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Legitimation Dritter

Verschiebung einer gerichtlich angesetzten öffentlichen Verhandlung

Regeste:

Art. 6 Ziff. 1 EMRK, § 11 Abs. 2 VRG – Gründe für die Verschiebung einer gerichtlich angesetzten öffentlichen Verhandlung sind nach Treu und Glauben unverzüglich mitzuteilen, im entsprechenden Gesuch unaufgefordert glaubhaft zu machen und zu belegen. Rechtsmissbräuchlich handelt, wer bei auf Montagmorgen angesetzter Verhandlung am Sonntagabend durch E-Mail an die Verfahrensleitung diffuse, seit mehreren Tagen bestehende «Covid-Symptome» geltend macht, ohne eine Erkrankung zu belegen oder die spontane Nachreichung etwa von ärztlichen Bescheinigungen oder Testergebnissen in Aussicht zu stellen (E. 2.1 f.). Auf eine Wiederholung oder Verschiebung der öffentlichen Verhandlung besteht bei rechtmissbräuchlicher Säumnis kein Anspruch (E. 2.4).

Aus dem Sachverhalt:

A.          

A.a Für den 1987 geborenen, autistischen und kognitiv eingeschränkten D. besteht eine Vertretungsbeistandschaft gemäss Art. 394 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 395 Abs. 1 ZGB. Diese wurde mit Errichtungsakt vom 10. März 2015 auf mehrere Personen übertragen. Bezüglich Administration und Finanzen wurde ein Berufsbeistand eingesetzt; mit KESB-Entscheid Nr. 2017/0070 vom 24. Januar 2017 erfolgte für diese Bereiche ein erster Wechsel der Beistandsperson. Hinsichtlich der Bereiche Gesundheit, Wohnen, Tagesstruktur/Arbeit und Soziales wurde A., Tante des Verbeiständeten, eingesetzt.

A.b (…) Mit Entscheid Nr. 2020/0482 vom 28. April 2020 entliess die KESB A. per 4. Mai 2020 aus ihrem Amt, was sie mit deren fehlender Eignung begründete. Gleichzeitig übertrug sie die bisher durch A. wahrgenommenen Aufgaben dem bisherigen Co-Beistand.

B.          

B.a  Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 2. Juni 2020 beantragt A. im Wesentlichen, es sei der KESB-Entscheid Nr. 2020/0482 vom 28. April 2020 vollumfänglich aufzuheben und sie sei als Beiständin zu bestätigen. Weiter beantragt sie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, die Rückweisung der «Rechtsschrift der KESB» zur Verbesserung sowie die Abnahme einer Vielzahl von Beweisen. Schliesslich verlangt sie die Wiederherstellung der mit dem angefochtenen Entscheid entzogenen aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.

(…)

F. Anlässlich der Referentenaudienz vom 10. Mai 2022 legte die Referentin den Parteien die Rechtslage dar und machte Ausführungen zum weiteren Verfahrensgang im Sinne einer vorläufigen Auffassung im Erkenntnisprozess. (…) Die Beschwerdeführerin wurde begleitet von den Rechtsanwälten B. und E..

G. Nach Terminabsprache mit dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin – die KESB verzichtete mit Schreiben vom 13. Mai 2022 auf eine Teilnahme an der öffentlichen Verhandlung – wurden die Parteien am 16. Mai 2022 zur öffentlichen Verhandlung am 20. Juni 2022, 09:00 Uhr, geladen. Die Einladung wurde durch die Kanzlei des Rechtsvertreters am 18. Mai 2022 abgeholt.

(…)

H. Mit Eingabe vom 20. Juni 2022 teilte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit, es hätten sich bei ihm «in den vergangenen Tagen Covid-Symptome» gezeigt, weshalb er sich «für die nächsten Tage in Quarantäne befinde». Bei Rechtsanwalt E. hätten sich «ebenfalls seit Tagen einstweilen noch undefinierbare Erkältungssymptome, insbesondere eine starke Heiserkeit» gezeigt, dieser habe sich ausserdem «noch nicht ausreichend in den Fall eingearbeitet, dass er diese Verhandlung alleine führen könnte». Eine ärztliche Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit des Rechtsvertreters wurde der Eingabe weder beigelegt noch in Aussicht gestellt, sondern es wurde einzig angefügt: «Sollten Sie es für erforderlich halten, bin ich gerne bereit, Ihnen ein medizinisches Zeugnis zukommen zu lassen, das meine Verhandlungsunfähigkeit bestätigt». Bezüglich der Verhinderung von Rechtsanwalt E. wurde keinerlei Beweis offeriert. Ersucht wurde sodann um Verschiebung der öffentlichen Verhandlung auf den 30. Juni 2022.

