet hätten (Hebeisen, Basler Kommentar, 2. A. 2014, Art. 44 JStPO N 5; Riedo, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, 2013, N 2539). Dieser Auffassung folgen beispielsweise das Kantonsgericht Basel-Landschaft und das Appellationsgericht Basel-Stadt (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft 460 14 47 vom 22. Juli 2014 E. 4; Entscheid des Appellationsgerichts Basel-Stadt BES.2016.159 vom 1. Februar 2017 E. 4) und sie entspricht auch der Praxis des Jugendgerichts des Kantons Zug. Die Strafabteilung des Obergerichts des Kantons Zug hat sich – im soweit ersichtlich einzigen Urteil zu dieser Frage – grundsätzlich ohne weitere Begründung auch dieser Auffassung der Lehre angeschlossen (vgl. Urteil des Obergerichts des Kantons Zug S 2018 38 vom 18. Dezember 2019 E. VI.1.2). Gleichzeitig wurde in diesem Urteil festgehalten, dass es trotz der propagierten Voraussetzungen von Art. 333 ZGB einer gefestigten Praxis im Kanton Zug entspreche, die solidarische Haftbarkeit der Eltern in aller Regel zumindest für die ihrem Kind auferlegten Verfahrenskosten, nicht jedoch für die Kosten der amtlichen Verteidigung, festzuschreiben. Dies aufgrund der Überlegung, dass den Eltern mit Bezug auf voraussehbare Schadenszufügungen durch ihre minderjährigen Kinder nicht nur eine erhöhte Überwachungsaufgabe, sondern auch eine Ermahnungs-, Instruktions- und nötigenfalls Verbotspflicht zukommt, und dass überdies auch für sie die Möglichkeit einer Stundung oder eines nachträglichen Kostenerlassgesuches besteht. Das Bundesgericht hat sich bislang – soweit ersichtlich – nicht ausdrücklich dazu geäussert. Aus BGE 143 IV 488 E. 3.3 könnte jedoch geschlossen werden, dass eine zivilrechtliche Haftung, mithin gemäss Art. 333 ZGB, bestehen muss, um die Eltern für solidarisch haftbar zu erklären («La PPMin conditionne ainsi expressément l'imputation des frais à un tiers en raison de sa responsabilité civile, solidairement avec le prévenu, à la réalisation des conditions de l'art. 426 CPP.»).

1.2.2 Das Kantonsgericht Freiburg setzt hingegen für die Anwendung von Art. 44 Abs. 3 JStPO voraus, dass die Eltern gestützt auf Art. 276 f. ZGB unterhaltspflichtig sind (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg 502 2018 123 vom 7. August 2018 E. 2.1 mit Verweis auf Borel, Le représentant légal: une partie très particulière au procès pénal, in: La procédure pénale applicable aux mineurs, 2011, N 49 ff.). Schmid stützt die Auffassung des Kantonsgerichts Freiburg und argumentiert, die Meinung, wonach für die solidarische Haftung die Voraussetzungen von Art. 333 ZGB erfüllt sein müssten, impliziere, dass die Prozesskosten des Kindes nicht zum Unterhalt gehörten. Das Bundesgericht habe allerdings bereits mehrmals festgehalten, dass Prozesskosten zum Kindesunterhalt gehörten. Zwar stünden Kindesschutzmassnahmen und familienrechtliche Prozesse im Vordergrund, doch müsse dies auch für die Verfahrenskosten im Jugendstrafverfahren gelten. Daher sei für die solidarische Haftbarkeit keine ausservertragliche Haftung gemäss Art. 333 ZGB, sondern nur die Unterhaltspflicht gemäss Art. 276 f. ZGB vorausgesetzt (Schmid, Die gesetzliche Vertretung im Jugendstrafverfahren, Stellung und Verfahrensrechte der gesetzlichen Vertretung unter Beachtung der besonderen rechtlichen Beziehung zur beschuldigten Jugendlichen, 2022, N 817).

