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Art. 51 Abs. 1 lit. a und lit. b AVIG, Art. 53 Abs. 1 AVIG
Regeste:
Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG setzt im Sinne einer doppelten Kausalität voraus, dass die Nichteröffnung des Konkurses einzig durch das Fehlen der Bereitschaft der Gläubiger bedingt ist, die Kosten für das Konkursverfahren vorzuschiessen; der Grund für diese mangelnde Bereitschaft wiederum liegt in der offensichtlichen Überschuldung des Arbeitgebers. Die Überschuldung ist offensichtlich, wenn sie von jedem Gläubiger ohne weitere Schwierigkeiten erkennbar ist. Liegt der Grund der Nichtbezahlung des Kostenvorschusses jedoch in der mangelnden Feststellbarkeit der Überschuldung, in Zahlungsschwierigkeiten der Gläubiger oder in der Befürchtung von Schwierigkeiten, ist die Voraussetzung von Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG nicht gegeben. Für den Beginn der 60-tägigen Frist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung ist vorliegend das Datum der Publikation der Einstellung des Konkurses massgebend (Art. 53 Abs. 1 AVIG).
Aus dem Sachverhalt:
A. A., geboren 1978, arbeitete seit Juli 2008 für die B. in Zug. Nach durchgeführtem Schlichtungsverfahren erhob der Versicherte am 12. Februar 2016 beim Kantonsgericht Zug Klage gegen die B. und forderte insbesondere die Bezahlung der Löhne der Monate November 2015, Dezember 2015 und Januar 2016 in der Höhe von je Fr. 8'050.– nebst Zins zu 5 %. Am 4. April 2016 kündigte der Versicherte das Arbeitsverhältnis mit der B. wegen Lohnverzugs fristlos. Am 12. April und 12. Juli 2016 erhob er beim Kantonsgericht Zug erneut Klage gegen die B. und forderte insbesondere die Bezahlung der Löhne der Monate Februar, März und April 2016 in der Höhe von je netto Fr. 8'050.– nebst Zins zu 5 % sowie die Aufhebung des Rechtsvorschlags in der Betreibung Nr.C. des Betreibungsamtes Zug. Mit Entscheid vom 23. März 2020 verpflichtete das Kantonsgericht Zug die B., dem Versicherten den Nettobetrag von Fr. 24'150.– (Lohn der Monate November 2015, Dezember 2015 und Januar 2016) nebst Zins zu 5 % zu bezahlen. Mit Entscheid vom 10. November 2020 verpflichtete der Einzelrichter des Kantonsgerichts Zug die B., dem Versicherten den Nettobetrag von Fr. 16'452.95 (Fr. 24'150.– abzüglich Fr. 7'697.05; Lohn für die Monate Februar, März und April 2016) nebst Zins zu 5 % zu bezahlen. Gleichzeitig hielt das Gericht fest, dass der Versicherte die Betreibung Nr. C. des Betreibungsamtes Zug fortsetzen könne. In der Folge setzte der Versicherte die Betreibung Nr. C. sowie eine weitere Betreibung Nr. D. des Betreibungsamtes Zug fort und reichte am 10. März 2021 zwei Konkursbegehren gegen die B. ein. Mit Schreiben vom 12. März 2021 teilte das Kantonsgericht Zug mit, dass die Konkursverhandlung am 13. April 2021, 9.00 Uhr, stattfinde. Der Versicherte habe für die voraussichtlichen Kosten dieser Verfahren einen Vorschuss von je Fr. 200.– zu leisten. Mit Eingaben vom 13. April 2021 zog der Versicherte die Konkursbegehren zurück. Mit Entscheiden vom 13. April 2021 setzte das Kantonsgericht Zug die Konkursverhandlungen ab und schrieb das Konkurseröffnungsverfahren zufolge Rückzugs ab. Mit Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zug vom E. wurde die B. gemäss Art. 731b des Obligationenrechts (OR; SR 220) aufgelöst und ihre Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs angeordnet. Mit Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zug vom F. wurde das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt.
