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§ 4 Inkassohilfe- und Bevorschussungsgesetz und Art. 25 ZGB

Regeste:

§ 4 Abs. 1 Inkassohilfe- und Bevorschussungsgesetz – Die zuständige Gemeinde leistet die im richterlichen Entscheid oder im vormundschaftlich genehmigten Unterhaltsvertrag festgelegten Unterhaltsbeiträge. Der zivilrechtliche Wohnsitz der betroffenen Person ist auch für die Alimentenbevorschussung relevant. (Erw. II. 3.).

Art. 25 Abs. 1 ZGB – Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz. Ist keine der genannten Konstellationen einschlägig, gilt somit der Aufenthaltsort des Kindes als dessen zivilrechtlicher Wohnsitz (Erw. II. 4.3.).

Aus dem Sachverhalt:

A. A. B. ist am 28. Januar 2007 geboren. Sie ist die Tochter von C. B. (S., AR) und D. E. (T., GR, zur Zeit Justizvollzugsanstalt J, U., GR). Die elterliche Sorge für A tragen die Eltern gemeinsam.

B. Seit dem 14. Oktober 2008 haben die Eltern C. B. und D. E. keinen gemeinsamen Wohnsitz mehr. C. B. oblag sodann die Obhut über A. B.. Seit dem 27. Juli 2012 besteht zudem eine Beistandschaft für A..

C. Mit superprovisorischer Verfügung vom 6. November 2020 entzog die KESB Appenzell Ausserrhoden den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht. (…)

D. Mit Entscheid vom 25. Februar 2021 bestätigte die KESB Appenzell Ausserrhoden den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und verfügte die behördliche Unterbringung von A. B. vom 25. Februar 2021 bis 29. Juni 2021 in der Sozialpädagogischen Wohngruppe K. (V., AR). (…)

E. Mit Entscheid vom 29. Juni 2021 hat die KESB Appenzell Ausserrhoden A. B. superprovisorisch im Kantonalen Jugendheim M., W., SG, fürsorgerisch behördlich für einen befristeten Aufenthalt (6 Wochen) untergebracht. (…) A. B. hielt sich schlussendlich bis am 13. September 2021 im Kantonalen Jugendheim M. auf.

F.  Seit dem 1. August 2021 ist F. G. als neue Beistandsperson durch die KESB Appenzell Ausserrhoden eingesetzt. Mit Bericht vom 9. September 2021 informierte die Beiständin die KESB Appenzell Ausserrhoden, dass A. B. per 13. September 2021 in die Pflegefamilie H. I. (X., ZG) übertreten könne.

G.  Ab dem 13. September 2021 war A. B. sodann durch die KESB Appenzell Ausserrhoden über die Organisation N. (Ambulante und stationäre Kinder- & Jugendbetreuung, Y., ZH) bei H. I. und R. Q. in X., ZG, untergebracht. Am 27. Juli 2022 wechselte A. B. zu P. und O. Z., welche ebenfalls in X., ZG, wohnen.

H.  Mit Entscheid vom 25. Oktober 2021 verfügte die Alimentenhilfe S., AR, die Einstellung der Inkassohilfe und Bevorschussung für A. B. rückwirkend per 28. Februar 2021.

I. Nachdem das Gesuch um Übernahme der Alimentenbevorschussung und Inkassohilfe per 13. September 2021 zuerst beim Kinder- und Jugendhilfezentrum (kjz) AE und beim kjz OE eingereicht worden war, stellte P. UE., Beraterin Sozialhilfe Gemeinde S., den durch die Beistandsperson F. G. unterzeichneten Antrag vom 24. März 2022 auf Bevorschussung der Unterhaltsbeiträge für A. B. mit E-Mail vom 7. April 2022 bei der Alimenteninkassostelle eff-zett, Ü. Diesen Antrag lehnte eff-zett aufgrund der fehlenden Zuständigkeit der Einwohnergemeinde X. am 26. April 2022 ab. (…)

J. (…)

K. Mit Beschluss vom 14. Juli 2022 erliess der Gemeinderat X, ZG, handelnd durch die Abteilung Soziales, eine beschwerdefähige Verfügung und wies die Beschwerde ab. In der Begründung führte er aus, dass A. B. in X. keinen Wohnsitz nach Art. 25 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 (ZGB; SR 210) habe. Gemäss den Ausführungen im Basler Kommentar gehe der Gesetzgeber bei der Interpretation von Art. 25. Abs. 1 ZGB nämlich vom Grundsatz eines abgeleiteten Wohnsitzes aus: Stehe das Kind unter der elterlichen Sorge beider Eltern und hätten diese keinen gemeinsamen Wohnsitz, so befände sich der Wohnsitz des Kindes am Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind stehe. Massgebend sei nur die formelle Obhutsberechtigung, welche einem Elternteil im Rahmen einer Kindes- oder Eheschutzmassnahme sowie während eines Scheidungsprozesses übertragen werde. Unerheblich sei somit, wo sich das Kind tatsächlich aufhalte und von wem es betreut werde. (…)

