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Zwangsmassnahmen im Gesundheitswesen (Zwangsmedikation)

Regeste:

Art. 7 und 10 Abs. 2 BV, Art. 434 ZGB – Die medikamentöse Behandlung ohne Zustimmung stellt einen schweren Grundrechtseingriff dar. Sie muss sich auf einen detaillierten Behandlungsplan der behandelnden Arztperson stützen; die zwangsweise Anwendung der darin enthaltenen Massnahmen ist durch eine zweite, leitende Arztperson zu verfügen (Vieraugenprinzip). Es muss nicht jeder Behandlungsschritt einzeln angeordnet werden, sondern es kann eine über längere Zeit andauernde, aus mehreren Eingriffen bestehende Behandlung als Ganzes angeordnet werden. Die angeordnete Massnahme kann auch bei laufendem Beschwerdeverfahren sofort vollstreckt werden, sofern ein dringender therapeutischer (Weiter-)Behandlungsbedarf besteht, was durch die anordnende Arztperson zu begründen ist. Ist dies nicht der Fall, ist mit der Behandlung bis zum Urteilsspruch zuzuwarten (E. 2).

Aus dem Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin leidet seit 2001 an einer psychotischen Erkrankung aus dem schizophreniformen Spektrum, was u.a. zu ihrer behördlichen Unterbringung in der Triaplus AG Klinik Zugersee führte. Im Rahmen der Hospitalisation wurde wiederholt, zuletzt am 23. Dezember 2022, die zwangsweise Medikation mit Fluanxol Depot Injektionslösung verfügt. Begründet wurde die Anordnung mit einem seit Monaten bestehenden, nicht anders beherrschbaren, psychotischen Zustand der Patientin mit Selbst- und Fremdgefährlichkeit, insbesondere raptusartigen Aggressionsausbrüchen sowie ausgeprägten Verwahrlosungstendenzen (Einnässen, Weigerung alsdann Kleidung zu wechseln oder zu duschen). Gegen die Verfügung vom 23. Dezember 2023 führte die Patientin Beschwerde beim Verwaltungsgericht.

(…)

Aus den Erwägungen:

(…)

2. Die medikamentöse Behandlung ohne Zustimmung stellt einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit im Sinne der körperlichen und geistigen Integrität (Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 8 Ziffer 1 EMRK) dar und betrifft auch die Menschenwürde gemäss Art. 7 BV zentral (BGE 130 I 16 E. 3). Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber bestimmte Mechanismen eingebaut, um einen rechtsstaatlich einwandfreien Behandlungsablauf zu garantieren (vgl. etwa auch VGer ZG F 2022 9 vom 25. Februar 2022 E. 2.2). Weiter existieren auch medizinisch-ethische Richtlinien der schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Anwendung von Zwangsmassnahmen in der Medizin (zuletzt in der 5. Aufl. 2018; diese Richtlinien befassen sich nebst der Frage nach Rechtfertigung und Verfahren zur Anordnung von Zwangsmassnahmen nicht zuletzt auch mit der praktischen Umsetzung von Zwangsmassnahmen).

2.1 Wird eine Person zur Behandlung einer psychischen Störung in einer Einrichtung untergebracht (Art. 426 Abs. 1 ZGB), so erstellt die behandelnde Arztperson unter Beizug der be­troffenen Person und gegebenenfalls deren Vertrauensperson einen schriftlichen Behand­lungsplan (Art. 433 Abs. 1 ZGB). Mit dem Behand­lungsplan muss die betroffene Person über alle Umstände informiert werden, die im Hin­blick auf die in Aussicht genommenen medizinischen Massnahmen wesentlich sind, insbe­sondere über Gründe, Zweck, Art, Modalitäten, Risiken und Nebenwirkungen, über Folgen eines Unterlassens der Behandlung sowie über allfällige alternative Behand­lungs­möglichkeiten (Art. 433 Abs. 2 ZGB). Ein solcher Behandlungsplan ist unabdingbare Vor­aussetzung für eine Behandlung ohne Zustimmung gemäss Art. 434 Abs. 1 ZGB, die vom Chefarzt oder zumindest einem Kaderarzt einer Abteilung (siehe dazu BGE 143 III 337 E. 2.4.2) alsdann auf seiner Grundlage anzuordnen ist, wenn die in Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1 bis 3 ZGB erwähnten weiteren Voraussetzungen erfüllt sind (wenn – kumulativ – ohne Behandlung der betroffenen Person ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht oder das Leben oder die körperli­che Integrität Dritter ernsthaft gefährdet ist [Ziff. 1], die betroffene Person bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig ist [Ziff. 2] und keine angemessene Massnahme zur Verfügung steht, die weniger einschnei­dend ist [Ziff. 3]; vgl. zum Ganzen BGer 5A_1021/2021 vom 17. Dezember 2021 E. 5.3.2). Vorbehalten bleibt die Anordnung medizinischer Massnahmen, die sofort aufgrund einer Notfallsituation um­gesetzt werden müssen (Art. 435 ZGB). Die Behandlung ohne Zustimmung ist von Bundesrechts wegen lediglich im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung vorgesehen, die zum Zweck der Behandlung einer psychischen Störung angeordnet worden ist (etwa: Geiser/Etzensberger, a.a.O., N. 13 zu Art. 434/435 ZGB).

