Gerichtspraxis
Verwaltungspraxis
Grundlagen, Organisation, Gemeinden
Raumplanung, Bauwesen, Gewässer, Energie, Verkehr
Gesundheit, Arbeit, soziale Sicherheit
Verfahrensrecht
§ 9 Abs. 1 des Gesetzes über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge (BGS 826.25)
§ 16 und 19 SHG, § 5, 9 und 12 des Gesetzes über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge, § Art. 22 ATSG, Art. 62 ff. und 164 ff. OR
Regeste:
Voraussetzungen für die Abtretung von Mutterschaftsbeiträgen an die Einwohnergemeinde X., welche Sozialhilfe an die Mutter bevorschusst (Erw. 6.1 und 6.2). Der Begriff der Abtretung, wie er in Art. 22 ATSG verwendet wird, stimmt mit demjenigen der Zession nach Art. 164 ff. OR überein. Vorliegend erfolgte die Abtretung rechtswirksam. Sie bewirkte einen Gläubigerwechsel und die Arbeitslosenkasse als Schuldnerin hat die Mutterschaftsbeiträge zu Recht an die Einwohnergemeinde X als neue Gläubigerin bezahlt (Erw. 6.3). Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Anspruchsberechtigung der Mutter fehlte. Gestützt auf die Abtretungserklärung und den damit verbundenen Forderungsübergang durfte und musste die Arbeitslosenkasse die bezahlten Beiträge von der Einwohnergemeinde X als Gläubigerin zurückfordern. Die Einwohnergemeinde X wird zu prüfen haben, ob sie die gemäss Schlussabrechnung gemachte Auszahlung an die Familie gestützt auf das kantonale Sozialhilfegesetz oder aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 62 ff. OR) ganz oder teilweise zurückfordern kann (Erw. 6.4). Soweit im Antrag der Einwohnergemeinde X sinngemäss ein Erlassgesuch enthalten ist, ist festzuhalten, dass das Gemeinwesen, anders als eine Privatperson, keine besondere Härte i.S.v. Art. 25 Abs. 1 ATSG geltend machen kann (Erw. 7).
Aus dem Sachverhalt:
A. Das Ehepaar C heiratete am (…) und bezog ab 1. Januar 2023 Sozialhilfe der Einwohnergemeinde X. Gemäss Entscheid der Ausgleichskasse vom 28. Dezember 2022 entfiel der Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) zufolge Heirat.
B. Am 31. Januar 2023 brachte die Ehefrau den Sohn P zur Welt, was einen erneuten Sozialhilfeanspruch gegenüber der Einwohnergemeinde X zur Folge hatte.
C. Am 28. Februar 2023 reichte die Einwohnergemeinde X bei der Arbeitslosenkasse die Anmeldung zum Bezug von Mutterschaftsbeiträgen ein. Zur Begründung der Notsituation wurde angegeben, dass die EL zufolge Heirat eingestellt worden seien. Gleichentags sendete die Einwohnergemeinde X der Arbeitslosenkasse eine Abtretungserklärung. Darin trat die Ehefrau ihre finanziellen Ansprüche gegenüber Dritten an die Einwohnergemeinde X ab. Die Abtretung erfolgte per sofort und bis auf Widerruf.
D. Mit Schreiben vom 10. Juli 2023 widerrief die Einwohnergemeinde X die Abtretung gegenüber der Arbeitslosenkasse per sofort.
E. Mit Schreiben vom 8. August 2023 bestätigte die Arbeitslosenkasse gegenüber der Einwohnergemeinde X den Anspruch der Ehefrau auf Mutterschaftsbeiträge ab Geburt vom 31. Januar 2023 bis längstens 30. Januar 2024. In Ihrem Schreiben wies die Arbeitslosenkasse ausserdem darauf hin, dass sämtliche Veränderungen der Einkommensverhältnisse, der Wohnsituation sowie der Wohn-, Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft während der Bezugsdauer unverzüglich zu melden seien. Die Arbeitslosenkasse zahlte die Mutterschaftsbeiträge für die Monate Januar 2023 bis Juni 2023 gestützt auf die Abtretungserklärung vom 28. Februar 2023 und deren Widerruf vom 10. Juli 2023 im Umfang von Fr. 4035.50 gleichentags an die Einwohnergemeinde X aus. Der Beitrag für den Monat Juli 2023 im Umfang von Fr. 800.00 wurde der Ehefrau direkt ausbezahlt.
F. Per 30. Juni 2023 wurde der Sozialhilfebezug der Familie C mangels Notwendigkeit beendet. Der Sozialdienst der Einwohnergemeinde X erstellte eine Schlussabrechnung (…). Der Gesamtbetrag von Fr. 4569.15 wurde der Familie C von der Einwohnergemeinde X per 5. September 2023 ausbezahlt.