1.2.3 Da verschiedene Auffassungen zu den Voraussetzungen der Solidarhaftung bestehen und sich auch Art. 44 Abs. 3 JStPO nicht ausdrücklich dazu äussert, ist das Gesetz auszulegen. Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text unklar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Ordnung zu unterstellen (sog. Methodenpluralismus). Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als bedeutendes Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (vgl. BGE 144 IV 217 E. 3.1).

1.2.4 Aus dem Wortlaut von Art. 44 Abs. 3 JStPO ergeben sich keine Voraussetzungen und/oder Einschränkungen auf Seiten der Eltern für die Solidarhaftung (vorbehältlich der Regeln für die Ermessensausübung; vgl. E. V.1.2.7 f.). Für eine voraussetzungslose Solidarhaftung der Eltern spricht auch der Vergleich mit weiteren Bestimmungen der JStPO, welche sich mit der Kostentragung der Eltern befassen. Gemäss Art. 25 Abs. 2 JStPO können die Eltern im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht zur Rückerstattung der Kosten der amtlichen Verteidigung verpflichtet werden. Art. 45 Abs. 5 JStPO bestimmt, dass sich die Eltern im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht an den Kosten der Schutzmassnahmen und der Beobachtung beteiligen. Diese beiden Bestimmungen setzen einerseits eine Unterhaltspflicht voraus, begrenzen die Kostentragung andererseits auch auf diese. Bei Art. 44 Abs. 3 JStPO fehlt ein Bezug zur Unterhaltspflicht. Daraus ist zu schliessen, dass die Solidarhaftung gemäss Art. 44 Abs. 3 JStPO nicht an die Unterhaltspflicht geknüpft ist. Es könnte aber auch argumentiert werden, dass dieser Bezug bei der Redaktion von Art. 44 Abs. 3 JStPO vergessen wurde. Denn es erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, wenn die Eltern nur im Rahmen der Unterhaltspflicht zur Rückzahlung der Kosten der amtlichen Verteidigung, mithin einem Teil der Verfahrenskosten (vgl. Art. 422 StPO), verpflichtet, bei den übrigen Verfahrenskosten aber unbeschränkt solidarisch haftbar erklärt werden können. Zu beachten gilt es aber, dass zwischen den Kosten der amtlichen Verteidigung und den übrigen Verfahrenskosten ein wesentlicher Unterschied besteht. Während die Kosten der amtlichen Verteidigung erst (zurück)bezahlt werden müssen, wenn es die wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben (vgl. Art. 135 Abs. 4 StPO), müssen die übrigen Verfahrenskosten grundsätzlich ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse umgehend bezahlt werden (vorbehältlich Art. 425 StPO). Bei der Rückzahlung der Kosten der amtlichen Verteidigung gemäss Art. 25 Abs. 2 JStPO besteht auch keine solidarische Verpflichtung, sondern eine direkte eigene Verpflichtung. Die unterschiedliche Regelung lässt sich aber auch dadurch begründen, dass der Ersatz der Verfahrenskosten eine Art von Schadenersatz ist. Schadenersatz ist keine «Auslage», die im Rahmen der Unterhaltspflicht zu berücksichtigen ist.

