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Art. 391 Abs. 2 StPO, Art. 428 Abs. 3 StPO

Regeste:

Auch wenn die Staatsanwaltschaft den Entschädigungsanspruch des Beschuldigten nicht angefochten hat, kann dieser im Berufungsverfahren überprüft werden, wenn die Staatsanwaltschaft den Freispruch anficht und einen Schuldspruch beantragt. Zwischen Kosten- und Entschädigungsspruch besteht regelmässig ein enger Konnex und der Entschädigungsspruch folgt üblicherweise dem Kostenspruch. Ein Schuldspruch schliesst einen Entschädigungsanspruch des Beschuldigten aus. Die innere Einheit des Urteils würde daher verletzt, wenn dem Beschuldigten die Kosten auferlegt und gleichzeitig eine Entschädigung zugesprochen würde. Das Verschlechterungsverbot steht der Überprüfung des Entschädigungsspruch auch nicht entgegen (E. I.1.3.2-1.3.4).

Aus den Erwägungen:

I. Formelles

1. Eintreten und Umfang der Berufung

(…)

1.2 Im Berufungsverfahren gilt die Dispositionsmaxime. Der Berufungskläger muss in seiner Berufungserklärung angeben, ob er das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anficht (Art. 399 Abs. 3 lit. a StPO). Ficht er nur Teile des Urteils an, hat er in der Berufungserklärung verbindlich anzugeben, auf welche Teile (Schuldpunkt, allenfalls bezogen auf einzelne Handlungen, Bemessung der Strafe, etc.) sich die Berufung beschränkt (Art. 399 Abs. 4 StPO). Das Beru-fungsgericht überprüft das erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten (Art. 404 Abs. 1 StPO). Es kann zugunsten der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern (Art. 404 Abs. 2 StPO). Soweit die Einschränkung der Berufung auf einzelne Punkte eindeutig und der Grund-satz der Untrennbarkeit oder inneren Einheit nicht verletzt ist, muss die Einschränkung durch das Berufungsgericht respektiert werden. Die nicht angefochtenen Urteilspunkte werden – unter dem Vorbehalt von Art. 404 Abs. 2 StPO – rechtskräftig. Eine spätere Ausdehnung der Berufung ist ausgeschlossen, nicht aber eine weitere Beschränkung (vgl. dazu umfassend Urteil des Bundesgerichts 6B_1403/2019 vom 10. Juni 2020 E. 1.3 m.H.).

1.3 Die Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft ist darauf ausgerichtet, den Freispruch der Vor­instanz aufzuheben. Sie beantragt, dass der Beschuldigte wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen und zu sanktionieren sei. Die Berufungserklärung unterlässt es indessen, neben den genannten Anträgen explizit weitere für den Staat nachteilige Punkte im Urteilsdispositiv der Vor­instanz anzufechten, so Ziff. 2 des Urteilsdispositivs (Kostentragung Staat) und Ziff. 3 des Dispositivs (Entschädigung von CHF 30'000.– zu Lasten Staat).

1.3.1 Betreffend den Kostenspruch gilt indessen Art. 428 Abs. 3 StPO, wonach über die Kostenregelung bei einem neuen Entscheid der Rechtsmittelinstanz von Amtes wegen zu entscheiden ist (Urteil des Bundesgerichts 6B_655/2018 vom 4. April 2019 E 2.3). Das Verschlechterungsverbot gemäss Art. 391 Abs. 2 StPO greift somit beim Kostenpunkt von Gesetzes wegen nicht.

1.3.2 Es stellt sich mithin die Frage, ob diese Feststellungen – dem Gedanken von Art. 428 Abs. 3 StPO folgend – auch auf den Entschädigungspunkt übertragen werden können. Den Parteien wurde die Thematik an der Berufungsverhandlung eröffnet und sie wurden ersucht, dazu Stellung zu nehmen.

1.3.3 Betreffend die von der Vorinstanz festgelegte Entschädigung von CHF 30'000.– an den Beschuldigten im Zusammenhang mit den Aufwendungen seiner erbetenen Verteidigung im Untersuchungsverfahren und im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren ist vorab festzuhalten, dass zwischen dem Kosten- und Entschädigungsspruch regelmässig ein sehr enger Konnex besteht. So folgt der Entschädigungsspruch aufgrund der inhaltsgleichen Regelungen von Art. 426 Abs. 1 und 2 StPO sowie Art. 429 Abs. 1 und Art. 430 Abs. 1 StPO üblicherweise dem Kostenspruch. Entsprechend ist es sachgerecht, bei einem reformatorischen Entscheid nicht nur über die Kosten von Amtes wegen zu entscheiden, sondern auch über die Entschädigung. Dies insbesondere dann, wenn dies in Bezug auf die Berufungsanträge der Parteien wegen der Kohärenz des Urteils als notwendig erscheint, beispielsweise wenn wie vorliegend die Staatsanwaltschaft in ihrer Berufungserklärung einen vollumfänglichen Schuldspruch beantragt, was nach der gesetzlichen Konzeption von Art. 436 Abs. 1 und Art. 429 Abs. 1 StPO eine Entschädigung ausschliesst. In der vorliegenden Prozesskonstellation würde mithin die innere Einheit des Urteilspruchs verletzt, wenn beispielsweise eine Kostenauferlegung nach Art. 426 Abs. 2 StPO gleichzeitig mit einer Entschädigung gestützt auf Art. 429 Abs. 1 StPO einhergehen würde.

1.3.4 Art. 391 Abs. 2 StPO steht dieser Auffassung nicht entgegen. So hat sich das Bundesgericht in BGE 139 IV 282 E. 2.5 dafür ausgesprochen, dass das Verschlechterungsverbot nicht nur für die Sanktion gilt, sondern auch für die rechtliche Qualifikation der Tat. Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt Art. 391 Abs. 2 StPO nicht zu. So gilt das Verbot der reformatio in peius beispielsweise bei Verwahrungen oder einer stationären Massnahme nicht (BGE 123 IV 1 E. 4c; Urteil des Bundesgerichts 6B_805/2019 vom 6. Juni 2019 E. 1.3.4). Sodann hat auch das Obergericht des Kantons Zug entschieden, dass Art. 391 Abs. 2 StPO bei Ersatzforderungen keine Anwendung findet (GVP 2012 S. 220 ff.), während das Bundesgericht die entsprechende Frage zumindest offen liess (Urteil des Bundesgerichts 6B_1438/2017 vom 12. Oktober 2018 E. 2.4). Überdies findet Art. 391 Abs. 2 StPO wie erwähnt gemäss Art. 428 Abs. 3 StPO von Gesetzes wegen bei der Kostenregelung der Vor­instanz keine Anwendung. Entsprechend kann das Gericht den Entschädigungsspruch der Vorinstanz von Amtes wegen ohne Verletzung von Art. 391 Abs. 2 StPO abändern, wenn dies im Einklang mit den Berufungsanträgen der Staatsanwaltschaft als sachgerecht erscheinen würde.

Obergericht des Kantons Zug, Strafabteilung, 21. April 2023 (S 2022 38)

 

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