Am 23. Januar 2023 (Eingangsdatum) reichte der Versicherte bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zug (nachfolgend: ALK) einen Antrag auf Insolvenzentschädigung für offene Lohnforderungen in der Höhe von Fr. 87'748.50 ein (Fr. 28'770.– für den Zeitraum November und Dezember 2015 und Fr. 58'978.50 für den Zeitraum Januar bis April 2016). Mit Verfügung vom 30. Januar 2023 verneinte die ALK einen Anspruch auf Insolvenzentschädigung, da die 60-tägige Frist zur Einreichung des Antrags nicht eingehalten worden sei. Die dagegen vom Versicherten am 8. Februar 2023 erhobene Einsprache wies die ALK mit Entscheid vom 15. Mai 2023 ab.
B. Dagegen erhob der Versicherte am 15. Juni 2023 Beschwerde und beantragte, es sei der angefochtene Einspracheentscheid vom 15. Mai 2023 aufzuheben und ein Anspruch auf Insolvenzentschädigung zu bejahen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Weiteren ersuchte der Beschwerdeführer um Zusprechung einer Genugtuung nach Ermessen des Gerichts; alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin.
C. Die Beschwerdegegnerin schloss mit Vernehmlassung vom 31. Juli 2023 auf Abweisung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
(…)
2.
2.1 Gemäss Art. 51 Abs. 1 AVIG haben beitragspflichtige Arbeitnehmer von Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf Insolvenzentschädigung, wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen in diesem Zeitpunkt Lohnforderungen zustehen (lit. a), wenn der Konkurs nur deswegen nicht eröffnet wird, weil sich infolge offensichtlicher Überschuldung des Arbeitgebers kein Gläubiger bereit findet, die Kosten vorzuschiessen (lit. b), oder wenn sie gegen ihren Arbeitgeber für Lohnforderungen das Pfändungsbegehren gestellt haben (lit. c). Der Anspruch auf Insolvenzentschädigung knüpft an den Eintritt eines im Gesetz abschliessend aufgezählten, gleichrangigen Insolvenztatbestandes an. Bei mehreren sich folgenden Insolvenztatbeständen des gleichen Arbeitgebers ist das zeitlich zuerst eintretende Ereignis massgebend (Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Bd. Soziale Sicherheit, 3. Aufl. 2016, Rz. 604).
2.2
2.2.1 Wird über den Arbeitgeber der Konkurs eröffnet, so muss der Arbeitnehmer seinen Entschädigungsanspruch spätestens 60 Tage nach der Veröffentlichung des Konkurses im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) bei der öffentlichen Kasse stellen, die am Ort des Betreibungs- und Konkursamtes zuständig ist (Art. 53 Abs. 1 AVIG). Mit dem Ablauf dieser Frist erlischt der Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 53 Abs. 3 AVIG).
2.2.2 Im Falle nach Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG hat der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin den Anspruch auf Insolvenzentschädigung spätestens 60 Tage nach Kenntnisnahme des unbenützten Ablaufs der Frist für die Leistung des Kostenvorschusses nach Art. 169 Abs. 2 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG; SR 281.1) geltend zu machen (Art. 77 Abs. 5 AVIV).
Die Person, welche das Konkursbegehren gestellt hat, nimmt in jedem Fall Kenntnis vom unbenützten Ablauf der Frist für die Leistung des Kostenvorschusses nach Art. 169 Abs. 2 SchKG (AVIG-Praxis IE des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, Stand: 1. Januar 2021, Rz. B26; vgl. zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen BGE 133 V 587 E. 6.1). Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG setzt im Sinne einer doppelten Kausalität voraus, dass die Nichteröffnung des Konkurses einzig durch das Fehlen der Bereitschaft der Gläubiger bedingt ist, die Kosten für das Konkursverfahren vorzuschiessen; der Grund für diese mangelnde Bereitschaft wiederum liegt in der offensichtlichen Überschuldung des Arbeitgebers (BGE 131 V 196 E. 4.1.1 mit Hinweisen). Zu prüfen ist, ob zwischen der offensichtlichen Überschuldung des Arbeitgebers und der Nichtleistung des Kostenvorschusses ein direkter Zusammenhang anzunehmen ist (BGE 134 V 88 E. 6.2). Die Überschuldung ist offensichtlich, wenn sie von jedem Gläubiger ohne weitere Schwierigkeiten erkennbar ist. Liegt der Grund der Nichtbezahlung des Kostenvorschusses jedoch in der mangelnden Feststellbarkeit der Überschuldung, in Zahlungsschwierigkeiten der Gläubiger oder in der Befürchtung von Schwierigkeiten, ist die Voraussetzung von Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG nicht gegeben (Thomas Gächter, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 3. Aufl. 2021, N 20 zu Art. 51 AVIG mit Hinweisen).
