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Fürsorgerische Unterbringung

Regeste:

Art. 426 Abs. 1 und 3 ZGB, Art. 429 Abs. 3 ZGB – Eine Akutstation, auf der eine ärztliche Betreuung nicht gewährleistet ist, ist keine geeignete Einrichtung für eine Person, deren psychische Störung lege artis primär medikamentös behandelbar ist. Die fürsorgerisch untergebrachte Person ist jedenfalls durch die Einrichtung zu entlassen, sobald die Voraussetzungen für ihre Unterbringung nicht mehr erfüllt sind. Die Entlassung darf – auch mit Blick auf die Schwere des Grundrechtseingriffs, den die fürsorgerische Unterbringung darstellt (E. 2.2) – keinesfalls aus sachfremden Gründen (hier: Teilzeitarbeit der fallführenden Person) verzögert werden. In concreto: Aufhebung der fürsorgerischen Unterbringung in der Luzerner Psychiatrie Klinik St. Urban und Verpflichtung von deren ärztlicher Leitung, im Bedarfsfall für die Einweisung in eine geeignete Einrichtung zu sorgen (E. 3).

Aus dem Sachverhalt:

Der 1980 geborene A. wurde am 23. August 2023 mit ärztlicher fürsorgerischer Unterbringung (äFU) unter Verweis auf Fremdgefährdung in die Luzerner Psychiatrie, Klinik St. Urban, eingewiesen, wogegen er Beschwerde führte. 

(…)

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug traf – soweit sich dies aufgrund der offensichtlich fehlenden Organisation und internen Dokumentation in der Klinik St. Urban als möglich erwies – Abklärungen zum Sachverhalt und zog die Akten früherer Verfahren bei.

Aus den Erwägungen:

(…)

2.        

2.1 Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung lei­det oder schwer verwahrlost ist, darf in einer geeigneten Einrichtung untergebracht wer­den, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann (Art. 426 Abs. 1 ZGB). Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind mit zu berücksichtigen (Art. 426 Abs. 2 ZGB; Geiser/Etzensberger, Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 7. Aufl. 2022, Art. 426 N 8 ff., 41 ff.), wobei eine Fremdgefährlichkeit allein für eine Unterbringung nicht ausreicht (Art. 426 Abs. 2 ZGB; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 30. April 2019 i.S. T.B. gegen die Schweiz Ziff. 55 ff.; BGE 145 III 441 E. 8.4; Geiser/Etzensberger, Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 7. Aufl. 2022, Art. 426 N 8 ff., 41 ff.).

Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für ihre Unterbringung nicht mehr er­füllt sind; die Entlassungskompetenz – und entsprechend auch die Entlassungspflicht – liegen bei der Einrichtung (Art. 426 Abs. 3 und Art. 429 Abs. 3 ZGB).

2.2       Bei der fürsorgerischen Unterbringung handelt es sich um einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) der betroffenen Person, auch wenn ihre Dauer bei ärztlicher Anordnung befristet ist (BGE 148 III 1 E. 2.3.3; 143 III 189 E. 3.2 i.f.). Konkret wird die Bewegungsfreiheit der untergebrachten Person (als Teilgehalt des Grundrechts der persönlichen Freiheit) beschränkt, wenn diese gezwungen wird, gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik zu verbleiben. Die Vor- und Nachteile, welche die Unterbringung der betroffenen Person bringt, sind einander im Sinne einer umfassenden Interessen- und Güterabwägung gegenüberzustellen. Es ist dabei jeweils im Einzelfall auszuloten, wo die Grenze zwischen Selbstbestimmung und staatlicher Fürsorge verläuft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 7 BV; vgl. grundlegend zur Menschenwürde als Leitsatz jeglicher staatlichen Tätigkeit sowie als innerster Kern und Grundlage der Freiheitsrechte BGE 127 I 6 E. 5b mit Hinweisen; ausserdem BGE 143 IV 77 E. 4.1) es dem Gemeinwesen im Sinne einer minimalen Sorgfaltspflicht gebieten können, einer erkrankten Person die notwendige Pflege und Behandlung zukommen zu lassen, dank der sie überhaupt (wieder) befähigt wird, ihre Persönlichkeit zu entfalten und ihre persönliche Freiheit auszuüben (vgl. zum Ganzen BGE 130 I 16 E. 5 sowie [ausführlicher] BGE 127 I 6 E. 5).