Mit Blick auf die Dringlichkeit wurde der Rechtsvertreter von der Vorsitzenden ausnahmsweise mit E-Mail ebenfalls vom Sonntag, 19. Juni 2022, 20:16 Uhr, dahingehend orientiert, dass die Schlussverhandlung plangemäss stattfinde. Der entsprechende Hinweis erfolgte zudem auch zweimalig telefonisch gegenüber seiner Kanzlei (am 20. Juni 2022 kurz vor 08:00 Uhr sowie kurz vor 09:00 Uhr).

I. Am 20. Juni 2022 fand die von der Beschwerdeführerin verlangte öffentliche Verhandlung statt. KESB sowie Beiständin verzichteten ankündigungsgemäss auf die Teilnahme. Die Beschwerdeführerin fehlte unentschuldigt. Auch eine Rechtsvertretung derselben erschien bis zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung, eine Stunde nach Verhandlungsbeginn (d.h. bis um 10:00 Uhr), nicht. Die Kanzlei ihres Rechtsvertreters bestätigte auf zweimalige telefonische Nachfrage hin, dass weder die Beschwerdeführerin noch eine Vertretung erscheinen werde. Angesichts dessen zog sich das Gericht nach Eröffnung und Einleitung der Verhandlung zur Beratung zurück. Die Verhandlung wurde zu diesem Zweck unterbrochen. Um 10:00 Uhr wurde der Urteilsspruch der anwesenden Öffentlichkeit eröffnet und summarisch begründet.
 

Aus den Erwägungen:

2. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin tat mit Eingabe vom 20. Juni 2022, bzw. am Vorabend des Verhandlungstags vorab per E-Mail, kund, dass weder er noch Rechtsanwalt E. – der als ebenfalls mit dem Fall vertrauter und mit Substitutionsvollmacht ausgestatteter Anwalt bereits an der Referentenaudienz vom 10. Mai 2022 teilgenommen hatte – an der öffentlichen Verhandlung teilnehmen würden. Dabei behauptete er, dass bei beiden Rechtsanwälten seit mehreren Tagen diffuse Krankheitssymptome bestünden. Bei ihm selber seien dies «Covid-Symptome» – erstaunlicherweise offenbar ohne, dass beim Rechtsvertreter als Risikopatient ein diesbezüglicher Test durchgeführt worden wäre –, während Rechtsanwalt E. durch starke Heiserkeit am Vortrag des bereits vorbereiteten Plädoyers gehindert werde und überdies in den Fall nicht hinreichend eingearbeitet sei.

2.1 Festzuhalten ist dazu zunächst, dass – in analoger Anwendung von § 11 Abs. 2 VRG sowie gemäss dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben – das Gericht eine behördlich angesetzte Frist oder einen behördlich angesetzten Termin erstrecken bzw. abnehmen kann, wenn vor Fristablauf ein Gesuch gestellt und ein ausreichender Grund glaubhaft gemacht wird. Dies ist hier nicht der Fall, weshalb das Verschiebungsgesuch abzuweisen ist. Zwar meldete der Rechtsvertreter dem Gericht am Vorabend der öffentlichen Verhandlung gesundheitliche Unpässlichkeiten sowohl seiner eigenen Person als auch seines Stellvertreters. Davon, dass er diese glaubhaft gemacht hätte, kann indes keine Rede sein. So erstaunt in höchstem Masse, dass der über 70-jährige, offenbar krebskranke Rechtsvertreter lediglich auf in den vergangenen Tagen aufgetretene «Covid-Symptome» verweist, ohne indes entweder eine Covid-Infektion zu belegen bzw. auf ausstehende Testresultate zu verweisen oder auch nur im Entferntesten zu erläutern welcher Natur die behaupteten Symptome sein sollten und inwiefern ihn diese an der Verhandlungsteilnahme hindern sollten. Hinsichtlich der Wahrung und Erstreckung von Fristen kommt nicht der Untersuchungsgrundsatz zum Tragen, und es ist nicht am Gericht, allfällige Beweismittel anzufordern. Was insbesondere die Abnahme bzw. Erstreckung angeht, sagt bereits das Gesetz klar, dass durch den Gesuchsteller – unaufgefordert – ein ausreichender Grund glaubhaft zu machen ist damit eine Verschiebung oder Erstreckung in Frage kommt. Dieser Obliegenheit ist der Rechtsvertreter nicht nachgekommen, weder hinsichtlich seiner eigenen Unpässlichkeit noch bezüglich derjenigen seines Stellvertreters, für dessen Verhinderung er allfällige Beweisofferten nicht einmal im Ansatz erwähnt. Daran ändert nichts, dass letzterer sich offenbar «noch nicht ausreichend in den Fall eingearbeitet» habe. Abgesehen davon, dass mit Fug bezweifelt werden darf, dass Rechtsanwalt E. – nachdem er bereits an der Referentenaudienz vom 10. Mai 2022 teilgenommen hatte – nicht hinreichend eingearbeitet gewesen wäre um ein Plädoyer zu verlesen, oblag es klarerweise dem Rechtsvertreter, angesichts seines allgemein schlechten Gesundheitszustands für sorgfältige Einarbeitung eines Vertreters besorgt zu sein. Ein allfälliges Versäumnis in dieser Hinsicht stellt jedenfalls keinen ausreichenden Grund für eine Verschiebung der von langer Hand angesetzten öffentlichen Verhandlung dar.