2.2 Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss sich die Anordnung von medizinischen Massnahmen ohne Zustimmung (wobei es sich um eine hoheitliche Verfügung handelt, vgl. dazu BGE 143 III 337 E. 2.6) selber nicht zwingend zur Art der gegen den Willen der Patientin oder des Patienten angeordneten Massnahmen äussern. Die Anordnung ist im Zusammenhang mit dem Behandlungsplan zu lesen; es können auch nur die im Behandlungsplan vorgesehenen Massnahmen angeordnet werden. Entsprechend sollte die vorgesehene Medikation im Behandlungsplan möglichst detailliert festgehalten werden (BGE 143 III 337 E. 2.4.2; VGer ZG F 2018 1 vom 25. Januar 2018 E. 3.1.2; F 2017 15 vom 30. März 2017 E. 2.3).

2.3 Das Gesetz äussert sich nicht ausdrücklich zur Frage, ob die Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung immer nur einen einzelnen Behandlungsschritt betreffen kann oder ob auch eine über längere Zeit andauernde, aus mehreren Eingriffen (etwa: aus mehreren parenteralen Gaben) bestehende Behandlung als Ganzes angeordnet werden kann.

2.3.1 Soweit aus den Materialien ersichtlich, hat sich der Gesetzgeber hiermit nicht näher befasst. Wie indes mittlerweile (auch) die publizierte bundesgerichtliche Rechtsprechung festhält, spricht der Umstand, dass die Anordnung aufgrund des Behandlungsplans erfolgt, dafür, dass eine Behandlung, die über längere Zeit verschiedene Interventionen vorsieht, mit einem einzigen Entscheid angeordnet werden kann (BGE 143 III 337 E. 2.4.3; Geiser / Etzensberger, a.a.O., N. 27 zu Art. 434 / 435 ZGB; vgl. früher bereits etwa VGer ZG F 2016 27 und 28 vom 17. Juni 2016 E. 3.4 sowie F 2017 3 vom 20. Januar 2017 E. 3.4). Es erschiene unpraktikabel, wenn immer nur einzelne Teile der Behandlung angeordnet werden könnten, zumal beispielsweise die Einstellung einer ausreichenden Dosis eines antipsychotischen Medikaments über einen ausreichenden Zeitraum regelhaft mehr als eine Anwendung voraussetzen dürfte. Entgegen der Lehre (Geiser / Etzensberger, a.a.O.; Rosch, in: Rosch / Büchler / Jakob, Erwachsenenschutzrecht, 2. Aufl. 2015, Art. 433-435 N. 13) verlangt das oberste Gericht zudem auch nicht, dass die Anordnung zeitlich zum vorneherein befristet werden muss (BGE 143 III 337, a.a.O.).

2.3.2 Immerhin dürfte es in der Praxis aber so sein, dass i.d.R. innert der von der Lehre genannten Frist von maximal sechs Monaten entweder eine Besserung des Zustandes dergestalt eintreten sollte, dass eine Entlassung aus dem stationären Klinikrahmen in eine Nachbetreuung möglich ist – womit zusammen mit der fürsorgerischen Unterbringung jegliche Zwangsmassnahmen gemäss Art. 434 f. ZGB ohnehin dahinfallen (oben E. 2.1) –, oder es werden Behandlungsalternativen zu prüfen sein. Ist letzteres der Fall, wird gestützt auf einen neuen, angepassten Behandlungsplan ggf. auch wieder eine neue, schriftliche Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung i.S.v. Art. 434 ZGB nötig sein.

2.3.3 Da mit der Anordnung medizinischer Massnahmen ohne Zustimmung über einen längeren oder sogar unbefristeten Zeitraum hinweg ein Dauerrechtsverhältnis geregelt wird, ist dem Rechtsschutzinteresse der betroffenen Person dadurch Genüge getan, dass es ihr auch nach Ablauf der Beschwerdefrist grundsätzlich jederzeit frei steht, bei der Klinik um Wiedererwägung der getroffenen Anordnung zu ersuchen. Ein Rechtsanspruch auf Wiedererwägung (im Sinne einer zumindest vertieften Prüfung und einer Begründung des getroffenen [Wiedererwägungs-]Entscheids, nicht aber auch zwingend eines anderen Resultats) besteht indes nur dann, wenn sich die Umstände seit dem ersten Entscheid wesentlich geändert haben oder die betroffene Person erhebliche Tatsachen und Beweismittel namhaft machen kann, die ihr im früheren Verfahren nicht bekannt waren oder die sie aus rechtlicher oder tatsächlicher Unmöglichkeit damals nicht geltend machen konnte. Die Möglichkeit der Wiedererwägung darf nämlich nicht bloss dazu dienen, rechtskräftige Verfügungen immer wieder in Frage zu stellen oder die Fristen für die Ergreifung von Rechts­mitteln zu umgehen (zum aus Art. 29 Abs. 1 BV abgeleiteten Mindestanspruch auf Wiedererwägung oder Revision bei nachträglicher wesentlicher Änderung der Umstände vgl. etwa BGE 136 II 177 E. 2.1; BGer 1C_488/2021 vom 9. Februar 2022 E. 3.2 mit Hinweisen). Auf die Möglichkeit der Wiedererwägung – als sogenannt ausserordentliches Rechtsmittel – muss in der Rechtsmittelbelehrung nicht hingewiesen werden.