2.3       Das Gesetz nennt als Voraussetzung für eine fürsorgerische Unterbringung das Vorliegen eines Schwächezustandes, der eine Behandlung oder Betreuung notwendig macht, die nicht anders als durch den Entzug der Freiheit erbracht werden kann (vgl. auch Geiser/Etzensberger, a.a.O., Art. 426 ZGB N 8). Zu ermitteln ist auf tatsächlicher Ebene zunächst, ob ein solcher Zustand vorliegt und ob bzw. inwiefern deshalb ein Fürsorgebedarf besteht. Anknüpfend am soeben Gesagten geht es darum zu ermitteln, ob die Fähigkeit einer Person zu eigenbestimmtem Handeln eingeschränkt ist und sie Unterstützung benötigt, um diese Fähigkeit – soweit möglich – wiederzuerlangen (etwa: Geiser/Etzens­berger, a.a.O., vor Art. 426–439 ZGB N 14). Ob ein Fürsorgebedarf vorliegt, ist aufgrund der konkreten Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Person bzw. von Dritten, die besteht, wenn die Behandlung der psychischen Störung bzw. die Betreuung unterbleibt, zu beur­tei­len. Anhand dieser tatsächlichen Angaben ist in rechtlicher Hinsicht zu beurteilen, ob, und wenn ja, warum, eine Be­hand­lung bzw. eine Betreuung «nötig» ist (vgl. BGer 5A_254/2013 vom 17. April 2013 E. 2.2).

Dabei ist auch die Verhältnismässigkeit zu prüfen. Die fürsorgerische Unterbringung muss erforderlich, geeignet und verhältnismässig im engeren Sinne sein. Die Grunderkrankung allein ist zwar notwendige, aber allein nicht ausreichende, Voraussetzung. Im Auge zu behalten ist bei der Überprüfung der Geeignetheit der Massnahme das Ziel der fürsorgerischen Unterbringung. Dieses besteht darin, die betroffene Person in die Selb­stän­digkeit zu füh­ren, ihre Eigenverantwortung zu stärken und ihr ein menschenwürdiges Dasein zu ermög­li­chen. Lassen sich eine Störung oder ihre Auswirkungen beseitigen oder mindestens ab­schwä­chen, ist während der fürsorgerischen Unterbringung alles Nötige vorzukehren, damit die betroffene Per­son wieder aus der Einrichtung entlassen werden und ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, Neigungen und Fähigkeiten selber gestalten und organisieren kann. Jedenfalls muss die Unterbringung die Lebensqualität der betroffenen Person verbessern (vgl. etwa BGer 5A_567/2020 vom 18. September 2020 E. 2.3; Geiser/Etzensberger, a.a.O., vor Art. 426–439 ZGB N 14). Die freiheitsbeschränkende Unterbringung ist weiter nur gesetzeskonform, wenn der angestrebte Zweck nicht mit einer milderen Massnahme erreicht werden kann.

3.        

3.1 Vorliegend lässt sich der Unterbringungsverfügung entnehmen, dass der Beschwerdeführer bei seiner Einweisung ein psychotisches Zustandsbild zeigte und auf dem Bahnperron in E./ZG in alkoholisiertem Zustand Passanten anpöbelte. Die Einweisung erfolgte demnach zwar erklärtermassen zufolge Fremdgefährdung; es liegt aber auf der Hand, dass sich der Beschwerdeführer durch solches Verhalten auf einem Bahnperron auch selber nicht unerheblich gefährdet hat (u.a.: Risiko von Stürzen auf das Bahngeleise). Aus früheren Verfahren ist weiter bekannt, dass bei ihm ca. 2008 eine schizoaffektive Störung diagnostiziert wurde. Ebenfalls ist aus den Darlegungen des psychiatrischen Gutachters im Mai 2021 bekannt, dass diese Störung lege artis primär medikamentös behandelt werden sollte (mit Antipsychotika, Neuroleptika und Stimmungsstabilisatoren, nebst psychosozialer Begleitung und Integration; vgl. VGer ZG F 2021 16 vom 27. Mai 2021 E. 3.4). Im Zeitpunkt des vormaligen Verfahrens im Jahr 2021 wurde der Beschwerdeführer mittels fürsorgerischer Unterbringung in die Klinik F./LU eingewiesen, wo eine solche Behandlung offenbar möglich war.

