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20.01.2015

Nicht die Behinderung ist ausschlaggebend

20.01.2015
Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat für die Sonderpädagogik-Konkordatskantone ein standardisiertes Abklärungsverfahren erlassen. Eine erste Version (SAV 2011) ...
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Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat für die Sonderpädagogik-Konkordatskantone ein standardisiertes Abklärungsverfahren erlassen. Eine erste Version (SAV 2011) wurde überarbeitet und nun neu aufgelegt (SAV 2014). Im Kanton Zug — obwohl nicht Konkordatsmitglied — ist eine schlanke und griffige Umsetzung des Verfahrens gelungen, was das Interesse verschiedener Kantone geweckt hat. Das Verfahren verschiebt den Fokus weg von der Behinderung des Kindes, hin zum Fokus auf die Verhältnisse.

*Von Peter Müller

1. Januar 2008 zog sich die Invalidenversicherung (IV) aus Steuerung und Mitfinanzierung der Sonderschulung zurück. Die Sonderschulung ist seitdem vollumfänglich Sache der einzelnen Kantone. Mit dem Ziel, die Umsetzung der Massnahmen zu koordinieren, wurden schweizweit die Instrumente 'einheitliche Terminologie', 'Qualitätsstandards für Leistungsanbieter' und das 'standardisierte Abklärungsverfahren' (SAV) entwickelt. Diese Instrumente helfen den Kantonen, die Angebote vergleichbar aufzubauen und Sonderschulmassnahmen zuzusprechen. Der Schulpsychologische Dienst (SPD) stützt sich auf diese Instrumente. Insbesondere führt der SPD das Standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) durch. Was enthält das Verfahren? Wie läuft das bei uns konkret ab? Was ändert sich durch das SAV?

Der neue Ansatz des SAV
Fallbeispiel: Bei Marco, er besucht die erste Klasse, stellen die Lehrpersonen seit längerem fest, dass – trotz intensiver Logopädietherapie – die Massnahmen nicht ausreichen, die Ziele zu erreichen. Nebst der schweren Sprachbehinderung wurde Marco unlängst von einem Auto angefahren, was sein schulisches Fortkommen zusätzlich beeinträchtigt.
Im Hinblick auf den Übertritt in die nächste Klasse sind die Fachpersonen der Meinung, dass sog. 'verstärkte Massnahmen' (Sonderschulung) notwendig sind.
Die Lehrperson informiert die Eltern und füllt das Formular 'Anmeldung an den Schulpsychologischen Dienst' aus. Das Formular unter Beilage von Berichten, Gesprächsprotokollen geht via Schulleiterin an den Rektor der Gemeinde. Der Rektor prüft die Anmeldung, stellt Rückfragen bei den Lehrpersonen und beauftragt den SPD mit einer Abklärung.

Der SPD führt das standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) durch. Dieses orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10). Das Verfahren ist darauf ausgerichtet, Massnahmen zuzusprechen, damit auch behinderte Kinder in ihrem aktuellen Lebenskontext teilnehmen können. Eine grösstmögliche Partizipation in der Regelschule («Schule für alle»), auch wenn eine Behinderung/Invalidität vorliegt, wird angestrebt. Mit der Abklärung wird ermittelt, was notwendig ist, damit das behinderte Kind möglichst im aktuellen Umfeld die ihm angemessenen Entwicklungs- und Bildungsziele erreichen kann.

Dieser Ansatz ist neu: Wenn früher eine Behinderung im Sinne der IV festgestellt wurde, war damit 'automatisch' ein Anspruch auf Sonderschulmassnahmen verknüpft. Eine Behinderung allein sagt aber zu wenig über den konkreten Förderbedarf aus. Heute wird differenzierter, zielgerichteter und unter Einbezug des Systems hingeschaut: Welche Körperfunktionen, aber auch welche Umweltfaktoren wirken sich beeinträchtigend aus, welche wirken unterstützend? Welche Entwicklungs- und Bildungsziele sollen anvisiert werden? Genügen dafür die bisherigen Massnahmen oder sind verstärkte Massnahmen notwendig?