L. Mit Schreiben vom 3. August 2022 erhob die Gemeinde S., handelnd durch das Ressort Soziales (nachfolgend: Beschwerdeführerin), Verwaltungsbeschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zug gegen den Entscheid der Einwohnergemeinde X. (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) vom 14. Juli 2022. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Beschwerdegegnerin zur Leistung der Alimentenbevorschussung ab dem 21. September 2021 (recte: 13. September 2021) zu verpflichten; eventualiter sei der Wohnsitz von A. B. festzustellen; dies unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin. Die Beschwerdeführerin macht in der Begründung u.a. geltend, dass gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung das Kind Wohnsitz an dessen Aufenthaltsort erhalte, wenn sowohl bei beiden Elternteilen die Obhut entzogen wurde und die Elternteile nicht mehr gleichen Wohnsitz haben. Dabei sei gemäss Bundesgericht derjenige Zeitpunkt relevant, an welchem sich die zweite Bedingung (Entzug Obhut oder Aufgabe gemeinsamer Wohnsitz) realisiere. (…)

(…)

Aus den Erwägungen:

(…)

II.

1. Unbestritten zwischen den Parteien ist vorliegend, dass A. B. ab dem 13. September 2021 bei H. I. und R. Q. in X., ZG, untergebracht wurde. Strittig ist in casu, wo A. B. ihren Wohnsitz hat und welches Gemeinwesen ab dem 13. September 2021 für die Alimentenbevorschussung der Unterhaltsbeträge zuständig ist (…).

2. (…)

3. Die Beschwerdegegnerin führt im Entscheid vom 14. Juli 2022 aus, dass sowohl weder aufgrund des zivilrechtlichen Wohnsitzes noch aufgrund des Unterstützungswohnsitzes nach ZUG eine Zuständigkeit der Gemeinde X. gegeben sei. Vorab zu klären ist daher, ob für die Zuständigkeit der Alimentenbevorschussung der zivilrechtliche Wohnsitz oder der Unterstützungswohnsitz massgeben ist.

Gemäss § 4 Abs. 1 Inkassohilfe- und Bevorschussungsgesetz leistet die zuständige Gemeinde die im richterlichen Entscheid oder im vormundschaftlich genehmigten Unterhaltsvertrag festgelegten Unterhaltsbeiträge. Welches die zuständige Gemeinde ist, wird hingegen weder im Gesetzes- noch im Verordnungstext weiter spezifiziert. Der Bericht und Antrag des Regierungsrats vom 28. September 1992 zum Gesetz über Inkassohilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträge (Inkassohilfe- und Bevorschussungsgesetz; Vorlage Nr. 7841) hält zu § 4 fest, dass die Zuständigkeit – wie bei der Inkassohilfe – bei der vormundschaftlich zuständigen Gemeinde liegt. Die vormundschaftliche Gemeinde entspricht seit 2013 der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Gemäss Art. 442 Abs. 1 ZGB ist die Erwachsenenschutzbehörde am Wohnsitz der betroffenen Person zuständig. Relevant ist dabei der zivilrechtliche Wohnsitz. Folglich ist der zivilrechtliche Wohnsitz auch für die Alimentenbevorschussung relevant.

4. Nachfolgend zu klären ist somit, wo sich der zivilrechtliche Wohnsitz von A. B. seit dem 13. September 2021 befindet.

4.1. Die Beschwerdegegnerin ist der Ansicht, dass der Wohnsitz von A. B. am Wohnsitz ihrer Mutter gegeben sei. Sie erachtet die formelle Obhutsberechtigung als massgebend und sieht diese in der Unterhalts- und Sorgerechtsvereinbarung vom 15. Oktober 2007, wonach die Obhut im Falle einer Trennung bei der Mutter liege, als gegeben. Die Beschwerdeführerin stellt sich dagegen auf den Standunkt, dass der zivilrechtliche Wohnsitz von A. B. an ihrem Aufenthaltsort in X. sei, da beide Eltern nicht mehr am gleichen Ort wohnen würden und ihnen die Obhut entzogen sei.

