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Gerichtspraxis

Staats- und Verwaltungsrecht

Verfahrensrecht

Art. 9 BV. § 17 Abs. 1 GG. §§ 19 Abs. 1 Ziff. 3, 43 Abs. 1 VRG

Regeste:

Art. 9 BV. § 17 Abs. 1 GG. §§ 19 Abs. 1 Ziff. 3, 43 Abs. 1 VRG – Aus einer fehlerhaften  Rechtsmittelbelehrung darf einer Partei grundsätzlich kein Nachteil erwachsen. Die Berufung auf  Vertrauensschutz steht unter dem Vorbehalt einer groben prozessualen Unsorgfalt. In Anbetracht der Umstände (keine Angaben über Rechtsmittel und Rechtsmittelfrist in der Rechtsmittelbelehrung, keine juristische Kenntnisse, unbekanntes Zustellungsdatum) kann auf eine nach 70 Tagen erhobene  Beschwerde noch eingetreten werden.

Aus dem Sachverhalt:

V.X. erwarb im Frühjahr 2011 das Bürgerrecht der Gemeinde Oberägeri und beantragte am 30. Juni 2011 die Einbürgerung als Korporationsbürger von Oberägeri. Die Korporation wies das Gesuch mit Schreiben vom 26. August 2011 ab, während der Regierungsrat die von ihm erhobene Verwaltungsbeschwerde mit Beschluss vom 5. März 2013 guthiess. Gegen diesen Entscheid liess die Korporation Oberägeri Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen. Sie brachte vor, die Vorinstanz sei zu grosszügig gewesen, indem sie auf die nach 70 Tagen erhobene Beschwerde eingetreten sei.

Aus den Erwägungen:

(...)

Zunächst ist auf den formellen Einwand der Beschwerdeführerin einzugehen, dass der Regierungsrat gar nicht auf die Verwaltungsbeschwerde vom 6. November 2011 hätte eintreten dürfen, da diese erst 70 Tage nach dem Ergehen des angefochtenen Entscheids vom 26. August 2011 und damit offensichtlich lange nach Ablauf der 30-tägigen Beschwerdefrist gemäss § 43 Abs. 1 VRG eingereicht worden sei. Damit rügt sie eine falsche Anwendung der objektiven Prozessvoraussetzungen (vgl. Kölz/Häner/Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. Zürich 2013, Rz. 697). Das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen ist von Amtes wegen zu prüfen. Hat die Vorinstanz das Fehlen einer Eintretensvoraussetzung übersehen und ist deshalb mangels Prozessvoraussetzung zu Unrecht auf das Rechtsmittel eingetreten, so ist der Entscheid aufzuheben (BGE 128 V 89 E. 2a).

a) Aus den Akten ergibt sich, dass der das Gesuch ablehnende Entscheid der Beschwerdeführerin vom 26. August 2011 unter dem Hinweis «Rechtsmittel» lediglich folgenden Hinweis enthielt: «Gemäss Gesetz über die Organisation und die Verwaltung der Gemeinden (Gemeindegesetz) § 17 Abs. 1 (Rechtsschutz) kann der Beschluss des Korporationsrates beim Regierungsrat angefochten werden». Welches Rechtsmittel zu ergreifen und innerhalb welcher Frist dieses einzureichen wäre, wurde nicht genannt. Auch wurde der Entscheid nicht per Einschreiben verschickt und auch sonst ist nicht nachgewiesen, zu welchem Zeitpunkt der Entscheid dem Gesuchsteller eröffnet worden ist.

