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Art. 3 KVG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 lit. b KVV
Art. 25-31 KVG i.V.m. Art. 32-34 KVG, Art. 17-19 KLV

Art. 37 Abs. 4 ATSG

Regeste:

Art. 37 Abs. 4 ATSG – Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands, wenn die Partei bedürftig ist, die Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen und die Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten ist, was bei einem drohenden, besonders starken Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen zu bejahen ist (Erw. 3.1 f.). In casu geht es um die Klärung, ob überhaupt ein Leistungsanspruch besteht und nicht um eine angedrohte Aufhebung einer Leistung, weshalb kein drohender besonders starker Eingriff vorliegt (Erw. 4). Zur Prüfung der Erforderlichkeit ist auf die Schwierigkeit des Falles und die Verfahrensphase abzustellen (Erw. 5.1). Bei einer Rückweisung an die IV-Stelle und bei unterlassenem Einbezug der Beschwerdeführerin zur Stellung von Zusatzfragen an den Gutachter ist die Komplexität erhöht und ausreichend für die Notwendigkeit einer Verbeiständung, weshalb in casu die Voraussetzungen für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand erfüllt sind (Erw. 5.2.2 f.).

Aus dem Sachverhalt:

Die 1984 geborene Versicherte A. meldete sich am 13. Juli 2007 unter Angabe von seit 2002 bestehenden psychischen Problemen bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an. Die IV-Stelle Zug gewährte ihr daraufhin Berufsberatung und Abklärung der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten und übernahm Umschulungskosten sowie die Kosten für verschiedene Kurse. Nachdem die IV-Stelle Zug der Versicherten mit Vorbescheid vom 4. September 2014 eine Viertelsrente zugesprochen und die Versicherte dagegen Einwand erhoben hatte, entschied die IV-Stelle Zug am 23. August 2016 gestützt auf ein Gutachten von Dr. B., die Versicherte habe keinen Anspruch auf eine Invalidenrente. Die gegen den Entscheid der IV-Stelle Zug vom 23. August 2016 von Rechtsanwalt C. eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Urteil S 2016 112 vom 27. April 2017 insoweit gut, als es die Verfügung vom 23. August 2016 aufhob und die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und zum abschliessenden Neuentscheid an die IV-Stelle Zug zurückwies. Die IV-Stelle Zug wurde aufgefordert, sich intensiver mit dem gescheiterten Arbeitsversuch bzw. mit der gescheiterten Anstellung der Versicherten bei der Z. AG vom 11. Juni 2013 bis 31. Oktober 2014 auseinanderzusetzen, um die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Versicherten besser beurteilen zu können. Zu diesem Zweck sollten entsprechende Rückfragen erfolgen.

Rechtsanwalt C. stellte am 1. Juni 2017 bei der IV-Stelle Zug für die Versicherte das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Zur Begründung wurde vorgebracht, dass die versicherte Person Zusatzfragen stellen könne und danach zum Ergänzungsgutachten Stellung genommen werden müsse, weshalb offenkundig kein einfacher Fall mehr vorliege. Mit Zwischenverfügung vom 9. Juni 2017 wies die IV-Stelle Zug das Gesuch ab und begründete dies damit, der Rahmen der Abklärung, welche durch die Rückweisung durch das Verwaltungsgericht zu erfolgen habe, sei begrenzt und eng gesteckt. Die IV-Stelle sei verpflichtet, beim Gutachter Rückfragen zum Einfluss der Erfahrungen aus dem Arbeitsversuch und der Anstellung der Versicherten bei der Z. AG zu stellen. Ein umfassendes Ergänzungsgutachten sei nicht notwendig. Es fehle somit an der erforderlichen Komplexität der Sache. Es seien weder anspruchsvolle Verfahrensvorschriften anzuwenden noch sei der zu klärende Sachverhalt unübersichtlich. Bei diesen Verhältnissen sei eine anwaltliche Verbeiständung nicht erforderlich.

Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 16. Juni 2017 liess A., vertreten durch Rechtsanwalt C., die Anträge deponieren, die Zwischenverfügung vom 9. Juni 2017 sei aufzuheben und der Beschwerdeführerin sei für das Verwaltungsverfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand in der Person des Unterzeichneten zu bewilligen.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.1 Gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG wird der gesuchstellenden Person im Sozialversicherungsverfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wo die Verhältnisse es erfordern. Unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren wird gewährt, wenn die Partei bedürftig ist, die Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen und die Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten ist (vgl. Art. 29 Abs. 3 der Bundesverfassung, BV).

