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Art. 51 Abs. 1 lit. a und lit. b AVIG, Art. 53 Abs. 1 AVIG
Art. 28a IVG, Art. 34a Abs. 1 BVG
Regeste:
Die Beschwerdeführerin hat unbestrittenermassen Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Das Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der exakten Höhe des Invaliditätsgrades ist gleichwohl zu bejahen. Denn hiervon hängt ab, ob und falls ja in welchem Umfang die beigeladene Vorsorgeeinrichtung, welche im Regelfall an die invalidenversicherungsrechtliche Rentenbemessung gebunden ist, in der Folge eine Kürzung der Rente wegen Überentschädigung vornehmen kann. Andernfalls könnte die versicherte Person die entsprechenden Bemessungselemente zu keinem Zeitpunkt (und in keinem Verfahren) überprüfen lassen, da sich die Vorsorgeeinrichtung anlässlich eines Überentschädigungsverfahrens einzig mit allfälligen gegen die Erzielung eines dem Invalideneinkommen äquivalenten Resterwerbseinkommens vorgebrachten Einwänden befasst.
Aus dem Sachverhalt:
(…)
A.c Am 5. September 2019 (Eingangsdatum) meldete sich die Versicherte unter Hinweis auf einen Status nach multiplen embolischen Hirninfarkten bei der IV-Stelle zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle nahm medizinische und beruflich-erwerbliche Abklärungen vor. Am 12. März 2020 teilte sie der Versicherten mit, dass sie die Kosten für Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche durch ihre Eingliederungsberaterin übernehme. Am 8. Oktober 2020 erteilte die IV-Stelle Kostengutsprache für ein Belastbarkeitstraining vom 26. Oktober 2020 bis zum 25. Januar 2021 beim B. (vgl. auch Schlussbericht für Integrationsmassnahmen vom 3. Februar 2021). In der Folge gab sie beim BEGAZ Begutachtungszentrum ein polydisziplinäres Gutachten in Auftrag, das am 22. Januar 2023 erstattet wurde. Nach entsprechendem Vorbescheid vom 31. Januar 2023 sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Verfügung vom 16. März 2023 mit Wirkung ab dem 1. April 2020 eine ganze Rente zu. Per 1. April 2020 ermittelte sie dabei einen Invaliditätsgrad von 100 %, ab dem 1. März 2021 von 72 %, vom 1. August bis zum 30. September 2021 von 100 % und ab dem 1. Oktober 2021 von 81 %.
B. Dagegen erhob die Versicherte am 11. April 2023 Beschwerde mit folgenden Anträgen:
1. Die Verfügung vom 16. März 2023 sei aufzuheben.
2. Die Beschwerdegegnerin habe der Beschwerdeführerin ab dem 1. April 2020 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente auszurichten und dies sei rechtsverbindlich auch gegenüber der Beizuladenden festzustellen.
3. Die PKG Pensionskasse sei beizuladen.
4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (inkl. MWST) zulasten der Beschwerdegegnerin.
C. Am 18. April 2023 bezahlte die Beschwerdeführerin den ihr mit Verfügung vom 12. April 2023 auferlegten Kostenvorschuss innert Frist.
D. Mit Verfügung vom 19. April 2023 lud das Verwaltungsgericht des Kantons Zug die PKG Pensionskasse zum Verfahren bei.
E. Die Beschwerdegegnerin stellte mit Vernehmlassung vom 16. Mai 2023 folgende Anträge:
- Die Beschwerde sei insofern gutzuheissen, als der Invaliditätsgrad ab 1. Januar 2022 auf 83 % festzusetzen sei. Im Übrigen sei die Beschwerde abzuweisen.
- Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beschwerdeführerin.
F. Mit Replik vom 19. Mai und Duplik vom 4. Juli 2023 hielten die Parteien je an ihren Anträgen fest.
G. Die Beigeladene stellte in der Stellungnahme vom 29. September 2023 folgende Anträge:
- Auf die Beschwerde vom 11. April 2023 sei mangels Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten.
- Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beschwerdeführerin
H. Am 5. Oktober 2023 liess sich die Beschwerdeführerin zur Stellungnahme der Beigeladenen vom 29. September 2023 vernehmen.
Aus den Erwägungen:
(…)
3.
3.1 Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob ein Rechtsschutzinteresse an der Beurteilung der Beschwerde besteht.