G. Mit Schreiben vom 10. Oktober 2023 wurde die Ehefrau von der Arbeitslosenkasse aufgefordert, Lohnabrechnungen einzureichen.
H. Die KESB leitete die Mitteilung der Ausgleichskasse Zug vom 4. Oktober 2023 betreffend Ergänzungsleistungen an den Ehemann an die Arbeitslosenkasse weiter.
I. Gestützt auf die Verfügung der Ausgleichskasse Zug vom 4. Oktober 2023 nahm die Arbeitslosenkasse in Berücksichtigung der darin erwähnten Ergänzungsleistungen eine Neuberechnung der monatlichen Mutterschaftsbeiträge vor.
J. Mit Verfügung vom 6. November 2023 stellte die Arbeitslosenkasse fest, dass von Januar 2023 bis Juli 2023 kein Anspruch auf Mutterschaftsbeiträge bestanden hatte, weshalb sie die Rückerstattung der zu viel ausgerichteten Mutterschaftsbeiträge im Umfang von Fr. 4035.50 durch die Einwohnergemeinde X verfügte.
K. Mit Eingabe vom 21. November 2023 erhob die Einwohnergemeinde X beim Regierungsrat des Kantons Zug Beschwerde und beantragte, die Verfügung der Arbeitslosenkasse vom 6. November 2023 sei teilweise aufzuheben und die Mutterschaftsbeiträge für die Monate März bis Juni 2023 (im Gesamtbetrag von Fr. 3200.00) seien nicht von der Einwohnergemeinde X zurückzufordern. Gegebenenfalls sei die Rückerstattungsforderung direkt an die Ehefrau zu richten, sofern sie nicht erlassen werden könne. Die Kosten- und Entschädigungsfolgen habe die Beschwerdegegnerin zu tragen. Die Beschwerde wurde der Volkswirtschaftsdirektion zur Antragstellung an den Regierungsrat überwiesen.
L. (…)
Aus den Erwägungen:
1. (…)
2. Gemäss § 1 des Gesetzes über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge vom 1. September 1988 (BGS 826.25) gewährt der Kanton Zug Frauen bei Mutterschaft während einer gewissen Zeit Beiträge, sofern sie einer solchen Hilfe bedürfen. Wer Mutterschaftsbeiträge beansprucht, hat ein Antragsformular wahrheitsgetreu auszufüllen, die notwendigen Auskünfte zu erteilen und der Volkswirtschaftsdirektion die verlangten Unterlagen bis spätestens sechs Monate nach der Geburt einzureichen (§ 9 Abs. 1 Gesetz über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge).
3. Vorliegend ist unstrittig, dass die Ehefrau aufgrund der ihrem Ehemann ausgerichteten EL keinen Anspruch auf Mutterschaftsbeiträge hatte. Strittig ist hingegen, ob die Arbeitslosenkasse die für die Monate März bis Juni 2023 ausgerichteten Mutterschaftsbeiträge gestützt auf die Abtretungserklärung vom 28. Februar 2023 von der Einwohnergemeinde X zurückfordern kann.
4.1 Die Einwohnergemeinde X macht hierzu geltend, dass sie keine Kenntnis bezüglich des erneuten EL-Anspruchs hatte. Sie verfüge nicht mehr über die als Mutterschaftsbeiträge überwiesenen Leistungen für die Monate März bis Juni 2023 (Fr. 3200.00), weil diese mit der Schlussabrechnung gemäss Fallabschluss vom 30. August 2023 an die Familie C überwiesen worden seien.
(…)
6. Zu prüfen ist zunächst, ob die Mutterschaftsbeiträge gestützt auf die Abtretungserklärung vom 28. Februar 2023 rechtsgültig an die Einwohnergemeinde X zediert werden konnten. Ist dies der Fall, stellt sich weiter die Frage, ob gestützt darauf auch die Rückforderung der Mutterschaftsbeiträge von der Einwohnergemeinde X verlangt werden kann.
6.1 Mutterschaftsbeiträge gehören in den Bereich Sozialversicherung. Weder das Gesetz über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge (BGS 826.25) noch das SHG regeln den Begriff der Mutterschaft. Das Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) definiert in Art. 5, was der allgemeine Begriff Mutterschaft umfasst, nämlich die Schwangerschaft, die Niederkunft und die darauffolgende Erholungszeit der Mutter. Mangels kantonaler Definition ist vorliegend somit das ATSG beizuziehen. Dass das Gesetz über die Ausrichtung kantonaler Mutterschaftsbeiträge (BGS; 826.25) gesetzessystematisch dem Bereich des Gesundheitswesens (Spitalwesen) und nicht dem Bereich der Sozialversicherung (Sozialwesen) zugeordnet ist, ändert daran nichts und führt auch nicht zur Nichtigkeit der Abtretungserklärung.