b) Die bundesgerichtliche Rechtsprechung leitet aus Art. 9 BV (Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben) ein Recht auf Vertrauensschutz ab, das unter anderem beinhaltet, dass falsche Auskünfte von Behörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Ein wichtiger Anwendungsfall dieses verfassungsmässigen Rechts besteht darin, dass einer Partei aus einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich kein Nachteil erwachsen darf, worauf sich Gesuchsteller und Vorinstanz berufen. Die Berufung auf Vertrauensschutz steht unter dem Vorbehalt einer groben prozessualen Unsorgfalt der betroffenen Partei. Rechtsuchende geniessen mit anderen Worten diesen Vertrauensschutz nicht, wenn sie bzw. ihr Rechtsvertreter den Mangel allein schon durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmung hätten erkennen können (BGE 129 II 125 E. 3.3). Wann einer Prozesspartei, die sich auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat, eine solche als grob zu wertende Unsorgfalt vorzuwerfen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen und nach ihren Rechtskenntnissen (BGE 135 III 374 E. 1.2.2.2). Diesbezüglich ist vorliegend festzustellen, dass der Gesuchsteller selbst aus der Konsultation des im angefochtenen Entscheid angegebenen § 17 Abs. 1 des Gemeindegesetzes, wonach Gemeindeversammlungsbeschlüsse, Beschlüsse des Grossen Gemeinderates und des Gemeinderates beim Regierungsrat angefochten werden können (Abs. 1) und für das Verfahren die Vorschriften des Verwaltungsrechtspflegegesetzes gelten (Abs. 3), offensichtlich weder das konkret zur Verfügung stehende Rechtsmittel noch die Frist für ein solches unmittelbar ersehen konnte. Zwar werden in Absatz 3 des Gesetzesparagraphen die Vorschriften des Verwaltungsrechtspflegegesetzes als anwendbar erklärt. Dabei handelt es sich aber lediglich um einen allgemeinen Verweis auf ein anderes Gesetz. Wie der Regierungsrat zu Recht festhält, ist es einem juristischen Laien nicht zuzumuten, dass er anhand dieser allgemeinen Angaben selber das schliesslich auf seinen Fall zutreffende verwaltungsverfahrensrechtliche Rechtsmittel und die dazugehörige Frist durch Konsultation unterschiedlicher Rechtserlasse herausfindet. Es gibt es im konkreten Fall keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesuchsteller diesbezüglich über hinreichende Rechtskenntnisse verfügte. Auch wenn der Gesuchsteller aufgrund seiner Ausbildung als Ingenieur-Agronom und als selbständiger Unternehmer wie auch als Inhaber von Exekutivämtern in der Gemeinde Oberägeri in verwaltungsrechtlichen Dingen nicht gerade als unbedarfter Laie gelten kann, muss er doch als juristischer Laie angesehen werden, abgesehen von der nicht verständlichen Praxis des Bürgerrates. Zwar hatte er bereits einmal für seine Töchter ein Gesuch um Aufnahme in die Korporation Oberägeri gestellt, das ebenfalls abgelehnt worden war, doch fehlte im ablehnenden Entscheid der Korporation Oberägeri vom 13. Januar 2011 eine Rechtsmittelbelehrung sogar vollständig, so dass dem Gesuchsteller nicht etwa aus jenem Verfahren Frist oder Rechtsmittel bekannt sein konnten.

