Geheimnisse im Briefkasten
Beitrag in der Rubrik «U20» der Zuger Zeitung vom 27. Januar 2020
Um Viertel vor sieben erhalte ich die Kampfansage meines Weckers. Ich lasse mich nicht darauf ein, sondern stehe ohne Umschweife auf. Schliesslich habe ich den Wecker selber gestellt. Früher erwachte ich zur angenehmen Stimme meiner Mutter. Heute bin ich verantwortlich dafür, pünktlich in der Schule oder an Terminen zu erscheinen und diese nicht zu vergessen.
Als Kind dachte ich, Erwachsene wüssten alles und hätten immer Recht. Ich wollte nie erwachsen werden, denn Erwachsene waren immerzu gestresst und hatten haufenweise Aufgaben zu erledigen. Andererseits durften sie so viele Süssigkeiten essen, wie sie wollten und niemand schrieb ihnen vor, wann sie ins Bett mussten. Ebenso lagen jeden Tag Briefe im Briefkasten, deren Geheimnisse man nur als Erwachsener kennen durfte. Gerne holte ich die Post und hoffte dabei stets, dass ein Brief für mich dabei wäre, vielleicht sogar einer aus Hogwarts. Erhielt ich einen Brief, öffnete ich ihn sofort an Ort und Stelle. Oft handelte es sich um einen handgeschriebenen Brief einer Freundin. Wir pflegten regen Briefaustausch, obwohl wir nicht weit entfernt wohnten. Noch bin ich nicht erwachsen, aber ich weiss, dass Erwachsene nicht alles wissen und dass auch ich nie alles wissen werde. Anders als früher möchte ich aber gerne erwachsen werden.
Meine Ausgehzeiten sind nun länger als früher. Dies gibt mir die Freiheit, mich auch am Abend mit einer Freundin zu treffen, um beispielsweise einen Film spätabends im Kino zu schauen, ohne die Begleitung einer meiner älteren Schwestern.
Nun trage ich die Verantwortung für grössere Entscheidungen, beispielsweise die Wahl des Schwerpunktfachs Biologie und Chemie. Es ist ein grossartiges Gefühl, selber auch bedeutende Entscheidungen zu treffen. Denn so kann ich immer mehr selber bestimmen.
Hin und wieder bin ich unentschlossen und zweifle. Ich übernehme aber gerne mehr Verantwortung, wenn ich mit ihr ein Stück Freiheit gewinne. Mir gefallen zwar meine neuen Freiheiten, nichtsdestotrotz stelle ich nicht gerne meinen Wecker.