2.2.3 Publikationen unter den SHAB-Rubriken «Handelsregister» oder «vorläufige Konkursanzeige» lösen den Beginn des Fristenlaufes nicht aus, da sie gesetzlich nicht vorgeschrieben sind. Erst die öffentliche Bekanntmachung im Sinne von Art. 232 respektive Art. 233 SchKG (Rubrik Konkurspublikation/Schuldenruf) ist entscheidend für den Beginn des Fristenlaufes (ARV 1989 S. 67; AVIG-Praxis IE, Rz. B26).
Im Falle eines Konkursverfahrens, das mangels Aktiven eingestellt werden musste, ist für die Verwirkungsfrist von 60 Tagen die Publikation der Einstellung des Konkurses im SHAB nur dann massgebend (Art. 230 Abs. 2 SchKG), sofern nicht bereits eine Veröffentlichung der Konkurseröffnung im SHAB stattgefunden hat (ARV 1989 S. 66; BGE 114 V 354; AVIG-Praxis IE, Rz. B26).
3.
3.1 Die Beschwerdegegnerin begründete den angefochtenen Entscheid damit, dass für den Beginn der 60-tägigen Verwirkungsfrist für den Anspruch auf Insolvenzentschädigung auf den Zeitpunkt des Rückzugs des Konkursbegehrens durch den Beschwerdeführer am 13. April 2021 abgestellt werden müsse. Der vom Beschwerdeführer am 23. Januar 2023 (Eingangsdatum) eingereichte Antrag auf Insolvenzentschädigung sei damit verspätet. Die verspätete Eingabe sei sodann nicht aufgrund einer falschen oder fehlenden Auskunft seitens der Beschwerdegegnerin erfolgt, für welche diese einzustehen hätte.
3.2 Der Beschwerdeführer machte demgegenüber geltend, dass er den Antrag auf Insolvenzentschädigung fristgerecht eingereicht habe. Aufgrund der Revisionsberichte der B. der Jahre 2015 und 2016, die ihm vorgelegen hätten, hätten keine Indizien für eine offensichtliche Überschuldung der Firma bestanden. Wie er bereits beim Einreichen seines Antrags auf Insolvenzentschädigung am 23. Januar 2023 ausgeführt habe, sei er aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen, die Gesuche um Konkurseröffnung am 13. April 2021 zurückzuziehen. Der vorliegende Sachverhalt sei demnach nach Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG zu beurteilen. Sollte wider Erwarten davon ausgegangen werden, dass die 60-tägige Frist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung bereits bei Rückzug der Konkursbegehren am 13. April 2021 zu laufen begonnen habe, sei festzustellen, dass die Beschwerdegegnerin ihrer Beratungs- und Informationspflicht nicht nachgekommen sei.
4.
4.1 Streitig und zu prüfen ist zunächst, wann die 60-tägige Frist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung vorliegend zu laufen begann.
