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Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB

Regeste:

Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes ins Ausland bei fehlender Zustimmung eines Elternteils. Prüfung des geeigneten Aufenthaltsortes des Kindes anhand des Kindeswohls ausgehend vom Wegzug des einen Elternteils ins Ausland. Kriterien für diese Prüfung; Betreuungskonzept als Ausgangspunkt (E. 3.4).

Aus den Erwägungen:

3. Die Gesuchstellerin beantragt die alleinige Obhut für das gemeinsame Kind A. Der Gesuchsgegner beantragt für A. die alternierende Obhut sowie eventualiter die alleinige Obhut. Die Gesuchstellerin beantragt zudem, es sei ihr und dem Kind A. zu bewilligen, ihren Aufenthaltsort nach E. zu verlegen. Der Gesuchsgegner beantragt die Abweisung dieses Begehrens.

(…)

3.3 Die elterliche Sorge umschliesst das Recht mit ein, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (Art. 301a Abs. 1 ZGB). Üben die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam aus und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes ins Ausland verlegen, so bedarf dies der Zustimmung des andern Elternteils oder der Entscheidung des Gerichts bzw. der Kindesschutzbehörde (Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB). Wenn die Eltern eines minderjährigen Kindes (noch) miteinander verheiratet sind und ein Scheidungsverfahren (noch) nicht rechtshängig ist, ist das Eheschutzgericht im summarischen Verfahren für die Erteilung oder Verweigerung der Wegzugsbewilligung nach Art. 301a Abs. 2 ZGB zuständig (Art. 176 Abs. 3 ZGB). Weiter gilt es festzuhalten, dass für die Frage, ob der Wegzug zu bewilligen ist, die uneingeschränkte Untersuchungsmaxime gilt (Art. 296 Abs. 1 ZPO). Der Richter hat somit den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen und ist nicht an die Begehren der Parteien gebunden. Das Gericht ist verpflichtet, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien zu erheben. Das Gericht hat alle rechtserheblichen Umstände zu berücksichtigen, die sich im Laufe des Verfahrens ergeben, auch wenn die Parteien nicht ausdrücklich darauf Bezug nehmen. Die Pflicht der Behörde, den Sachverhalt zu erforschen, entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (sog. Mitwirkungspflicht). Sie müssen das Gericht über den Sachverhalt orientieren und ihm die verfügbaren Beweismittel nennen (Urteil des Bundesgerichts 5A_242/2019 vom 27. September 2019 E. 3.2.1).