c) Allerdings wird aufgrund des Grundsatzes von Treu und Glauben auch von einem juristischen Laien erwartet, sich innerhalb einer angemessenen Frist über die Anfechtungsmöglichkeit bei der zuständigen Behörde zu erkundigen, da allgemein bekannt ist, dass Entscheide in Rechtskraft erwachsen, wenn sie nicht angefochten werden. Der Gesuchsteller ist zudem im Ablehnungsschreiben explizit auf die Anfechtbarkeit des Entscheids hingewiesen worden. Führt auch eine fehlerhafte Eröffnung in der Regel nicht einfach zur Nichtigkeit der Verfügung, sondern soll der Verfügungsadressat daraus lediglich keinerlei Nachteile erleiden, ergibt sich Folgendes: Die Beschwerde des Gesuchstellers an den Regierungsrat ist am 7. November 2011 erhoben worden. Weil die Korporation zusätzlich nicht nachweisen kann, wann die angefochtene Verfügung vom 26. August 2011 versandt und beim Gesuchsteller eingetroffen ist und dies auch anderweitig nicht feststellbar ist, kann der Zeitraum zwischen Empfang und Beschwerdeerhebung nicht bestimmt werden. Geht man davon aus, dass es für einen Beschwerdeführer aufgrund seiner Sorgfaltspflicht zumutbar ist, sich spätestens am letzten Tag einer Rechtsmittelfrist bei seinem Rechtsvertreter zu erkundigen, ob ein Entscheid auch diesem oder nur ihm persönlich zugestellt worden ist (vgl. ARV 2002 S. 66 mit Hinweis auf Urteil des EVG vom 13. Februar 2001, C 168/00), und in einem solchen Fall für den Rechtsvertreter, falls der Entscheid fälschlicherweise nicht an ihn zugestellt worden ist, die Frist zur Einreichung einer allfälligen Beschwerde ab dem letzten Tag der ursprünglichen Beschwerdefrist zu laufen beginnt (vgl. Urteil EVG vom 6. August 2002, I 598/01, E. 2.2; Urteil EVG vom 6. Mai 2003, I 565/02, E. 3.1), muss für die vorliegend zu beurteilende Konstellation Folgendes gelten: Hätte sich der Gesuchsteller innerhalb einer Frist von 30 Tagen über die ihm offen stehenden Anfechtungsmöglichkeiten erkundigt, wobei die Abklärungen durchaus auch eine gewisse Zeit hätten in Anspruch nehmen können, wäre ihm nach diesen Abklärungen zusätzlich die gesetzlich vorgesehene Rechtsmittelfrist zur Beschwerdeeinreichung zuzugestehen gewesen (vgl. dazu auch Lorenz Kneubühler, in: Christoph Auer/Markus Müller/Benjamin Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Zürich/St. Gallen 2008, Art. 38 N 12). Dieser Zeitspanne entspricht aber ungefähr die hier erfolgte Beschwerdeerhebung 70 Tage nach dem Datum des Entscheids. In Anbetracht der Umstände (fehlende Angaben über Rechtsmittel und Rechtsmittelfrist in der Rechtsmittelbelehrung, keine juristische Kenntnisse des Gesuchstellers, unbekanntes Zustellungsdatum) ist im Zweifel auf die Darstellung des Empfängers abzustellen, da die verfügende Behörde die materielle Beweislast hinsichtlich der Zustellung eines Entscheids sowie ihres Zeitpunkts trägt (BGE 129 I 8 E. 2.2; BGE 124 V 400 E. 2a; Urteil des Bundesgerichts vom 14. September 2011, 5D_88/ 2011, E. 3).

d) Aufgrund des Gesagten und unter Würdigung der Gesamtumstände ist somit nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz von einer noch rechtzeitig erhobenen Beschwerde ausgegangen ist. Diese Betrachtung rechtfertigt sich umso mehr, als der Korporationsrat mit der aus zwei seiner Verfügungen ersichtlichen ungesetzlichen Praxis (Pflicht zur Rechtsmittelbelehrung gemäss § 19 Abs. 1 Ziff. 3 VRG) für die entstandenen Unklarheiten die Verantwortung trägt. Wenn er anführt, dass ein neues Gesuch ohnehin sogleich wieder möglich und zu behandeln wäre, so läge in diesem Fall der von der Korporation verneinte Nachteil aber gerade darin, dass der Gesuchsteller mit seiner Beschwerde zunächst nicht durchdringen und nicht nur allenfalls den Verlust vermögensmässiger Ansprüche (rückwirkende Zusprechung des Nutzens ab Gesuchstellung) hinnehmen müsste, sondern auf ein neues Verfahren und damit auf erneuten Aufwand verwiesen würde. Dies würde sich auch als verfahrensökonomischer Leerlauf erweisen. Der Regierungsrat ist deshalb zu Recht auf die Beschwerde eingetreten.

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 25. März 2014, V 2013/53

Siehe auch das Präjudiz zum materiell-rechtlichen Gehalt dieses Falles, unter Politische Rechte, Bürgerrecht und Polizei.

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