3.2 Aktuell befindet er sich indes in der Luzerner Psychiatrie Klinik St. Urban. Bei dieser Institution konnte das Gericht trotz mehrmaliger Versuche zwischen dem 4. und dem 6. September 2023 keinen Kontakt herstellen zu einer für den Beschwerdeführer zuständigen Arztperson, sondern wurde wiederholt mit andauernd wechselnden Psychologinnen verbunden. Akten waren von der Klinik St. Urban bis zum 6. September 2023 keine erhältlich. Die jeweiligen Psychologinnen gaben dem Gericht am 4. September 2023 telefonisch zu Protokoll, die Situation des Patienten werde am 5. September 2023 im Team besprochen; eine baldige Entlassung sei möglich, da zwar eine Behandlung nötig sei, indes akut weder Selbst- noch Fremdgefährdung vorliege. Am 5. September 2023 wurde sodann mitgeteilt, die FU werde per 6. September 2023 aufgehoben, was dem Patienten gleichentags um 11:00 mitgeteilt werde. Die Station werde dem Gericht alsdann umgehend eine Austrittsbestätigung (oder eine Einverständniserklärung zum freiwilligen Aufenthalt) weiterleiten. Auf nochmalige Nachfrage der Gerichtskanzlei hin teilte die Klinik endlich am Nachmittag des 6. September 2023 mit, die ärztliche FU werde bei Herrn A. aufgehoben und es finde am 7. September 2023 ein Gespräch zur Planung des weiteren Prozederes statt. Der in der Folge unternommene Versuch der Referentin, den Sachverhalt weiter zu erhellen (insbesondere: zu ermitteln, per wann die FU tatsächlich aufgehoben wurde bzw. werde sowie durch wen) scheiterte, da weder die fallführende Psychologin noch deren Stellvertretung anwesend waren. Die nach mehrmaliger Nachfrage erreichte leitende Psychologin G. zeigte keinerlei Verständnis für den rechtlichen Rahmen (insbesondere: Recht des Patienten auf Anhörung durch das Gericht bzw. auf Austritt bei Aufhebung der FU). Stattdessen erklärte sie, es sei nun einmal so, dass die fallführende Kollegin heute nicht arbeite, weshalb ein Gespräch mit Herrn A. erst am Folgetag stattfinde, und legte auf. Vom Ärztesekretariat war immerhin zu erfahren, dass auf der betreffenden Station keine Arztperson arbeite, was auch der Blick auf die Internetseite der Institution bestätigte, wo als «Ärztliche Leitung» der Akutpsychiatrien in der Klinik St. Urban durchwegs Psychologinnen aufgeführt wurden. Die beiden im Weiteren aufgeführten «leitenden Ärzte» der Klinik St. Urban arbeiten offenbar nicht regelmässig im Hause, sondern sind je in eigener Praxis tätig, so dass sehr fraglich erscheint, ob die notwendige ärztliche Betreuung in der Klinik St. Urban jederzeit gewährleistet ist (…).

3.3 Vorliegend ist gerichtsnotorisch (vgl. oben E. 3.1), dass eine geeignete Behandlung bei der Diagnose des Beschwerdeführers primär medikamentös sein muss. Eine solche kann indes offensichtlich nicht in einer Klinik bzw. auf einer Station erfolgen, in der keine Arztperson für den Beschwerdeführer zuständig ist, obliegt die Verantwortung für die medikamentöse Behandlung doch den zugelassenen Arztpersonen. Mithin muss festgestellt werden, dass die Luzerner Psychiatrie Klinik St. Urban für den Beschwerdeführer – im Gegensatz zur Klinik F., wo offenbar Arztpersonen tätig sind – zum vornherein keine geeignete Einrichtung ist. Mit Blick auf die fehlende Eignung der Klinik St. Urban darf der Beschwerdeführer in dieser Einrichtung nicht gegen seinen Willen weiter festgehalten werden, sondern er ist umgehend zu entlassen. Sofern eine weitere stationäre Betreuung und Behandlung aktuell (noch) notwendig erscheint – was vorliegend offen gelassen werden kann und muss, nachdem das Gericht den Beschwerdeführer angesichts der zum vornherein fehlenden Eignung der Klinik weder persönlich anhören noch begutachten lassen musste –, wird es in der Verantwortung der Klinikleitung liegen, für eine Einweisung in eine geeignete Einrichtung besorgt zu sein, wo der Beschwerdeführer die notwendige medikamentöse Behandlung in Anspruch nehmen kann.

3.4 Lediglich der Vollständigkeit halber ist die Klinik weiter darauf hinzuweisen, dass es selbstverständlich nicht angeht, die Entlassung eines Patienten – nota bene anscheinend ohne konkreten Behandlungsplan sowie im Wissen um die nicht (mehr) vorhandene Selbst- und Fremdgefährdung – mit Verweis auf Abwesenheiten einzelner Psychologinnen immer weiter hinauszuzögern.

3.5       Zusammenfassend ist die Beschwerde insofern gutzuheissen, als die fürsorgerische Unterbringung vom 23. August 2023 aufzuheben und der Beschwerdeführer aus der Luzerner Psychiatrie Klinik St. Urban umgehend zu entlassen ist.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. September 2023, F 2023 36
Das Urteil ist rechtskräftig.
Vollständiges Urteil auf der Entscheiddatenbank www.verwaltungsgericht.zg.ch.

 

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