1.2.5 In seiner heutigen Form wurde Art. 44 (Abs. 3) JStPO erst im Parlament eingeführt. Der Entwurf des Bundesrates sah vor, dass die Verfahrenskosten ganz oder teilweise der oder dem verurteilten Jugendlichen oder ihren oder seinen Eltern auferlegt werden können, wenn sie über die notwendigen Mittel verfügen (Art. 43 Abs. 2 E-JStPO; BBl 2006 1561 ff., 1573). In der Botschaft wurde dazu nicht mehr ausgeführt, als sich auch dem Wortlaut ergibt (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1373). Die Kommission des Ständerates beantragte, die (abgesehen von einigen redaktionellen Unterschieden) heute geltende Fassung von Art. 44 JStPO zu verabschieden. Der Kommissionssprecher, Ständerat Hansheiri Inderkum, führte dazu Folgendes aus: «Die Ratio Legis dieses Antrages besteht darin, dass die Verfahrenskosten in der Regel vom oder von der Jugendlichen selbst oder von dessen oder deren Eltern getragen werden. Deshalb wurde in Absatz 1 das Wort «vorerst» eingefügt. Mit dem neuformulierten Absatz 2 ist klargestellt, dass insbesondere im Fall einer Verurteilung der oder die Jugendliche selbst die Verfahrenskosten zu tragen hat. Die Eltern können für die Kosten solidarisch haftbar gemacht werden. Man hat uns gesagt, dass diese Regelung weitgehend jener des Kantons Schaffhausen entspreche.» Der Bundesrat schloss sich dem Antrag an. Zum Absatz 3 hielt Bundesrat Christoph Blocher fest, dass die Eltern neu für die Verfahrenskosten solidarisch haftbar erklärt werden können. Dazu hätten sie nichts beizufügen. Der Ständerat verabschiedete die Bestimmung sodann gemäss dem Antrag der Kommission (AB 2007 S 1083 f.).

Eine Minderheit im Nationalrat wollte die Bestimmung dahingehend ändern, dass die Kosten in der Regel zu Lasten des Staates gehen. Die Mehrheit stimmte jedoch der vom Ständerat verabschiedeten Bestimmung zu. Der Kommissionssprecher, Nationalrat Daniel Jositsch, führte in der Debatte im Nationalrat an, die Frage der Kostenauferlegung sei im Jugendstrafverfahren insbesondere deshalb eine ähnliche wie im Erwachsenenstrafverfahren, weil es in der Regel nicht primär um den Jugendlichen gehe, sondern um seine Eltern. Deshalb genüge die Lösung des Erwachsenenstrafverfahrens auch für das Jugendstrafverfahren (AB 2008 N 1238). Aus den Debatten ist zuschliessen, dass die Eltern grundsätzlich immer für solidarisch haftbar erklärt werden können.

Gemäss dem oben zitierten Votum von Ständerat Hansheiri Inderkum entspreche der Antrag der Kommission – und somit die heute geltende Fassung – weitgehend der Regelung des Kantons Schaffhausen. Die entsprechende (damalige) Bestimmung des Kantons Schaffhausen lautete: «Die Eltern des Angeschuldigten oder Verurteilten können für die Kosten solidarisch haftbar erklärt werden» (vgl. Art. 41 Abs. 3 des damaligen Gesetzes über die Jugendstrafrechtspflege des Kantons Schaffhausen).

1.2.6 In teleologischer Hinsicht ist die Anwendung von Art. 333 ZGB bei der Frage der Solidarhaftung der Eltern wenig überzeugend. Art. 333 ZGB legt bei der Haftung des Familienoberhaupts für Unmündige im Sinne einer milden Kausalhaftung eine Beweislastumkehr fest. Die Norm statuiert somit eine zivilprozessuale Beweislastregel, welche im Strafprozessrecht, wo der Sachverhalt gemäss Art. 6 StPO von Amtes wegen erhoben wird, kaum sinnig umgesetzt werden könnte. Darüber hinaus ist der relative Sorgfaltsmassstab von Art. 333 ZGB stark vom Alter und der Reife des Kindes abhängig, welche das gesetzlich geforderte Mass an individueller Ermahnung, Instruktion, Verboten und Überwachung massgeblich beeinflusst. Dieses gebotene Mass richtet sich sodann nach den ortsüblichen Gepflogenheiten und muss berücksichtigen, dass Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit nicht allzu schwer eingeschränkt werden dürfen (BGE 100 II 298 E. 3a; BGE 133 III 556 E. 4 und insb. E. 5 bei knapp 3- bis 5-jährigen Kindern beim Schlitteln). Bei 15- bis 17-jährigen Jugendlichen im Teenager-Alter ist eine enge Überwachung durch die Eltern generell gesellschaftlich unüblich und damit nicht im Sinne von Art. 333 ZGB geboten. Die Anwendung der etablierten Standards der milden Kausalhaftung des Familienhaupts für seine Hausgenossen nach Art. 333 ZGB auf die Frage der Solidarhaftung nach Art. 44 Abs. 3 JStPO würde bei Teenagern in den meisten Fällen dazu führen, dass sich die Eltern mit dem Hinweis auf das Alter des Jugendlichen und der üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten, diesen einen Freiraum zu lassen, exkulpieren könnten. Dies würde dem dargelegten historischen Willen des Gesetzgebers widersprechen.