2.2  Es kommt hinzu, dass Rechtsvertreter (und Parteien) nach Treu und Glauben dem Gericht Verhinderungsgründe bezüglich angesetzter Verhandlungstermine unverzüglich mitzuteilen haben. Unverzüglich bedeutet nicht erst am Sonntagabend per E-Mail an die Verfahrensleitung, wenn der Verhinderungsgrund seit – mindestens – Freitag bekannt ist (gemäss Wortlaut der Eingabe vom 20. Juni 2022: «in den vergangenen Tagen» bzw. «ebenfalls seit Tagen»). Ein solches Vorgehen ist rechtsmissbräuchlich und verdient bereits aus diesem Grund keinen Rechtsschutz (vgl. etwa BGE 143 III 666 E. 4.2). Dies gilt umso mehr, als mit dem Zeitpunkt der Übermittlung (am Sonntagabend vor dem Verhandlungstag) und dem Verzicht auf die Vorlage jedweder verifizierbarer Belege das Gericht offensichtlich in eine Position gedrängt werden sollte, in der es über keine Zeit mehr verfügen würde, vor dem Entscheid über das Verschiebungsgesuch das Eintreffen allfälliger Beweismittel abzuwarten und diese zu prüfen.

2.3 Schliesslich fällt – im Sinne einer Eventualbegründung bei Annahme ausreichender Gründe für die Abwesenheit der Rechtsanwälte B. und E. – auch eine Abwägung des Interesses der Beschwerdeführerin an einer rechtskundigen Vertretung anlässlich der Schlussverhandlung vom 20. Juni 2022 gegenüber den öffentlichen und privaten Interessen (insbesondere von D.) an der Beurteilung der Sache innert angemessener Frist klar zugunsten einer Durchführung der öffentlichen Verhandlung wie geplant am 20. Juni 2022 aus:

2.3.1     Art. 6 Abs. 1 Ziff. 1 EMRK verschafft den Parteien einen Anspruch, ihre Sache mündlich und öffentlich verhandeln zu lassen und damit auch an die Öffentlichkeit zu tragen, u.a. um das Funktionieren der Justiz transparent zu machen (vgl. etwa BGE 142 I 188 E. 3.2.1). Angesichts des bereits stattgefundenen, ausgedehnten Schriftenwechsels, stand denn hier auch offensichtlich und grundsätzlich unbestritten dieser Aspekt der Öffentlichkeit der Verhandlung im Fokus. Der Beschwerdeführerin war es ein «dringendes Anliegen, dass die Öffentlichkeit und auch die Medien […] in geeigneter Weise in Kenntnis gesetzt werden». Dieses Ziel einer Darstellung des eigenen Standpunkts vor Öffentlichkeit und Medien erforderte keineswegs zwingend die Anwesenheit des Rechtsvertreters. Der Beschwerdeführerin sowie ihren Rechtsvertretern war seit Anfang Mai bekannt, dass in der anberaumten Verhandlung einzig und einseitig ihr Standpunkt zu hören sein würde, hatte doch die Gegenpartei bereits unmittelbar im Anschluss an die Referentenaudienz vom 10. Mai 2022 ihren Verzicht auf Teilnahme kundgetan. Entsprechend war bekannt, dass in öffentlicher Verhandlung einzig das durch den Rechtsanwalt vorbereitete Plädoyer zu verlesen sein würde. Für diesen Vorgang war offensichtlich keine vertiefte Einarbeitung in das Dossier erforderlich, wie dies etwa bei Anwesenheit der Gegenpartei und mithin der Durchführung einer eigentlich kontradiktorischen Verhandlung ggf. notwendig gewesen wäre. Demnach hätte sich eine Substitution des unpässlichen Rechtsvertreters durch einen Berufskollegen oder eine Berufskollegin aufgedrängt, zumal – nebst Rechtsanwalt E. – noch sechs weitere substitutionsbevollmächtigte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zur Verfügung gestanden hätten; alternativ hätte es dem Rechtsvertreter oblegen, seine Klientin für die Verlesung des Plädoyers entsprechend zu instruieren. Dass auch die Beschwerdeführerin selber am Datum der Verhandlung unpässlich gewesen wäre oder ausserstande, das von ihrem Rechtsvertreter vorbereitete Plädoyer vorzulesen, wird nicht geltend gemacht.

