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Art. 38 ff. LugÜ; Art. 319-327 ZPO

Art. 38 ff. LugÜ, Art. 327a Abs. 1 ZPO

Regeste:

Art. 38 ff. LugÜ, Art. 327a Abs. 1 ZPO – Wird die  Vollstreckbarerklärung eines Urteils, das in einem Vertragsstaat des Lugano-Übereinkommens ergangen ist, vorfrageweise im Rechtsöffnungsverfahren verlangt, kommen im Rechtsmittelverfahren die Regeln des Beschwerdeverfahrens nach Art. 319–327 ZPO zur Anwendung. Trotz Novenverbots gemäss Art. 326 ZPO kann sich der Schuldner im Beschwerdeverfahren gegen einen definitiven Rechtsöffnungsentscheid, mit dem vorfrageweise ein Entscheid eines Vertragsstaates des Lugano-Übereinkommens für vollstreckbar erklärt wurde, darauf berufen, dass dieser Entscheid in der Zwischenzeit aufgehoben wurde.

Aus den Erwägungen:

2.1 Der Gläubiger hat die Wahl, ob er ein Urteil, das in einem Vertragsstaat des Lugano-Übereinkommen ergangen ist, in einem separaten Exequaturverfahren nach Art. 38 ff. LugÜ oder im Rahmens eines Rechtsöffnungsverfahrens vollstreckbar erklären lassen will. Wird die Vollstreckbarerklärung vorfrageweise im Rechtsöffnungsverfahren verlangt, so ergeben sich Probleme aufgrund der fehlenden Kongruenz zwischen dem kontradiktorischen Rechtsöffnungsverfahren und dem einseitigen Exequaturverfahren nach Art. 38 ff. LugÜ. Im Falle der vorfrageweise Vollstreckbarerklärung sind die Bestimmungen des LugÜ betreffend Vollstreckung nicht anwendbar. Das Verfahren richtet sich abschliessend nach Art. 84 SchKG. Bei der vorfrageweisen Überprüfung im Rechtsöffnungsverfahren kann der Schuldner seine Einwendungen gegen die Vollstreckbarerklärung bereits vorbringen, wobei er gegen den vorfrageweisen Exequaturentscheid nur Beschwerde nach Art. 319–327 ZPO erheben kann. Das Rechtsbehelfsverfahren gemäss Art. 43 ff. LugÜ ist ausgeschlossen, weshalb die Beschwerde gemäss Art. 327a ZPO nicht zur Verfügung steht (Daniel Staehelin, in: Staehelin/Bauer/Staehelin [Hrsg.], Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs I, 2. A., Basel 2010, N 68a zu Art. 80, mit zahlreichen Hinweisen).

2.2 Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid des Vollstreckungsgerichts nach Art. 38 ff. LugÜ, so prüft die Rechtsmittelinstanz gemäss Art. 327a Abs. 1 ZPO die im Lugano-Übereinkommen vorgesehenen Verweigerungsgründe mit voller Kognition. Wird das Urteil, dessen Vollstreckung beantragt wird, während des hängigen Rechtsbehelfsverfahrens aufgehoben, so kann dies der Schuldner demgemäss als Novum im Rechtsbehelfsverfahren geltend machen. Das Exequatur ist in diesem Fall zu verweigern (Hofmann/Kunz in: Oetiker/Weibel [Hrsg.], Basler Kommentar, Lugano Übereinkommen, Basel 2011, N 139 zu Art. 38).

2.3.1 Wird die vorfrageweise Vollstreckbarkeit eines Entscheids, der in einem Vertragsstaat des Lugano-Übereinkommens ergangen ist, im Rechtsöffnungsverfahren geprüft, kommen – wie erwähnt – die Regeln des Beschwerdeverfahrens nach Art.  319–327 ZPO zur Anwendung. Gemäss Art. 326 ZPO sind damit neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen und neue Beweismittel, vorbehältlich besonderer Bestimmungen des Gesetzes, ausgeschlossen. Im Beschwerdeverfahren steht damit das Novenverbot der Berufung auf einen Rechtsmittelentscheid entgegen, der das im erstinstanzlichen Rechtsöffnungsverfahren vorfrageweise für vollstreckbar erklärte Urteil zwischenzeitlich aufgehoben hat. Wird in einem solchen Fall die Beschwerde endgültig abgewiesen, hätte dies zur Folge, dass gemäss dem massgebenden Rechtsöffnungsentscheid definitive Rechtsöffnung für eine Forderung erteilt wird, die auf einem inzwischen aufgehobenen Urteil beruht. Dies wäre rechtstaatlich unhaltbar und absolut stossend, zumal der Schuldner in diesem Fall gezwungen wäre, eine Klage nach Art. 85a SchKG zu erheben, um die ungerechtfertigte Fortsetzung der Betreibung zu stoppen.

2.3.2 Es besteht Grund zur Annahme, dass der Gesetzgeber, hätte er diese Konstellation erkannt, eine gesetzliche Ausnahme zum Novenverbot geschaffen hätte. Dies war aber offenbar nicht der Fall, zumal die Ratifikation des revidierten Lugano-Übereinkommens erst nach der Verabschiedung der Schweizerischen Zivilprozessordnung beschlossen wurde und sich der Gesetzgeber in der Folge mit der Schaffung von Art. 327a ZPO auf die Regelung des Rechtsbehelfsverfahrens nach Art. 43 ff. LugÜ beschränkte (vgl. Freiburghaus/Afheldt, in: Sutter-Somm / Hasenböhler / Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2.A., Zürich/Basel/Genf 2013, N 2 zu Art. 327a). Unter diesen Umständen ist nicht von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers auszugehen, sondern von einer echten Lücke, die nach Art. 1 ZGB zu füllen ist. In diesem Sinne kann sich der Schuldner im Beschwerdeverfahren gegen einen definitiven Rechtsöffnungsentscheid, mit dem vorfrageweise ein Entscheid eines Vertragsstaates des Lugano-Übereinkommens für vollstreckbar erklärt wurde, darauf berufen, dass dieser Entscheid in der Zwischenzeit aufgehoben wurde. Dieses echte Novum muss zulässig sein.

Obergericht, II. Beschwerdeabteilung, 10. Februar 2015

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