3.4 Das Bundesgericht hat sich in BGE 142 III 481 E. 2.5 ff. und BGE 142 III 498 E. 4.4 ff. dazu geäussert, nach welchen Grundsätzen die Frage der Wegzugsbewilligung durch das Gericht oder die zuständige Behörde zu entscheiden ist. Die bundesgerichtliche Kernerwägung geht dahin, die Niederlassungs- bzw. die Bewegungsfreiheit der Elternteile zu respektieren. Dementsprechend lautet die vom Gericht zu beantwortende Frage nicht, ob es für das Kind vorteilhafter wäre, wenn beide Elternteile am angestammten Ort verbleiben würden; die entscheidende Fragestellung ist vielmehr, ob sein Wohl besser gewahrt ist, wenn es mit dem wegzugswilligen Elternteil geht oder wenn es sich beim zurückbleibenden Elternteil aufhält, was allenfalls eine Umteilung der Obhut impliziert. Die Antwort auf die genannte Frage hat sich nicht an der Interventionsschwelle der Kindesgefährdung, sondern an der Maxime des Kindeswohls auszurichten und sie kann weder losgelöst vom bisher gelebten noch losgelöst vom zukünftig zur Debatte stehenden Betreuungsmodell gefunden werden. Faktisch bildet das bisher gelebte Betreuungsmodell den Ausgangspunkt der Überlegungen. Sind die Kinder bislang von beiden Elternteilen weitgehend zu gleichen Teilen betreut worden (geteilte bzw. alternierende Obhut) und sind beide Teile weiterhin willens und in der Lage, persönlich oder im Rahmen eines im Kindeswohl liegenden Betreuungskonzeptes für das Wohl der Kinder zu sorgen, so ist die Ausgangslage gewissermassen neutral. Diesfalls ist anhand weiterer Kriterien (wie familiäres und wirtschaftliches Umfeld, Stabilität der Verhältnisse, Sprache und Beschulung, gesundheitliche Bedürfnisse, Meinungsäusserung älterer Kinder) zu eruieren, welche Lösung im besten Interesse des Kindes liegt. War hingegen der wegzugswillige Elternteil nach dem bisher tatsächlich gelebten Betreuungskonzept ganz oder überwiegend die Bezugsperson (namentlich beim klassischen Besuchsrechtsmodell), wird es tendenziell zum besseren Wohl der Kinder sein, wenn sie bei diesem verbleiben und folglich mit ihm wegziehen. Die für einen Verbleib der Kinder in der Schweiz notwendige Umteilung an den anderen Elternteil – welche ohnehin voraussetzt, dass dieser fähig und bereit ist, die Kinder bei sich aufzunehmen und für eine angemessene Betreuung zu sorgen – bedarf jedenfalls der sorgfältigen Prüfung, ob sie tatsächlich dem Kindeswohl entspricht. Dabei kommt es wiederum auf die Umstände des Einzelfalles an. Sind die Kinder noch klein und dementsprechend mehr personen- denn umgebungsbezogen, ist eine Umteilung an den zurückbleibenden Elternteil angesichts des Grundsatzes der Betreuungs- und Erziehungskontinuität nicht leichthin vorzunehmen. Hingegen werden bei älteren Kindern zunehmend die Wohn- und Schulumgebung sowie der sich ausbildende Freundeskreis wichtig und vielleicht haben sie schon eine Lehrstelle in Aussicht; hier könnte eine Umplatzierung zum anderen Elternteil – soweit diese möglich ist –, dem Kindeswohl unter Umständen besser dienen. Zu beachten sind auch alle weiteren Facetten der konkreten Situation. Beispielsweise ist es für ein Kind nicht dasselbe, ob es bereits bislang zweisprachig aufgewachsen ist oder ob es neu in einer ihm fremden Sprache beschult würde, und es ist mit Blick auf die Stabilität der Verhältnisse auch nicht dasselbe, ob beispielsweise der auswanderungswillige Elternteil in sein Heimatland bzw. in den angestammten Familienkreis (dem Kind bereits vertraute Grosseltern, Onkeln und Tanten etc.) zurückkehrt bzw. zu einem neuen Partner in ein wirtschaftlich und sozial abgesichertes Umfeld zieht oder ob es beispielsweise um Gewinnung von Abstand bzw. um Abenteuerlust und eine Lebensführung mit weitgehend offener Perspektive geht. Schliesslich wird bei älteren Kindern massgeblich auch auf die bei ihrer Anhörung geäusserten Wünsche und Vorstellungen abzustellen sein, soweit sich diese mit den konkreten Begebenheiten (tatsächliche Aufnahme- und Betreuungsmöglichkeiten des betreffenden Elternteils) vereinbaren lassen.

3.5 Nachfolgend ist anhand der oben dargelegten Kriterien zu eruieren, ob der Gesuchstellerin der Umzug nach E. zusammen mit dem Kind A. zu bewilligen ist.

3.5.1 Wie bereits ausgeführt, ist nicht nach den Motiven für den elterlichen Wegzug zu forschen, sondern es ist von diesem als Prämisse auszugehen. Einzig wenn ein Elternteil offensichtlich nur deshalb umziehen würde, um das Kind dem anderen Teil zu entfremden, können Motive indirekt relevant werden, indem nämlich diesfalls die Bindungstoleranz des betreffenden Elternteils in Frage gestellt wäre mit der Folge, dass aus diesem Grund eine Umteilung der Obhut zu prüfen wäre (Urteil des Bundesgerichts 5A_397/2018 vom 16. August 2018 E. 4.3.2; BGE 142 III 481 E. 2.7). Da die Gesuchstellerin in ihre Heimat nach E. in die Nähe ihres Familienkreises zurückkehren möchte, hat sie für ihren Umzugswunsch nachvollziehbare Gründe. Wie sie geltend macht, fühle sie sich in der Schweiz nicht zugehörig und in E. aus finanzieller und sozialer Perspektive sicherer. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Gesuchstellerin liegt deshalb nicht vor (vgl. dazu BGE 142 III 481 E. 2.7).