6.2 Die Abtretungserklärung vom 28. Februar 2023 der Einwohnergemeinde X stützt sich auf Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG. Gemäss dieser Bestimmung können Nachzahlungen von Leistungen des Sozialversicherers der öffentlichen Fürsorge abgetreten werden, soweit diese Vorschusszahlungen leistete. Es ist unbestritten, dass die Einwohnergemeinde X vom 1. Januar bis 30. Juni 2023 Sozialhilfe und damit Vorschusszahlungen leistete (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2015, N 55 zu Art. 22). Die Anspruchsberechtigung der Ehefrau auf Mutterschaftsbeiträge wurde in den Folgemonaten nach der Geburt des Sohnes P am 31. Januar 2023 geprüft. Am 8. August erfolgte dann die Auszahlung der Mutterschaftsbeiträge für die Monate Januar bis Juni 2023 an die Einwohnergemeinde X und für den Monat Juli direkt an die Mutter. Die Voraussetzungen für eine Abtretung sind somit erfüllt. Ferner sieht auch § 16 Abs. 2 SHG vor, dass die Hilfe suchende Person bestehende oder künftige vermögensrechtliche Ansprüche gegenüber Dritten bis zur Höhe der empfangenen Leistungen an die Gemeinde abtritt, sofern eine Abtretung zulässig ist, was vorliegend der Fall ist.
6.3 Der Begriff der Abtretung, wie er in Art. 22 ATSG verwendet wird, stimmt mit demjenigen der Zession nach Art. 164 ff. OR überein. Die zivilrechtlichen Abtretungsregeln mit Bezug auf künftige Forderungen gelten auch im Anwendungsbereich von Art. 22 Abs. 2 ATSG (so explizit BGE 135 V 2, E 6.1 f.). Da die abgetretenen Forderungen nach Schuldner, Höhe und Rechtsgrund individualisierbar sind, ist die Abtretung gültig erfolgt und hatte bis zu ihrem Widerruf Bestand. Die Abtretung der Mutterschaftsbeiträge bewirkte einen Gläubigerwechsel und die Arbeitslosenkasse als Schuldnerin hat die Mutterschaftsbeiträge zu Recht an die Einwohnergemeinde X als neue Gläubigerin bezahlt.
6.4 In Bezug auf die Rückforderung der zu Unrecht ausgerichteten Mutterschaftsbeiträge ist zu-nächst auf das Schreiben vom 10. Juli 2023 zu verweisen. Bis zum Widerruf der Abtretung war die Einwohnergemeinde X Gläubigerin der Mutterschaftsbeiträge. Im Schreiben wird ausdrücklich festgehalten, dass Leistungen für den Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis 30. Juni 2023 weiterhin mit dem Sozialdienst der Einwohnergemeinde X abgerechnet werden müssen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Anspruchsberechtigung der Mutter fehlte. Gestützt auf die Abtretungserklärung durfte die Arbeitslosenkasse die bezahlten Beiträge von der Einwohnergemeinde X als Gläubigerin zurückfordern. Aufgrund des Forderungsübergangs konnten die Mutterschaftsbeiträge für Januar bis Juni 2023 gar nicht von der Mutter als Drittperson zurückgefordert werden. Dass die Einwohnergemeinde X bereits die Schlussrechnung erstellt hat, ist im Verhältnis Gläubigerin – Schuldnerin nicht relevant. Die Einwohnergemeinde X wird zu prüfen haben, ob sie die gemäss Schlussabrechnung gemachte Zahlung an die Familie gestützt auf das SHG oder aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 62 ff. OR) ganz oder teilweise zurückfordern kann.
7. Die Einwohnergemeinde X beantragt mit Beschwerde vom 23. November 2023, dass die Mutterschaftsbeiträge für die Monate März bis Juni 2023 direkt von der Mutter zurückzufordern sind, falls diese nicht erlassen werden können. Insoweit in diesem Antrag sinngemäss ein Erlassgesuch enthalten ist, ist darauf hinzuweisen, dass das Gemeinwesen, anders als eine Privatperson, keine besondere Härte i.S.v. Art. 25 Abs. 1 ATSG geltend machen kann (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2015, N 38 zu Art. 25).
8. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Arbeitslosenkasse die Mutterschaftsbeiträge für die Monate Januar bis Juni 2023 zu Recht von der Einwohnergemeinde X zurückgefordert hat. Die Rückerstattungsverfügung vom 6. November 2023 ist nicht zu beanstanden. Die dagegen erhobene Beschwerde erweist sich als unbegründet, weshalb sie abzuweisen ist.
(…)
Der Regierungsrat beschliesst:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen
(…)
Regierungsratsbeschluss 2. Juli 2024, VD 2024-032