2.4 Hinsichtlich der Vollstreckbarkeit von Anordnungen medizinischer Massnahmen ohne Zustimmung ist festzuhalten was folgt:

2.4.1 In Notfallkonstellationen gemäss Art. 435 ZGB ergibt sich die sofortige Vollstreckbarkeit der angeordneten Massnahmen – insoweit auch sachlogisch – bereits aus dem Gesetz (Abs. 1). Demgegenüber erscheint bei medizinischen Zwangsmassnahmen gemäss Art. 434 ZGB (noch) nicht abschliessend geklärt, ob einer Beschwerde an die kantonale gerichtliche Beschwerdeinstanz grundsätzlich aufschiebende Wirkung zukommt, diese aber durch die verfügende Behörde oder das Gericht entzogen werden kann, oder ob die Anordnung dem Grundsatz nach sofort vollstreckbar ist, indes mit Blick auf die Verhältnismässigkeit die aufschiebende Wirkung grundsätzlich (durch den verfügenden Arzt) erteilt werden muss, wenn aus medizinischer Sicht mit der Behandlung bis zum Ablauf der Frist für die Anrufung des Gerichts zugewartet werden kann, weil dadurch die Rechte der Patientin oder des Patienten besser gewahrt werden und damit eine weniger einschneidende Massnahme möglich ist. Von einer grundsätzlich bestehenden aufschiebenden Wirkung scheint mittlerweile das Bundesgericht auszugehen (vgl. den – unpublizierten – BGer 5A_985/2020 vom 26. Mai 2021 E. 2.3.2 i.f., worin indes das Bundesgericht nicht gänzlich überzeugend Art. 450c i.V.m. Art. 439 Abs. 3 ZGB zur Anwendung bringt, ohne sich näher damit auseinanderzusetzen, dass Art. 450c ZGB sich grundsätzlich auf Entscheide der KESB bezieht, und sich auch nicht zur Bedeutung von Art. 450e Abs. 2 ZGB in diesem Zusammenhang äussert). Demgegenüber neigt die Lehre offenbar dazu, sofortige Vollstreckbarkeit anzunehmen (so Geiser/Etzensberger, N 41 zu Art. 434/435 ZGB sowie N 45 zu Art. 439 ZGB mit Hinweisen und unter Verweis auf Art. 430 Abs. 3 ZGB [analog]; unklar Rosch, a.a.O., N 13 zu Art. 433-435 ZGB).

2.4.2 Praktisch dürfte der dogmatischen Einordnung keine überragende Bedeutung zukommen: Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass bei der Frage danach, ob eine medizinische Zwangsmassnahme sofort vollstreckt werden kann, zentral ist, ob aus medizinischer Sicht zwingende Gründe eine Vollstreckung trotz laufenden Beschwerdeverfahrens erheischen, also ein dringender therapeutischer Handlungsbedarf besteht. Solches ist etwa vorstellbar, wenn eine Behandlung – so wie hier geschehen – nicht als Ganzes, sondern jeweils in der Einzelanwendung angeordnet wird, und durch einen Behandlungsunterbruch eine bereits aufgrund früherer Anordnungen begonnene Behandlung als gefährdet erscheint. Die anordnende Arztperson hat in solchen Fällen kurz zu begründen, weshalb die Behandlung aus medizinischer Sicht keinen Aufschub bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens duldet. Entsprechend ist in der Rechtsmittelbelehrung der Hinweis auf die aufschiebende Wirkung zu streichen. Verneint hingegen die anordnende Arztperson die besondere Dringlichkeit der Vollstreckung, ist von der Behandlung vorerst Abstand zu nehmen, wobei der Verweis auf die aufschiebende Wirkung in der Rechtsmittelbelehrung folgerichtig zu belassen ist (gemäss aktueller Formulierung der Triaplus AG Klinik Zugersee: «Wird dieses Rechtsmittel [Verwaltungsgerichtsbeschwerde] eingelegt, muss mit der Behandlung zugewartet werden»).

2.4.3 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass einer anschliessenden Beschwerde an das Bundesgericht gemäss dessen Rechtsprechung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. etwa – e contrario – BGer 5A_38/2011 vom 2. Februar 20022 Sachverhalt lit. C).

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. Dezember 2022 F 2022 40
Dieses Urteil ist rechtskräftig.

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