3.2 Beim Erfordernis der Notwendigkeit einer Rechtsvertretung im Verwaltungsverfahren wird ein strenger Massstab angelegt. Wo eine an den Untersuchungsgrundsatz gebundene Behörde wie die Sozialversicherungsorgane im Verwaltungsverfahren über das Leistungsgesuch einer versicherten Person zu befinden hat, erscheint die Mitwirkung eines Rechtsanwaltes regelmässig als nicht erforderlich. Ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung entfällt insbesondere, wenn die geltend gemachten Leistungsansprüche durch das normale Abklärungsverfahren ausgewiesen werden beziehungsweise die Verwaltung dem Leistungsgesuch entspricht. Sodann drängt sich eine anwaltliche Verbeiständung nur in Ausnahmefällen auf, wenn schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 132 V 200 Erw. 4.1, 125 V 32 Erw. 2, 114 V 228 Erw. 5b). Entscheidend ist auch die sachliche Gebotenheit der unentgeltlichen Rechtsvertretung im konkreten Fall. Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist. Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 32 Erw. 4b mit Hinweisen)

4. Vorab gilt es somit zu prüfen, ob im laufenden Verwaltungsverfahren ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin droht, welcher eine anwaltliche Rechtsverbeiständung rechtfertigen würde (BGE 125 V 32, Erw. 4b, der auch in invalidensicherungsrechtlichen Entscheiden beigezogen wird, namentlich im Urteil des BGer vom 6. Januar 2016 8C_246/2015, Erw. 2.1). Vorliegend geht es nicht um eine angedrohte Aufhebung einer zuvor erteilten Leistung, sondern darum, zu klären, ob überhaupt ein Leistungsanspruch besteht. Bei dieser Sachlage kann nicht von einem drohenden besonders starken Eingriff in die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin gesprochen werden. Allein aus diesem Grund ist daher eine anwaltliche Rechtsverbeiständung nicht angezeigt.

5. Im Folgenden ist zu prüfen, ob es sich um einen komplexen Fall handelt, bei dem besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die Beschwerdeführerin, auf sich alleine gestellt, nicht gewachsen ist.

5.1 Bei der Prüfung der Erforderlichkeit ist auf die Schwierigkeit des Falles und auf die Verfahrensphase abzustellen (BBl 1999 4595, BGE 132 V 200, Erw. 4.1, SVR 2000 IV Nr. 18, Erw. 2a). Das Bundesgericht bejahte beispielsweise die Komplexität – und damit die Erforderlichkeit – in einem Verfahren, bei welchem im Rahmen der Rückweisung an die IV-Stelle die zufallsbasierte Zuweisung zu einer Gutachterstelle nicht zur Anwendung gelangte. Als Begründung führte das Bundesgericht im Wesentlichen aus, die Partizipationsrechte der versicherten Person liessen im Rahmen einer gerichtlich erstrittenen Rückweisung zwecks Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens zur erneuten medizinischen Begutachtung besondere Umstände erkennen, welche die Sache als nicht (mehr) einfach und somit eine anwaltliche Vertretung als notwendig erscheinen liessen. Die Beachtung der Verfahrensgarantien sei in dieser Konstellation bei mono- und bidisziplinären Expertisen umso wichtiger und die prozessuale Chancengleichheit bei der Auswahl der Fachdisziplinen und der Gutachterfragen besonders bedeutsam (Urteil des BGer vom 18. November 2014 8C_557/2014, Erw. 5.2.1. m.w.H. insbesondere auf das Urteil des BGer vom 16. Dezember 2013 9C_692/2013, Erw. 4.2). Weiter bejahte das Bundesgericht eine erhöhte Komplexität bei einem komplexen psychischen Beschwerdebild, bei dem es um die Bestreitung des Umfangs des Rentenanspruchs unter Anwendung der nicht leicht zu verstehenden gemischten Methode ging (SVR 2009 IV Nr. 48, Erw. 4.4.2), oder in einem langwierigen Verfahren, in dem zuerst über einen Rentenanspruch entschieden wurde, aber anschliessend verschiedene medizinische Abklärungen gemacht werden mussten, da die vorherige Abklärung nicht genügend war und die Stellungnahme zu den vorgesehenen Fragen als komplex bezeichnet werden musste und sich das Verfahren nicht mehr in einer frühen Phase befand (SVR 2009 IV Nr. 5, Erw. 2.2).

5.2

5.2.1 Vorliegend stellt sich die Situation wie folgt dar: Im dem Verwaltungsgerichtsverfahren vorangegangenen Verwaltungsverfahren stellte die Beschwerdeführerin kein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Ein solches Gesuch wäre wohl auch nicht bewilligt worden, weil die Voraussetzungen mangels Komplexität zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht erfüllt waren. Erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zog die Beschwerdeführerin einen Anwalt bei, und ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung wurde gestützt auf Art. 61 lit. f ATSG i.V.m. § 27 VRG bewilligt. Ab diesem Zeitpunkt stand ihr Rechtsanwalt C. zur Seite. Mit seinem Urteil S 2016 112 vom 27. April 2017 entschied das Verwaltungsgericht, die notwendigen Rückfragen beim Gutachter nicht selber zu stellen, sondern die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und zum anschliessenden Neuentscheid an die IV-Stelle Zug zurückzuweisen. Somit stellt sich die Situation anders dar, als in einem erstmaligen Verwaltungsverfahren, bei welchem das Gericht noch nicht eingeschaltet ist. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung schliesst ein Rückweisungsentscheid das Verfahren nicht ab, sondern stellt einen Zwischenentscheid dar (BGE 137 V 314 Erw. 1). Mithin ist beim nun durch die IV-Stelle zu erfolgenden Verfahren von einem mit dem Verwaltungsgerichtsverfahren zusammenhängenden Verfahren zu sprechen, in welchem die Beschwerdeführerin ebenfalls bereits auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zählen konnte. In dieser Situation ist es daher angezeigt, bei der Anwendung von Art. 37 Abs. 4 ATSG einen weniger strengen Massstab anzulegen, als wenn es sich um ein Verfahren handelt, bei welchem das Verwaltungsgericht noch in keiner Weise einbezogen war.