3.5.2 Das bisher gelebte Betreuungsmodell stellt das wichtigste Kriterium dar für die Frage, ob der Gesuchstellerin der Umzug mit A. nach E. zu bewilligen ist. Wie die Parteien übereinstimmend vortragen, betreut der Gesuchsgegner A. jedes zweite Wochenende von Freitagabend bis Sonntagabend sowie jeweils am Mittwochabend. Diese Betreuungsregelung leben die Parteien seit Mai 2021. Allerdings macht der Gesuchsgegner geltend, er sei bis zur Trennung hauptsächlich für die Kinderbetreuung zuständig gewesen. Der Gesuchsgegner hat sich jedoch nach der Geburt von A. im April 2017 nur während dreier Monate von November 2017 bis und mit Januar 2018 an drei Tagen um A. gekümmert. Seither wird A. an vier bis fünf Tagen von Tagesmüttern betreut. Es trifft deshalb nicht zu, dass sich der Gesuchsgegner bis zur Trennung am 1. Dezember 2019 hauptsächlich um die Kinderbetreuung gesorgt hat. Da A. seit 2018 zu einem grossen Teil fremdbetreut wird, kann zwar nicht gesagt werden, wer sich während des ehelichen Zusammenlebens mehrheitlich um A. gekümmert hat. Allerdings war der Gesuchsgegner nach der Trennung damit einverstanden, dass die Gesuchstellerin zusammen mit A. nach U. umzieht. Er hat dies damals unterschriftlich bestätigt. Auch wenn er seine Zustimmung heute in Abrede stellt, ist festzuhalten, dass sich die Gesuchstellerin seit der Trennung trotz ihres Arbeitspensums und der erforderlichen Drittbetreuung zu einem grösseren Teil um A. gekümmert hat. Dies bestätigt auch das seit Mai 2021 gelebte Betreuungsmodell. Dass der Gesuchsgegner krankheitsbedingt nicht im Stande war, für die Betreuung des Kindes zu sorgen, ändert an diesen Gegebenheiten nichts. Es mag zwar sein, dass der Wegzug nach U. für den Gesuchsgegner den Kontakt zu A. erschwert hat, weil die Fahrt zwischen den beiden Wohnorten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln umständlich ist. Dass sich der Gesuchsgegner aber aktiv darum bemüht hat, mehr Zeit mit A. verbringen zu können, trägt er nicht vor. Es kann deshalb auch nicht gesagt werden, der Gesuchsgegner sei in der Vergangenheit die Hauptbetreuungsperson von A. gewesen. Vielmehr ist es so, dass der Gesuchsgegner von Frühjahr 2018 für rund eineinhalb Jahre mit dem Aufbau eines eigenen Geschäfts beschäftigt war. Dies war denn auch der Grund, warum die Parteien für A. eine Drittbetreuung organisiert haben. Zwar ruht diese Tätigkeit seit Ende 2020, nachdem der Gesuchsgegner mit diesem Geschäft im Jahr 2020 Verluste eingefahren hat. Seit Januar 2021 ist der Gesuchsgegner aber für ein Start-Up Unternehmen im Anstellungsverhältnis tätig. Mithin ist festzuhalten, dass A. seit der Trennung der Parteien überwiegend von der Gesuchstellerin betreut wird.

Ferner ist A. gerade mal fünf Jahre alt und damit mehr personen- als umgebungsbezogen. In ihrem Alter lässt sich nicht von einer gefestigten Umgebungsverbundenheit und einem Freundeskreis bzw. sozialem Umfeld sprechen (vgl. BGE 142 III 498 E. 4.5, worin das Bundesgericht mit Bezug auf ein knapp siebenjähriges Mädchen festgehalten hat, dieses sei «tendenziell noch personenorientiert»). Mithin ist die Bewilligung des Umzugs nach E. auch aus Gründen der Betreuungs- und Erziehungskonti-nuität angezeigt. Die Gesuchstellerin dürfte zudem auch in Zukunft in der Lage sein, A. zu betreuen. Beruflich wird sich bei der Gesuchstellerin nämlich nicht viel verändern. Sie kann ihre Arbeitsstelle behalten und in E. in der gleichen Position für das gleiche Unternehmen tätig sein. Zudem ist auch der Gesuchsgegner arbeitstätig. Im Gegensatz zur Gesuchstellerin hat er aber in der Schweiz keine Familie, die ihn bei der Kinderbetreuung unterstützen könnte. In E. hat die Gesuchstellerin ihre Eltern und Grosseltern, die ihr bei der Betreuung von A. helfen können. Dies haben sie in der Vergangenheit auch schon getan. Auch wenn der Gesuchsgegner seine Tochter nicht so regelmässig sieht, wie er das gerne hätte, so sprechen auch die zukünftigen Betreuungsmöglichkeiten für den Wegzug von A. nach E.