Die Basisabklärung
Zurück zu Marco. Die Basisabklärung enthält das Studium der bereits vorliegenden Schul- und Fachberichte, Vorgespräche mit den Eltern, den Lehrpersonen, einen Schulbesuch, eine Abklärung am Schulpsychologischen Dienst und im Fall von Marco den Beizug der Fachgutachterin Logopädie. Wir beschreiben den schulischen und den familiären Kontext, Marcos Aktivitäten und seine Teilhabe in der Gruppe. Die von der Logopädin aufgezeigte Sprachbehinderung wird, durch die externe Abklärung bei der Fachgutachterin, bestätigt. Der Autounfall führte bei Marco zu monatelangen Krankenhausaufenthalten. Die Folgen sind gravierend und führen zu weiteren Komplikationen, welche die Teilhabe im aktuellen Lebenskontext erschweren. Erst seit kurzem ist Marco wieder zurück in der Klasse.

Die Bedarfsabklärung
Bei der Bedarfsabklärung formulieren wir Ziele für Marcos persönliche und schulische Entwicklung, die für die Erreichung dafür notwendigen Unterstützungsmassnahmen und bestimmen gemeinsam den Hauptförderort. Nach dem Autounfall braucht Marco dringend Ruhe, Konstanz und die Nähe zu seinen Kameraden und zur Familie. Im Gespräch sind sich die Beteiligten einig, dass die Bildungsziele grundsätzlich am besten im Rahmen einer separativen Sonderschulung erreicht werden könnten. Dieser Absicht stehen aber die persönlichen Entwicklungsziele gegenüber. Marco können wir einen Wechsel des Lern- und Lebensortes nicht zumuten. Die notwendigen verstärkten Massnahmen (Sonderschulung) sollen deshalb integrativ vor Ort angeboten werden. Marco soll eine verstärkte Unterstützung durch die Schulische Heilpädagogin und die Logopädin am aktuellen Lernort erhalten. Für die Umsetzung brauchen wir die Fachpersonen der Sprachheilschule.

Die Massnahmen
Wenn alle Abklärungen und Gespräche erfolgt sind, stellen wir den Prozess mit den Ergebnissen der Basis- und der Bedarfsabklärung in einem vordefinierten SAV-Bericht zusammen. Die Massnahmen beantragen wir dem Amt für gemeindliche Schulen, bzw. dem Rektorat. Das Amt trifft einen Mitfinanzierungsentscheid. Gestützt auf diesen Entscheid weist der Rektor Marco der Sonderschule als integrierter Sonderschüler zu. Marco bleibt in der Klasse vor Ort. Die Fachpersonen der Sonderschule unterstützen Marco und seine Bezugspersonen intensiv an seinem Lernort in der Gemeinde. Seitens SPD unterstützen wir die Eltern im Rahmen einer Beratung. Die Massnahmen werden für zwei Jahre bewilligt und müssen dann wieder überprüft und allenfalls neu beantragt werden.

Was ändert sich durch das SAV?
Das Verfahren verschiebt den Fokus weg von der Behinderung des Kindes, hin zum Fokus auf die Verhältnisse. Nicht die Behinderung ist primär ausschlaggebend für Massnahmen, sondern der Bedarf des Kindes an Unterstützung und Begleitung, damit es, trotz seiner behinderungsbedingten Bedürfnisse, vor Ort in der Schule teilhaben kann. Mit diesem Ansatz können Massnahmen nicht nur auf das Kind ausgerichtet sein, sondern auch direkt darauf abzielen, die schulischen und familiären Verhältnisse zu verbessern.

* Dr. Peter Müller ist Leiter Schulpsychologischer Dienst des Kantons Zug, peter.mueller@zg.ch. Über das SAV wurde bereits in der Schulinfo 3 2011/12 berichtet. Der damalige Artikel wurde nochmals einer Prüfung unterzogen, kleinere Änderungen fanden Eingang in diesen Beitrag.

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