Eine Chance für die Teamarbeit
Es würde uns helfen, nicht mehr «alles» zu können.
Kolmune von Silvano Cerutti*
Der Sohn eines meiner besten Freunde hängt wie ein Junkie am Smartphone. Er scrollt hektisch durch die «sozialen» Medien, völlig verzweifelt ob all der scheinbar authentischen Perfektion, die er dort findet.
An «Social» Media in der derzeitigen Form finde ich wenig Positives. Umso überraschter war ich, als mir klar wurde, welche Chance für die psychische Gesundheit hingegen in der digitalen Transformation steckt.
R., einer meiner Lieblingslehrer, hat mich bei den Vorbereitungen zu meinem ersten spoken-word-Album im Studio begleitet. Sein Support war wichtig, weil er mit seinem Enthusiasmus eine Gruppe sehr unterschiedlicher Musikerinnen und Musikern überzeugte, an einem spannenden Projekt zu arbeiten.
Später versank R. in Depressionen, denen er schliesslich erlag. Ich hatte noch versucht, ihn zum Besuch eines Psychiaters zu motivieren. Aber er fürchtete das Stygma und war – für mich unerwartet – auch der Überzeugung, ein Mann müsse seine Probleme alleine lösen.
30 Jahre später ist das Stygma «psychische Erkrankung» nicht mehr so ausgeprägt. Der Glaube aber, «alles» allein können zu müssen, hält sich hartnäckig. Es ist eine Überforderung sondergleichen. Zusammen mit den vielen Unsicherheiten im modernen Zusammenleben trägt dies zu einem Grundstress bei, der psychisch krank machen kann.
Mit der digitalen Transformation übernehmen Computer noch mehr Routinearbeiten als heute schon. Für uns Menschen bleiben künftig noch komplexere Aufgaben übrig. Diese werden wir vermehrt in Teams bearbeiten müssen, weil sie für Einzelne zu anspruchsvoll sind, und in dieser Teamarbeit steckt aus meiner Sicht eine grosse Chance.
Ein Team setzt sich im Idealfall aus Menschen zusammen, die ihre unterschiedlichen Stärken vereinen. Niemand kann alles selber in einem Team. Wenn wir dieses Grundverständnis verinnerlichen, werden wir viel existentiellen Stress eliminieren – und verzweifelten Teenagern den Weg in eine Zukunft weisen, in der sie nicht «perfekt» sein müssen, um zu reüssieren.
*Wer den Autor live erleben will, kann dies am 18. November 2023 im Kasinosaal in Affoltern tun. Silvano Cerutti ist im Kanton Zug aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er lebt und arbeitet in Bern. Soeben erschienen: «Bruttofatalprodukt», Aphorismen, Edition Hazard. www.papersnackwriter.com.