3.5.3 Zudem ist das familiäre Umfeld in E. grösser als hier in der Schweiz. Beide Parteien sind in der Schweiz auf sich alleine gestellt. In E. leben sowohl die Angehörigen der Gesuchstellerin als auch die Familie des Gesuchsgegners. Wie die Gesuchstellerin ausführt, leben ihre Eltern in D., rund vier Autostunden von E. entfernt, seien aber regelmässig in E., wo der Rest der Familie lebe, also ihre Grosseltern, Onkel, Tanten und ihr Bruder. Zudem arbeite ihr Vater auch in E. und sei jede zweite Woche dort. Da die Gesuchstellerin zudem trotz Wegzug ihre Arbeitsstelle behalten kann, hat sie nebst dem familiären Rückhalt auch ein stabiles Einkommen. Mithin ist das wirtschaftliche Umfeld in E. und der Schweiz etwa gleich zu gewichten. Es ist auch nicht so, dass die Gesuchstellerin ins Nichts wegzieht. Soweit der Gesuchsgegner Bedenken wegen der Gesundheit der gemeinsamen Tochter äussert, ist er darauf hinzuweisen, dass auch in E. die nötige medizinische Versorgung gewährt werden kann. So wurde A. zu Beginn bereits in E. behandelt. Die Krankheit von A. steht dem Wegzug nach E. deshalb nicht im Weg.

3.5.4 Die Gesuchstellerin plant zudem ihren Wegzug vor Beginn des Schuljahres, welches in E. im September beginnt. Demzufolge würde A., die noch im Kindergarten ist, im neuen Schuljahr in E. eingeschult werden oder ein zweites Jahr den Kindergarten besuchen. Kommt hinzu, dass A. aufgrund ihrer Zweisprachigkeit vergleichsweise wenig Mühe damit haben dürfte, sich in E. einzuleben und es auch in E. gute Schulen gibt. Selbst wenn die Qualität der schulischen Ausbildung in der Schweiz besser sein sollte als in E. und die Kinder in der Schweiz angeblich viel besser von Lehrpersonen betreut werden, wie es der Gesuchsgegner geltend macht, darf nicht vernachlässigt werden, dass A. aufgrund von sprachlichen Barrieren ihrer Eltern möglicherweise auch in der Schweiz auf schulische Unterstützung angewiesen wäre. Davon geht offenbar auch der Gesuchsgegner aus, da er geltend macht, es gäbe in der Schweiz Angebote für die schulische Unterstützung und eine grosse Expat-Community in Z. und W. Die Kinder würden davon profitieren und hätten die Möglichkeit, mehrere Sprachen zu lernen. Ausserdem dürfte es auch in E. schulische Unterstützungsangebote geben. Mithin spricht auch das schulische und soziale Umfeld nicht gegen einen Wegzug nach E. Vielmehr dürfte die Obhutszuteilung an den zurückbleibenden Gesuchsgegner und damit der «Verlust» der sie hauptbetreuenden Mutter für die fünfjährige A. schwerer wiegen, als sich in einem neuen sozialen und schulischen Umfeld einleben zu müssen.

3.5.5 Nach dem Gesagten ist das Wohl von A. besser gewahrt, wenn sie bei der Gesuchstellerin bleibt. Der Gesuchstellerin ist daher der Umzug zusammen mit A. nach E. zu bewilligen. Unter diesen Umständen ist der Gesuchstellerin die alleinige Obhut über A. zuzuteilen. Die elterliche Obhut beinhaltet die Befugnis, mit dem Kind zusammen zu wohnen. Es muss deshalb im Fall von alleiniger Obhut nicht noch zusätzlich festgestellt werden, dass sich der Wohnsitz des Kindes bei der Mutter befindet. Das Begehren des Gesuchsgegners auf Anordnung der alternierenden Obhut sowie eventualiter auf Zuteilung der alleinigen Obhut über A. an ihn ist mithin abzuweisen.

Entscheid der Einzelrichterin des Kantonsgerichts Zug vom 15. Juni 2022 ES 2021 576

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