4.2. Nach Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person grundsätzlich an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Der Wohnsitzbegriff setzt sich aus einem objektiven, äusseren (physischer Aufenthalt) und einem subjektiven, inneren Element (Absicht dauernden Verbleibens) zusammen. Bei der Absicht des dauernden Verbleibens ist nicht auf den tatsächlichen Willen einer Person abzustellen. Zu ermitteln ist vielmehr, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen (BGE 137 II 122 E. 3.6). Um den Wohnsitz einer Person festzustellen, ist die Gesamtheit ihrer Lebensumstände in Betracht zu ziehen: Der Mittelpunkt der Lebensinteressen befindet sich an denjenigen Ort, wo sich die meisten Aspekte des persönlichen, sozialen und beruflichen Lebens der betroffenen Person konzentrieren, sodass deren Beziehungen zu diesem Zentrum enger sind als jene zu einem anderen Ort (BGE 125 III 100 E. 3.). Der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet sich im Normalfall am Wohnort, wo man schläft, die Freizeit verbringt und wo sich die persönlichen Effekten befinden, nicht am Arbeitsort (BSK ZGB I- STAEHELIN, 6. Aufl. 2018, Art. 23 N 6). Dabei lässt sich gemeinhin kein strikter Beweis erbringen, sodass eine Abwägung aufgrund von Indizien erforderlich ist. Dies bedingt eine sorgfältige Berücksichtigung und Gewichtung sämtlicher Berufs-, Familien- und Lebensumstände (Urteil des Bundesgerichts 2C_270/2012 vom 1. Dezember 2012 E. 2.3.). Unmassgebend für den zivilrechtlichen Wohnsitz ist, wo eine Person angemeldet ist und ihre Schriften hinterlegt hat (BGE 133 V 309, 313; 132 I 29, 36; 131 I 145, 149; 127 V 241; 125 III 101; 123 I 293 f.; 108 Ia 255; 102 IV 164; 88 III 139; BGer vom 1.12.2012, 2C_270/2012, E. 2.3; ASA 63, 1994/95, 839; ZR 1983, 144).

4.3. Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz (Art. 25 Abs. 1 ZGB). Ist keine der genannten Konstellationen einschlägig, gilt nach Art. 25 Abs. 1 ZGB somit der Aufenthaltsort des Kindes als dessen zivilrechtlicher Wohnsitz. Für den Aufenthalt genügt die tatsächliche Ortsanwesenheit. (…)

4.4. A. B. steht unter der elterlichen Sorge ihrer Eltern, die keinen gemeinsamen Wohnsitz mehr haben. Am 6. November 2020 wurde beiden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Somit steht den Eltern von A. B. seit dem 6. November 2020 zwar noch die elterliche Sorge, nicht aber die Obhut zu. Gestützt auf Art. 25 Abs. 1 ZGB und das in Ziff. 4.3. erwähnte Urteil hatte A. B. ihren zivilrechtlichen Wohnsitz somit ab dem 6. November 2020 an ihrem Aufenthaltsort. Beim zivilrechtlichen Wohnsitz steht dem Anknüpfungspunkt am Aufenthaltsort des Kindes auch eine Fremdplatzierung nicht entgegen resp. kann der Wohnsitz eines minderjährigen Kindes auch nach dessen Fremdplatzierung noch ändern (vgl. E. 4.3). Folglich befindet sich der Wohnsitz von A. B. seit dem 13. September 2021, als sie nach X. zog, in X..

5. Die Einwohnergemeinde X. hat als zuständige Gemeinde die Unterhaltsbeiträge ab dem 13. September 2021 somit zu bevorschussen, wenn auch die weiteren Voraussetzungen nach dem Inkassohilfe- und Bevorschussungsgesetz erfüllt sind.

(…)

6. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich per 13. September 2021 der zivilrechtliche Wohnsitz von A. B. in X., ZG, und nicht bei der Mutter in S., AR, befunden hat. Die Eltern von A. B. haben den Wohnsitz seit dem 14. Oktober 2008 nicht am gleichen Ort und beiden Elternteilen wurde die Obhut beziehungsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind am 6. November 2020 entzogen. Somit bestimmt sich der Wohnsitz von A. nach den zivilrechtlichen Regeln nach dem Ort ihres – gewöhnlichen oder schlichten – Aufenthalts. Da A. B. ab dem 13. September 2021 dauerhaft bei den Pflegeeltern in X., ZG untergebracht war, hat sie zivilrechtlichen Wohnsitz an ihrem Aufenthaltsort bei den Pflegeeltern in X., ZG begründet.

7. Die Verwaltungsbeschwerde ist begründet und gutzuheissen.

(…)

Beschluss des Regierungsrats vom 14. März 2023 (DI 2023-030)

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