4.2 Was den Insolvenztatbestand von Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich – wie der Beschwerdeführer zutreffend bemerkte – aus den Jahresberichten der B. von 2015 und 2016 keine Hinweise für eine offensichtliche Überschuldung der Firma ergaben. Ebenfalls keine entsprechenden Anhaltspunkte für eine offensichtliche Überschuldung waren in den Entscheiden des Kantonsgerichts Zug vom 23. März und 10. November 2020 enthalten. In den Eingaben vom 13. April 2021, mit welchen der Beschwerdeführer die Konkursbegehren gegen die B. zurückzog, wies er darauf hin, dass die Arbeitgeberin die Sozialversicherungsbeiträge der Monate September 2015 bis und mit April 2016 nicht bezahlt habe. Zudem ignoriere sie den rechtskräftigen Vollstreckungsentscheid des Kantonsgerichts Zug vom 26. März 2021 sowie entsprechende Sanktionen betreffend Ausstellung des Arbeitszeugnisses, Lohnabrechnungen und Lohnausweise. Weshalb der Beschwerdeführer die Konkursbegehren zurückzog, geht aus den Eingaben vom 13. April 2021 somit nicht hervor. In der Folge erklärte der Beschwerdeführer im E-Mail an die Beschwerdegegnerin vom 9. November 2021 betreffend Insolvenzentschädigung, dass es ihm – wie er bereits anlässlich des letztmaligen Treffens Ende März 2021 mitgeteilt habe – nicht gelungen sei, die ausstehenden Löhne von der B. zu erhalten. Aufgrund seiner finanziellen Situation (immer noch ohne Arbeit) sei er gezwungen gewesen, das Konkursbegehren gegen die Gesellschaft Ende April 2021 zurückzuziehen. Die Gerichtskosten von Fr. 200.– habe er trotzdem bezahlen müssen. Seine Vermutung bezüglich der fehlenden Liquidität habe sich bestätigt. Denn inzwischen habe er eine Kopie des Befragungsprotokolls von G. durch die Genfer Polizei erhalten. Darin erkläre G., welche sich inzwischen als Verwaltungsrätin aus dem Handelsregister habe löschen lassen, dass die Gesellschaft bereits seit längerem über keine Bankguthaben mehr verfüge bzw. keine Geschäftstätigkeit mehr ausübe. Der Beschwerdeführer gehe somit davon aus, dass die Gesellschaft bald zwangsliquidiert werde. In diesem Zusammenhang wäre er dankbar, wenn die Beschwerdegegnerin ihm mitteilen könnte, ob er nach Bekanntwerden der Konkurseröffnung bei ihr einen Antrag auf Insolvenzentschädigung stellen dürfe und was er dabei alles berücksichtigen müsse. Diese Angaben des Beschwerdeführers im E-Mail vom 9. November 2021 legen den Schluss nahe, dass er die beiden Konkursbegehren am 13. April 2021 in erster Linie aufgrund seiner eigenen prekären finanziellen Situation zurückzog. Zum damaligen Zeitpunkt vermutete er, dass die Arbeitgeberin nicht liquid war. Von der offensichtlichen Überschuldung erfuhr er aber erst später, als er eine Kopie des Befragungsprotokolls von G. durch die Genfer Polizei erhielt. Vor diesem Hintergrund kann nicht als erstellt gelten, dass zwischen der offensichtlichen Überschuldung der Arbeitgeberin und der Nichtleistung des Kostenvorschusses bzw. dem Rückzug der Konkursbegehren – wie vom Bundesgericht gefordert (BGE 134 V 88 E. 6.2) – ein direkter Zusammenhang bestand. Der Tatbestand von Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG ist damit nicht erfüllt.
4.3 Im Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die B. mit Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zug vom E. gemäss Art. 731b OR – das heisst wegen Mängeln in der Organisation der Gesellschaft – aufgelöst und ihre Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs angeordnet wurde. Am H. wurde im SHAB unter der Rubrik «Handelsregistereintragungen» die entsprechende Mutationsmeldung publiziert. Mit Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Zug vom F. wurde das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt. Die Einstellung des Konkursverfahrens wurde am I. im SHAB publiziert. Für den Beginn der 60-tägigen Frist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung ist daher das Datum der Publikation der Einstellung des Konkurses am I. massgebend. Indem der Beschwerdeführer den Antrag auf Insolvenzentschädigung am 23. Januar 2023 (Eingangsdatum) bei der Beschwerdegegnerin einreichte, hat er die 60-tägige Frist gewahrt.
Unter diesen Umständen erübrigen sich Erörterungen zur Beratungs- und Aufklärungspflicht der Beschwerdegegnerin nach Art. 27 ATSG.
(…)
Urteil des Verwaltungsgerichts vom 17. Juni 2024, S 2023 66
Das Urteil ist rechtskräftig.
Vollständiges Urteil auf der Entscheiddatenbank https://verwaltungsgericht.zg.ch