3.2
3.2.1 Wurde, wie vorliegend, eine präsumtiv leistungspflichtige Vorsorgeeinrichtung unbestrittenermassen rechtzeitig in das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren einbezogen und ihr die Rentenverfügung formgültig eröffnet, sind die wesentlichen Feststellungen und Beurteilungen für die Festsetzung des Invaliditätsgrades in dem das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren abschliessenden Entscheid für sie grundsätzlich verbindlich, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar sind (BGE 133 V 67 E. 4.3.2 mit Hinweisen). Diese Bindung gilt für den obligatorischen Bereich (Art. 23 ff. BVG; BGE 132 V 1 E. 3.2) und, soweit das einschlägige Vorsorgereglement ausdrücklich oder unter Hinweis auf das Gesetz vom selben Invaliditätsbegriff ausgeht wie die Invalidenversicherung, auch im überobligatorischen Bereich (BGer 9C_246/2016 vom 31. August 2016 E. 5.2.1 mit Hinweisen).
Die Vorsorgeeinrichtung kann die Hinterlassenen- und Invalidenleistungen kürzen, soweit diese zusammen mit anderen Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung sowie weiteren anrechenbaren Einkünften 90 Prozent des mutmasslich entgangenen Verdienstes übersteigen (Art. 34a Abs. 1 BVG). Zu diesen anderen anrechenbaren Einkünften gehört bei Bezügern von Invalidenleistungen u.a. das weiterhin erzielte oder zumutbarerweise noch erzielbare Erwerbs- oder Ersatzeinkommen (Art. 24 Abs. 1 lit. d der Verordnung über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVV 2; SR 831.441.1]; BGer 9C_246/2016 vom 31. August 2016 E. 5.2.2).
Die Vorsorgeeinrichtung, die eine Kürzung der obligatorischen Invalidenleistungen beabsichtigt, muss der teilinvaliden versicherten Person das rechtliche Gehör hinsichtlich jener arbeitsmarktbezogenen und persönlichen Umstände gewähren, die ihr die Erzielung eines Resterwerbseinkommens in der Höhe des von der Invalidenversicherung ermittelten Invalideneinkommens erschweren oder verunmöglichen. Diesem Gehörsanspruch steht freilich auf Seiten der versicherten Person eine entsprechende Mitwirkungspflicht gegenüber. Sie hat im Überentschädigungsverfahren alle im konkreten Einzelfall massgebenden persönlichen Umstände und tatsächlichen Arbeitsmarktchancen, welche der Erzielung eines dem Invalideneinkommen äquivalenten Resterwerbseinkommens entgegenstehen, zu behaupten, zu substantiieren und hiefür soweit möglich Beweise anzubieten, namentlich durch den Nachweis erfolglos gebliebener Stellenbemühungen (BGE 134 V 64 E. 4.2.1 und 4.2.2; BGer 9C_246/2016 vom 31. August 2016 E. 5.2.2.3).
Die der invalidenversicherungsrechtlichen Rentenbemessung zugrunde gelegte (Rest-)Arbeitsfähigkeit und das gestützt darauf ermittelte Invalideneinkommen bestimmen aufgrund der im Regelfall vorhandenen Bindungswirkung massgeblich, ob und in welcher Höhe der versicherten Person im berufsvorsorgerechtlichen Überentschädigungsverfahren ein im Sinne von Art. 24 Abs. 1 lit. d BVV 2 zumutbarerweise noch erzielbares Erwerbseinkommen anzurechnen ist. Sie beeinflussen in einem erheblichen Masse den Umfang, um den eine berufsvorsorgerechtliche Invalidenrente gegebenenfalls infolge Überentschädigung gekürzt wird. Wirken sich die diesbezüglichen Faktoren somit unmittelbar auf die berufsvorsorgerechtlichen Belange aus, ist ein schutzwürdiges Interesse des Versicherten an der Feststellung einer geringeren bzw. nicht vorhandenen Arbeitsfähigkeit, eines daraus resultierenden niedrigeren bzw. mit Fr. 0.– zu veranschlagenden Invalidenkommens und eines sich daraus ergebenden höheren Invaliditätsgrades zu bejahen. Anders zu entscheiden hiesse, dass der Versicherte die entsprechenden Bemessungselemente zu keinem Zeitpunkt (und in keinem Verfahren) überprüfen lassen könnte, befasst sich die Vorsorgeeinrichtung anlässlich eines Überentschädigungsverfahrens doch einzig mit allfälligen gegen die Erzielung eines dem Invalideneinkommen äquivalenten Resterwerbseinkommens – und damit gegen die Verwertbarkeit der invalidenversicherungsseitig angenommenen Arbeitsfähigkeit – vorgebrachten Einwänden. Anzumerken ist überdies, dass sich im Falle der Feststellung einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit eine Intervention des Versicherten bezüglich der Überentschädigungsberechnung der Vorsorgeeinrichtung erübrigte, da der Posten «zumutbares Erwerbseinkommen» entfiele und sich dadurch die auszuzahlende Rente erhöhte. Auch unter diesem Gesichtspunkt – Vermeidung eines zusätzlichen Verfahrens – ist ein schützenswertes Feststellungsinteresse des Versicherten mithin gegeben (BGer 9C_246/2016 vom 31. August 2016 E. 5.2.3.2 mit Hinweisen).