2.3.2     Ein allfälliges Interesse der Beschwerdeführerin an rechtskundiger Begleitung erscheint angesichts des Ausgeführten im konkreten Fall, in dem die öffentliche Verhandlung primär der Herstellung der Öffentlichkeit bei im Übrigen bereits ausführlich dargelegten Standpunkten der Parteien diente, zum vornherein als geringfügig und vermochte eine Verschiebung umso weniger rechtfertigen, als es in der Sache um die Beistandschaft für einen stark eingeschränkten jungen Mann geht, bei dem durch die Beistandsperson in naher Zukunft Entscheide getroffen werden müssen bezüglich der weiteren langfristigen Wohnsituation. Der aktuelle Schwebezustand bezüglich der Person der Beiständin ist den Interessen des Verbeiständeten offensichtlich abträglich und für ihn belastend. Es besteht mit anderen Worten – jedenfalls seit Februar 2022 mit dem Austritt von D. aus dem bisherigen Wohnheim – eine erheblich gesteigerte Dringlichkeit. Realistischerweise konnte zudem nicht damit gerechnet werden, dass eine erneute Verhandlung vor dem Herbst 2022 stattfinden könnte. Dies nicht zuletzt mit Blick auf den angeschlagenen Gesundheitszustand des Rechtsvertreters, der – in Kombination mit dessen Weigerung, dem Gericht für den Zeitraum seiner mehrmonatigen Verhandlungsunfähigkeit zu Beginn des Jahres 2022 einen Stellvertreter zu benennen – bereits die Durchführung der Referentenaudienz um mehrere Monate verzögert hatte sowie die nahende Sommerferienzeit. Lediglich am Rande zu erwähnen ist dabei, dass der dem Rechtsvertreter nunmehr «genehme» Verhandlungstermin vom 30. Juni 2022 – der nota bene von ihm noch im Mai als nicht passend abgelehnt worden war – im Urteilszeitpunkt nicht mehr zur Verfügung stand. Damit wird offenbar, dass eine Verschiebung der öffentlichen Verhandlung absehbar eine (weitere) Verfahrensverzögerung, allenfalls um mehrere Monate, nach sich gezogen hätte, was den Interessen des Verbeiständeten an einem raschen Entscheid und einer Klärung der Situation in stossender Weise entgegengestanden hätte.

2.4 Zusammenfassend wurden ausreichende Gründe für die Säumnis der Beschwerdeführerin sowie ihres Rechtsvertreters an der öffentlichen Verhandlung vom 20. Juni 2022 nicht glaubhaft gemacht. Selbst die entschuldbare Abwesenheit des Rechtsvertreters hätte überdies eine Verschiebung angesichts der Umstände des Einzelfalls nicht zu rechtfertigen vermocht. Entsprechend ist ihr Fernbleiben von der öffentlichen Verhandlung vom 20. Juni 2022 als Verzicht auf die Teilnahme zur Kenntnis zu nehmen. Die von ihr gewünschte öffentliche Verhandlung fand ankündigungsgemäss am 20. Juni 2022, ab 09:00 Uhr, mit Urteilsverkündung um 10:00 Uhr, statt, womit ihre aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fliessenden Rechte gewahrt wurden. Auf eine Wiederholung oder Verschiebung der öffentlichen Verhandlung bei rechtsmissbräuchlicher, unentschuldbarer Säumnis der Beschwerdeführerin sowie ihres Rechtsvertreters besteht kein Anspruch (vgl. analog BGE 131 I 185 E. 3.2.4; zum mitnichten absoluten Anspruch auf eine öffentliche, mündliche Verhandlung vgl. weiter etwa EGMR Gankin and others v. Russia vom 31. Mai 2016, Nr. 2430/06, 1454/08, 11670/10 und 12938/12, § 26).

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 20. Juni 2022 F 2020 18

Das Urteil ist rechtskräftig.

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