5.2.2 Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist, dass das Bundesgericht bei Fällen, in welchen das kantonale Versicherungsgericht eine Rückweisung zu weiteren Abklärungen anordnete, die unentgeltliche Rechtsverbeiständung schon wiederholt bejahte, auch wenn einzuräumen ist, dass der Sachverhalt in dem von der Beschwerdeführerin angeführten Bundesgerichtsurteil 9C_692/2013 nicht vollständig mit demjenigen im vorliegenden Fall verglichen werden kann, da die im höchstrichterlichen Urteil dargestellte Situation erfahrungsgemäss zu einer grösseren Komplexität führt, als sie sich hier ergibt. Das Gleiche gilt für das ebenfalls von der Beschwerdeführerin ins Feld geführte Urteil S 2016 65 des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug. Durch die Rückweisung an die IV-Stelle hat sich aber auch im vorliegenden Fall die Komplexität fraglos erhöht. Jedenfalls ist sie inzwischen höher, als sie es noch im ersten Verwaltungsverfahren war.

5.2.3 Einen weiteren wesentlichen Punkt, um die unentgeltliche Rechtsverbeiständung im vorliegenden Fall zu bejahen, stellt für das Gericht die Tatsache dar, dass es die Beschwerdegegnerin unterlassen hat, die Beschwerdeführerin einzubeziehen, bevor sie dem Gutachter die Zusatzfragen stellte. Das wäre jedenfalls vor dem Hintergrund von BGE 136 V 113 (Urteil 8C_408/2009 vom 25. Mai 2010, Erw. 5.4) angezeigt gewesen. Danach hat der Versicherungsträger, welcher einer Gutachtensperson Erläuterungs- oder Ergänzungsfragen zu stellen gedenkt, auch in Verfahren, welche mittels durch Einsprache anfechtbare Verfügung abgeschlossen werden, die versicherte Person vorgängig darüber zu informieren und ihr Gelegenheit zu geben hat, auch ihrerseits solche Fragen zu stellen. Stattdessen stellte die Beschwerdegegnerin dem Rechtsvertreter kommentarlos eine Kopie des Schreibens an den Gutachter, in welchem die Ergänzungsfragen enthalten waren, zu. Es darf vermutet werden, dass die Beschwerdeführerin ohne anwaltliche Vertretung nicht davon ausgegangen wäre, dass es ihr erlaubt wäre, von sich aus dem Gutachter Ergänzungsfragen zu stellen, insbesondere weil die Beschwerdeführerin von der Beschwerdegegnerin nicht dazu aufgefordert wurde. Dieses Vorgehen bezeugt, dass eine Rechtsverbeiständung offenbar tatsächlich erforderlich ist, weil die Beschwerdeführerin sonst nicht zurechtkäme.

5.2.4 Ebenfalls zu beachten ist, dass das Bundesgericht schon zu Zeiten, zu denen eine unentgeltliche Vertretung nicht für das ganze Verwaltungsverfahren möglich war, diese jedenfalls spätestens dann zuliess, wenn im Verwaltungsverfahren Elemente eines streitigen Verfahrens auszumachen waren, wie das z.B. beim Vorbescheidverfahren der Fall ist. Vorliegend handelt es sich bereits seit Längerem um ein streitiges Verfahren, weshalb analog der erwähnten früheren Rechtsprechung die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung weniger streng zu handhaben ist als im nicht streitigen Vorverfahren.

5.2.5 Im Sinne einer Gesamtwürdigung kommt daher das Gericht zur Überzeugung, dass der vorliegende Fall einen Schwierigkeitsgrad erreicht hat, der eine anwaltliche Verbeiständung rechtfertigt. Nachdem der Beschwerdeführerin mit verwaltungsgerichtlicher Verfügung vom 5. Juli 2017 für das vorliegende Verfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt wurde, ist davon auszugehen, dass die finanzielle Bedürftigkeit auch heute noch gegeben ist. Die Prozessführung im Zusammenhang mit den geforderten IV-Leistungen erscheint zudem weiterhin nicht als zum vornherein als aussichtslos. Die Voraussetzungen für die Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands sind somit erfüllt.

Die Beschwerde erweist sich als begründet, weshalb sie gutzuheissen und der Entscheid der Vorinstanz vom 9. Juni 2017 aufzuheben ist.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24. August 2017, S 2017 83
Das Urteil ist rechtskräftig.

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