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Art. 714 OR – Nichtigkeit von Verwaltungsratsbeschlüssen

Regeste:

Es liegt in der Kompetenz des Vorsitzenden, eine Verwaltungsratssitzung abzubrechen und formell zu beenden, sofern eine ordnungsgemässe Durchführung nicht sichergestellt werden kann. Der Entscheid, die Sitzung zu beenden, ist ein Verfahrensentscheid. Er ist nicht gleichzusetzen mit dem Entscheid, die Beratung oder Abstimmung über einen traktandierten Verhandlungsgegenstand zu vertagen. Führt ein Teil der Verwaltungsräte eine für formell beendet erklärte Verwaltungsratssitzung dennoch fort, handelt es sich um eine informelle Versammlung unter gewissen Mitgliedern, an der keine gültigen Verwaltungsratsbeschlüsse gefasst werden können (E. 4.2.4 f.).

Aus dem Sachverhalt:

(…)

1.3 Am 26. Juli 2021 lud der Gesuchsteller als Präsident des Verwaltungsrats zu einer Verwaltungsratssitzung der Gesuchsgegnerin [Aktiengesellschaft] auf den 16. August 2021 ein, wobei es inhaltlich im Wesentlichen um den Jahresabschluss 2020 gehen sollte.

1.4 Mit Schreiben vom 11. August 2021 ersuchte A. [ein weiterer Verwaltungsrat der Gesuchsgegnerin] den Gesuchsteller darum, u.a. die folgenden zusätzlichen Traktanden zur Abstimmung zu bringen: Suspendierung des Gesuchstellers als Mitglied des Verwaltungsrats und Entlassung des Gesuchstellers aus allen Führungspositionen innerhalb der L.-Gruppe, Ernennung von A. zum Verwaltungsratspräsidenten mit sofortiger Wirkung, unverzügliche Einberufung einer ausserordentlichen Aktionärsversammlung der Gesellschaft zur Abwahl des Gesuchstellers als Verwaltungsratsmitglied und zur Wahl von K. als neues Verwaltungsratsmitglied, Aufhebung der Zeichnungsberechtigung des Gesuchstellers und Erteilung der Einzelzeichnungsberechtigung an A., K. und M. etc. In diesem Schreiben hielt A. weiter fest, er werde anlässlich der Verwaltungsratssitzung durch Rechtsberater und Übersetzer begleitet werden.

1.5 Am 16. August 2021 fand eine Verwaltungsratssitzung der Gesuchsgegnerin über das Video­konferenzsystem «Zoom» statt. Der Gesuchsteller stellte als Vorsitzender zunächst fest, dass alle Verwaltungsratsmitglieder anwesend seien, und eröffnete die Sitzung. Er gab bekannt, dass keine Vertreter, Anwälte, Übersetzer oder andere Nicht-Verwaltungsratsmitglieder zur Sitzung zugelassen würden. Da sich noch eine unbekannte Drittpartei in die Sitzung eingewählt hatte, forderte der Gesuchsteller die Drittpartei auf, die Videokonferenz zu verlassen, andernfalls würde er die Sitzung für beendet erklären. Trotz mehrmaliger Aufforderung weigerte sich die Drittpartei, die Sitzung zu verlassen. Danach wies der Gesuchsteller darauf hin, dass die Verwaltungsratssitzung nicht ordnungsgemäss durchgeführt werden könne, und er erklärte nach seiner Darstellung die Sitzung für beendet. Im Anschluss loggte er sich aus. Nachdem der Gesuchsteller die Sitzung verlassen hatte, führte A. diese Sitzung fort. Dabei wurden die vom Gesuchsteller in seiner Einladung vom 26. Juli 2022 aufgeführten Traktanden abgelehnt, während die Traktanden von A. gemäss seinem Schreiben vom 11. August 2022 genehmigt wurden.

(…)

Aus den Erwägungen:

(…)