3.2.2 Durch die Beiladung wird die Rechtskraft des (letztinstanzlich gefällten) Urteils auf die beigeladene Vorsorgeeinrichtung ausgedehnt. In einem allfälligen später gegen sie gerichteten Prozess hat die Beigeladene das Urteil gegen sich gelten zu lassen. Weiter gehende Wirkungen kommen der Beiladung nicht zu; sie führt namentlich nicht dazu, dass über Rechtsbegehren zu befinden ist, welche die Zusprechung von Leistungen der beigeladenen Vorsorgeeinrichtung zum Gegenstand haben (BGE 130 V 501).
3. Die Beigeladene wies zwar zutreffend darauf hin, dass das Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses an der Beurteilung einer Beschwerde in der Regel nur bejaht wird, wenn eine Änderung des Dispositivs verlangt wird (vgl. dazu etwa BGer 8C_539/2008 vom 13. Januar 2009 E. 2.2 mit Hinweis). Da der Invaliditätsgrad gemäss Art. 24 Ziff. 2 des Vorsorgereglements der Beigeladenen grundsätzlich nach Massgabe des Entscheids der Invalidenversicherung festgelegt wird, der Beschwerdeführerin mit Blick auf die von der Beigeladenen im Vorsorgeausweis vom 8. März 2019 bereits errechnete Vollinvalidenrente von Fr. 64'999.80 unmittelbar eine Kürzung wegen Überentschädigung droht und die Beigeladene in der Stellungnahme vom 29. September 2023 nicht erklärte, auf eine Kürzung wegen Überentschädigung zu verzichten, ist hier jedoch eine besondere Konstellation gegeben. Diese Konstellation ist mit dem Sachverhalt, der BGer 9C_246/2016 vom 31. August 2016 zugrunde lag, weitestgehend zu vergleichen. In jenem vom Bundesgericht beurteilten Fall sprach eine IV-Stelle einem Versicherten gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 83 % eine ganze Rente zu, woraufhin die zuständige Vorsorgeeinrichtung die auszurichtenden Rentenleistungen infolge Überentschädigung kürzte. Das kantonale Gericht trat in der Folge auf die vom Versicherten gegen die Rentenverfügung der IV-Stelle erhobene Beschwerde – nach Beiladung der Vorsorgeeinrichtung – nicht ein. Das Bundesgericht hob den kantonalen Entscheid auf und begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Versicherte nicht primär die mangelnde Verwertbarkeit der ihm attestierten Restarbeitsfähigkeit kritisiere, sondern den Umstand des ihm bescheinigten Leistungsvermögens an sich beanstande. Die Überprüfung des ihm bescheinigten Leistungsvermögens wäre im Überentschädigungsverfahren jedoch nicht mehr möglich (vgl. Sachverhalt A. und B. sowie E. 5.2.3.1 und 5.2.3.2). Vorliegend beanstandet die Beschwerdeführerin ebenfalls die von der Beschwerdegegnerin ermittelten Validen- und Invalideneinkommen und die sich daraus ergebenden Invaliditätsgrade. Überdies macht sie auch geltend, dass die Restarbeitsfähigkeit nicht mehr verwertbar sei. Ob die Beschwerdegegnerin die Vergleichseinkommen korrekt ermittelt hat, kann – anders als die mangelnde Verwertbarkeit der attestierten Restarbeitsfähigkeit – einzig im invalidenversicherungsrechtlichen Beschwerdeverfahren überprüft werden. Hätte die Beschwerdeführerin die Verfügung vom 16. März 2023 nicht angefochten, wäre ihr eine entsprechende Überprüfung verwehrt geblieben. Unter diesen Umständen ist ein schützenswertes Feststellungsinteresse an der Beurteilung der Beschwerde zu bejahen, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.
(…)
Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2024, S 2023 50
Das Urteil ist rechtskräftig.
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