1.2.7 Zusammengefasst ergibt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik noch aus der parlamentarischen Debatte, dass die solidarische Haftung der Eltern durch Art. 333 ZGB begrenzt werden soll bzw. dass die Haftungsvoraussetzungen von Art. 333 ZGB erfüllt sein müssen. Dies wäre auch aus teleologischer Sicht kaum haltbar. Vielmehr ergibt sich aus der Debatte, insbesondere dem Mehrheitsvotum von Ständerat Hansheiri Inderkum, dass eine solidarische Haftung für die Kosten die Regel sein sollte, zu der es Ausnahmen geben könne, welche von den Gerichten als Rechtsanwender im Einzelfall zu prüfen seien. Den Gerichten soll nach der Auffassung des historischen Gesetzesgebers mithin bei der Solidarhaftung der Eltern nach Art. 44 Abs. 3 JStPO ein Ermessen zugestanden werden.

1.2.8 Bei Art. 44 Abs. 3 JStPO handelt es sich entsprechend auch um eine «Kann-Vorschrift», bei welchen das Gesetz den Strafbehörden ein weites Ermessen belässt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_1014/2021 vom 4. Oktober 2021 E. 3). Wird einer Behörde ein Ermessensspielraum eingeräumt, bedeutet dies nicht, dass sie völlig frei entscheiden kann. Freies Ermessen ist immer pflichtgemässes Ermessen, weil die dem staatlichen Organ eingeräumte Kompetenz eine Obliegenheit und keine Freiheit darstellt. Eine Ausübung des Ermessens erfolgt dann pflichtgemäss, wenn der Entscheid gestützt auf sachliche Kriterien und willlkürfrei ergeht. Denn nach Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von staatlichen Behörden ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 127 I 56 E. 2b). Willkür liegt u.a. dann vor, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 135 II 356 E. 4.2.1).

1.2.9 Eng verknüpft mit der pflichtgemässen Ausübung des Ermessens ist das Konzept der Billigkeit. Gemäss Art. 4 ZGB hat das Gericht seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen, wo das Gesetz auf das Ermessen oder auf die Würdigung der Umstände oder auch wichtige Gründe verweist. Entscheidungen nach Billigkeit beruhen auf richterlichem Ermessen (Urteil des Bundesgerichts 6B_1070/2015 vom 2. August 2016 E. 1.3.2). Ausgangspunkt der juristischen Orientierung an der Billigkeit ist die Einsicht, dass das Gesetz als allgemeine Bestimmung seiner Natur nach nicht für alle Einzelfälle immer das Richtige treffen kann. Durch Ermessenseinräumung und Verweisung auf die Billigkeit wird verhindert, dass die Anwendung der generell-abstrakten Norm infolge Veränderungen der Anschauungen und Verhältnisse zu unangemessenen Entscheidungen führt (Honsell, Basler Kommentar, 5. A. 2014, Art. 4 ZGB N 8). In Bezug auf die Stundung von Forderungen aus Verfahrenskosten (Art. 425 StPO) hielt das Bundesgericht fest, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse der kostenpflichtigen Person derart angespannt sein müssen, dass eine (ganze oder teilweise) Kostenauflage als unbillig erscheint. Das ist dann der Fall, wenn die Höhe der auferlegten Kosten unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der kostenpflichtigen Person deren Resozialisierung bzw. finanzielles Weiterkommen ernsthaft gefährden kann (Urteil des Bundesgerichts 6B_610/2014 vom 28. August 2014 E. 3).

Obergericht des Kantons Zug, Strafabteilung, 30. August 2023 (S 2023 6-8)

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