4.2.3 Verwaltungsratsbeschlüsse können sowohl aus formellen wie auch aus materiellen Gründen nichtig sein. Aus formellen Gründen ist ein Verwaltungsratsbeschluss insbesondere dann nichtig, wenn ein Nichtbeschluss vorliegt, weil beispielsweise der Beschluss von einem anderen Organ als dem Verwaltungsrat gefasst wurde (z.B. vom Präsidenten oder einem Ausschuss), gar keine Willensäusserung des Verwaltungsrats vorliegt, lediglich eine informelle Versammlung stattgefunden hat (unter Vorbehalt der ausdrücklich von allen Mitgliedern akzeptierten Durchführung einer Universalversammlung) oder bereits die Wahl des Verwaltungsrats nichtig gewesen ist (Wernli/Rizzi, Basler Kommentar, 5. A. 2016, Art. 714 OR N 12; Böckli, Schweizer Aktienrecht, 5. A. 2022, § 9 Rz 333; von der Crone, Aktienrecht, 2. A. 2020, S. 631). Die Vorbereitung und die Leitung einer Verwaltungsratssitzung obliegt dem Verwaltungsratspräsidenten. Ist dieser verhindert, übernimmt der Vizepräsident seine Funktion als Vorsitzender (Wernli/Rizzi, a.a.O., Art. 712 OR N 3 und 8). Der Verhandlungsleiter (Vorsitzende) hat in der Sitzung besondere Aufgaben zu erfüllen. Diese beginnen damit, dass er die Versammlungsteilnehmer begrüsst und gleich zu Beginn die Regelung hinsichtlich der Protokollführung bekannt gibt (Müller/Lipp/Plüss, Der Verwaltungsrat, 4. A. 2014, S. 267). Der Vorsitzende stellt die Präsenz fest und erläutert die Traktanden. Die Mitglieder des Verwaltungsrats haben die Gelegenheit, zusätzliche Traktanden zu nennen (Hungerbühler, Der Verwaltungsratspräsident, 2003, S. 105). Lässt der Vorsitzende Dritte zu, kann jedes Mitglied dagegen Einspruch erheben, worauf die Mehrheit entscheidet (Müller/Lipp/Plüss, a.a.O., S. 267; vgl. Böckli, a.a.O., § 9 Rz 157). Die Einladung von Gästen ist nur nach jeweiliger Absprache mit dem Vorsitzenden möglich (Müller/Horber, Jahres- und Sitzungsplanung des Verwaltungsrates, SJZ 114 [2018] S. 272). Sie stellt eine Ausnahme dar (Böckli, a.a.O., § 9 Rz 157). Im Rahmen der Leitung der Verwaltungsratssitzung hat der Vorsitzende insbesondere unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots zu bestimmen, wer wann zu Wort kommt. Unter Wahrung des Meinungsäusserungsrechts steht dem Vorsitzenden das Recht zu, Weisungen zur Ordnung der Verhandlungen zu erlassen. So kann er beispielsweise nach einer gewissen Dauer einer Debatte eine Redezeitbeschränkung einführen oder den Abschluss der Beratungen feststellen und zur BesUrteil des Obergerichts des Kantons Zug, II. Zivilabteilung, vom 5. Januar 2023 (Z2 2022 37)chlussfassung übergehen. Gegen die Entscheide des Vorsitzenden zur Verhandlungsführung kann jedes Mitglied des Verwaltungsrats Einsprache an den Gesamtverwaltungsrat erheben (Art. 715a Abs. 5 OR analog). Macht ein Mitglied des Verwaltungsrats von diesem Recht Gebrauch, so hat der Gesamtverwaltungsrat darüber zu entscheiden, ob die vom Vorsitzenden angeordnete Massnahme aufrechterhalten bleiben soll oder nicht (von der Crone, a.a.O., S. 616 m.w.H.). Der Verwaltungsrat kann nicht nur einen Verfahrensentscheid des Vorsitzenden aufheben, er kann auch selbst eine Verfahrensanordnung erlassen. Im Gegensatz zum Vorsitzenden kann der Verwaltungsrat einen Entscheid allerdings nur auf Antrag eines Mitglieds hin fällen (Hungerbühler, a.a.O., S. 100 f.). Bei der Beschlussfassung innerhalb des Verwaltungsrats zählt zwingend das Kopfstimmprinzip (von der Crone, a.a.O., S. 617). Über die Verhandlungen und Beschlüsse des Verwaltungsrats ist ein Protokoll zu führen, das vom Vorsitzenden und vom Sekretär zu unterzeichnen ist (Müller/Lipp/Plüss, a.a.O., S. 268). Das Ende der Verwaltungsratssitzung ist vom Vorsitzenden formell festzuhalten (Forstmoser, Organisation und Organisationsreglement der Aktiengesellschaft, 2011, S. 265).

