Jugendliche nehmen Stellung
Im Unterricht beschäftigen sich unsere Lernenden mit (Wirtschafts-) Themen, die im täglichen Leben relevant sind, und äussern dazu ihre Meinung. Diese muss nicht mit derjenigen der Wirtschaftsmittelschule übereinstimmen. Sporadisch wird an dieser Stelle ein Text publiziert.
________________________________________________________________________
Lara Müller und Kári Sigurjónsson
„Wozu brauchen wir das später?“ – Die meistgestellte Frage im Unterricht
„Wofür brauchen wir das später?“ kaum eine Frage taucht im Unterricht so zuverlässig auf wie diese. Sie kommt leise aus der letzten Reihe oder laut und verzweifelt mitten in der Stunde. Ob bei komplizierten Gleichungen, Gedichtanalysen oder chemischen Formeln früher oder später stellt sie jemand. Und ehrlich gesagt: Wer hat sie sich nicht schon selbst gestellt?
Oft wird diese Frage als Faulheit oder Desinteresse gesehen. Dabei wünscht man sich doch nur Sinn. Ein Schüler, der fragt, warum er Gedichtvergleiche lernen soll, ist nicht automatisch lernfaul. Vielleicht ist er einfach nur ehrlich genug, auszusprechen, was viele Erwachsene längst verdrängt haben: dass Lernen ohne erkennbare Bedeutung frustrierend ist.
Besonders heute, in einer Zeit, in der Künstliche Intelligenz Formeln löst, Texte analysiert und sogar Aufsätze schreibt, wirken manche Unterrichtsthemen wie Relikte aus einer anderen Epoche. Brauchen wir wirklich noch das Auswendiglernen chemischer Reaktionsgleichungen, wenn ein Handy das schneller und fehlerfrei kann? Muss man Gedichte interpretieren, wenn ein KI in Sekunden fünf Lesearten liefert? Und wer schreibt bitte im Jahr 2025 noch eine handschriftliche Kurvendiskussion?
Doch vielleicht haben wir die Frage „Wozu brauchen wir das später?“ viel zu wörtlich genommen.
Denn Schule war nie nur ein Vorratslager für später nützliche Fakten. Niemand hat das Periodensystem gelernt, um im Supermarkt spontan die Masse von Natriumchlorid zu berechnen. Und kaum jemand löst in seinem Berufsalltag quadratische Gleichungen, ausser vielleicht Mathematiklehrer, die dann wiederum mit der gleichen Frage ihres Publikums konfrontiert werden.
Was wir aber tatsächlich immer brauchen, sind Fähigkeiten, die uns auch die beste KI nicht komplett abnehmen kann:das Durchhaltevermögen, wenn etwas kompliziert wirkt.
. die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen
. das Denken in Strukturen
. die Kunst, Sprache zu verstehen und zu nutzen
. das Üben, mit Unklarheit umzugehen
. und nicht zuletzt: die Fähigkeit, selbst Fragen zu stellen
Die berühmte Frage aus der letzten Reihe ist also weniger ein Störfaktor und eher ein Startpunkt. Sie zeigt, dass junge Menschen nicht bloss passiv konsumieren wollen. Sie wollen verstehen, was ihnen etwas bringt und sie haben damit sogar einen Punkt. Wenn Unterricht heute nicht mehr erklären kann, warum ein Thema relevant ist, liegt es nicht an faulen Schülern, sondern an einer Welt, die sich schneller verändert hat als viele Lehrpläne.
Vielleicht sollten wir deshalb die Frage nicht länger wegwischen. Vielleicht sollten wir sie zum Anlass nehmen, Schule neu zu denken: weniger auswendig lernen, mehr begreifen; weniger Stoff, mehr Orientierung; weniger „später“, mehr „jetzt“.
Und wenn irgendwann ein Schüler wieder fragt: „Wozu brauchen wir das eigentlich?“, dann wäre die beste Antwort vielleicht: „Damit du lernst, gute Fragen zu stellen. Denn das wird später wichtiger sein als jede Formel.“