4.2.4 Der Gesuchsteller lud am 26. Juli 2021 zur Verwaltungsratssitzung vom 16. August 2021 ein, wobei unbestritten blieb, dass er in der Einladung die Teilnahme von externen Beratern – mit Ausnahme der Revisionsstelle während des Traktandums 1 – explizit untersagte («No external advisers are allowed to participate in the meeting.»). Am 16. August 2021 eröffnete er die Verwaltungsratssitzung und beendete diese jedoch kurze Zeit später wieder aufgrund der Teilnahme von Drittpersonen (vgl. E. 4.1.3). Im vorinstanzlichen Verfahren blieb unbestritten, dass sich unter den Teilnehmern auch Drittpersonen befanden, deren Identität dem Gesuchsteller (als Vorsitzendem) nicht bekannt waren und die er nicht eingeladen hatte. Da die Einladung von Gästen nur nach vorgängiger Absprache mit dem Sitzungsleiter möglich ist, eine solche aber weder behauptet noch glaubhaft gemacht wurde, und der Gesuchsteller ausserdem in seiner Funktion als Sitzungsleiter bereits in der Einladung die Teilnahme von externen Beratern untersagt hatte, handelte es sich vorliegend bei der Teilnahme der Rechtsvertreter und der Übersetzer von A. an der Verwaltungsratssitzung vom 16. August 2021 um einen Verstoss gegen die Anordnung des Vorsitzenden. Nachdem der Gesuchsteller die unbefugt eingewählten Dritten mehrfach erfolglos aufgefordert hatte, die Videokonferenz zu verlassen, war der Gesuchsteller berechtigt, die Verwaltungsratssitzung abzubrechen und formell zu beenden. Bei diesem Entscheid des Gesuchstellers handelte es sich nicht um die Vertagung der Beratung oder Abstimmung über einen traktandierten Verhandlungsgegenstand auf eine künftige Verwaltungsratssitzung (vgl. zur Vertagung: Hungerbühler, a.a.O., S. 113), sondern um einen Verfahrensentscheid zur Sicherstellung einer ordnungsgemässen Durchführung der Sitzung vom 16. August 2021. Dieser Entscheid lag in der Kompetenz des Vorsitzenden. Und selbst wenn der Gesuchsteller mit dem Abbruch bzw. der Beendigung der Verwaltungsratssitzung seine Kompetenzen als Sitzungsleiter überschritten haben sollte, legt die Gesuchsgegnerin nicht dar, dass sie bereits im vorinstanzlichen Verfahren vorgebracht hat, die Beendigung der Verwaltungsratssitzung sei entgegen dem Willen der übrigen Verwaltungsräte, d.h. A. und K., erfolgt. Auch hat sie im vorinstanzlichen Verfahren nicht geltend gemacht, dass ein Antrag eines anderen Verwaltungsrats auf Weiterführung der Verwaltungsratssitzung gestellt oder der Entscheid des Präsidenten betreffend die Beendigung der Sitzung durch einen Mehrheitsbeschluss des Verwaltungsrats aufgehoben worden wäre, bevor der Verwaltungsratspräsident das Zoom-Meeting verliess. Eine solche Beschlussfassung ergibt sich denn auch nicht aus den beiden vorliegenden Protokollen der Verwaltungsratssitzung vom 16. August 2021. Die erst im Berufungsverfahren aufgestellte Behauptung, der Gesuchsteller habe die Verwaltungsratssitzung entgegen dem Willen der übrigen Verwaltungsräte beendet, erfolgt verspätet. Die Gesuchsgegnerin legt nicht dar (und es ist auch nicht ersichtlich), dass diese neue Tatsachenbehauptung ohne Verzug vorgebracht und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Deshalb kann sie im Berufungsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. Art. 317 Abs. 1 ZPO).

4.2.5 Da die Verwaltungsratssitzung vom 16. August 2021 vom Gesuchsteller als Vorsitzendem für beendet erklärt wurde und die übrigen Verwaltungsräte nicht dagegen opponiert haben, ist die Sitzung als formell beendet zu betrachten. Folglich konnte diese Verwaltungsratssitzung – anders als bei einem Unterbruch – nicht mehr von den in der Videokonferenz verbleibenden Personen fortgeführt werden. Damit nach der Beendigung der Verwaltungsratssitzung gültige Verwaltungsratsbeschlüsse hätten gefasst werden können, hätte vorliegend – da nach dem Verlassen des Zoom-Meetings durch den Gesuchsteller die Voraussetzungen einer Universalversammlung des Verwaltungsrats nicht mehr gegeben waren – der Verwaltungsratspräsident zu einer neuen Verwaltungsratssitzung einladen müssen. Dies war jedoch nicht der Fall. A. und K. hielten daher lediglich eine informelle Versammlung unter zwei Mitgliedern des Verwaltungsrats ab, an der jedoch keine gültigen Verwaltungsratsbeschlüsse gefasst werden konnten. Die Vorinstanz ist daher zu Recht zum Schluss gelangt, dass die Fortführung der Sitzung durch A. unzulässig war und es glaubhaft ist, dass die von A. und K. gefassten Beschlüsse nichtig sind.

(…)

Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, II. Zivilabteilung, vom 5. Januar 2023 (Z2 2022 37)
Das Urteil ist rechtskräftig.

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