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29.08.2019

Der Chef – Pater Werner Hegglin

29.08.2019
Pater Werner Hegglin
CS
Bild Legende:

Unter uns, in der Studier- oder Schlafkoje, nannten wir ihn alle nur: Chef. Und egal, ob wir uns Anekdoten von der Landschaftsbetrachtung erzählten, von einer Begegnung beim Querfeldeingehen mit einem Stier auf dem Gubel, oder ob wir mit erhitzten Köpfen über den Sinn der Lernberichte, das Auswendiglernen von Gedichten diskutierten – ging es um den Chef, war aus unseren Worten stets ein gewisser Respekt, eine untilgbare Achtung vor diesem Mann mit den schneeweissen Haaren und den wachen, zugleich heiter und ernst blickenden Augen herauszuhören.

Von Christoph Schwyzer*

Viele Lehrer, nicht nur im Kanton Zug, mögen sich lebhaft an ihn erinnern: der Chef, das ist Werner Hegglin. Von 1975 bis 1995 leitete er als Direktor das „Freie katholische Lehrerseminar St. Michael" in Zug. Auch heute noch, wenn ich ehemalige „Micheler" treffe und wir über die vergangenen Zeiten im Internat und im Schulalltag miteinander ins Gespräch kommen, spüre ich, wie sehr uns Werner Hegglin geprägt hat, wie dankbar wir ihm sind.

Geschubst werden oder selber gehen
Als ob es gestern gewesen wäre, erinnere mich an das Aufnahmegespräch zusammen mit meinen Eltern im Büro des Direktors Hegglin. Zuvor, auf Geheiss der Mutter, wurden extra noch anständige und flotte Kleider gekauft; ein schönes Hemd und endlich eine Hose ohne durchgescheuerte, fleckige Stellen; dazu noch schwarze Lederschuhe. Am besagten Tag aber war ich völlig verblüfft, als ich sehen musste, dass der Direktor einen Pullover mit fadenscheinigen Ellenbogen trug, Wollsocken und sandalenartige Finken. Dieses unscheinbare Äussere wurde umrahmt von einer riesigen Bücherwand. Buntfarbig, wild und doch, so schien es, einer Ordnung gehorchend, reihte sich hinter dem Rücken des Direktors Buch an Buch; Bücher quer in jeden noch so kleinen Schlitz geschoben, in jede Lücke, in jede Ritze gesteckt.
Man plauderte ein wenig; der Direktor stellte vor allem Fragen – und plötzlich begann er mit dem Zeigefinger dem roten Bleistift, der auf dem Beistelltischchen lag, einige Schubse zu geben und sagte: „Eines müssen Sie wissen: Wir sind keine Schule, die die Schüler ständig zu motivieren versucht; hier muss sich jeder selber, aus eigenem Antrieb bewegen." Obwohl ansonsten eher frech und unangepasst, hörte ich steif und eingeschüchtert zu und versuchte, mich möglichst korrekt und angepasst zu verhalten. Denn ich wollte, nachdem man mich aufgrund von zu vielen Mangelpunkten bereits sowohl aus der Kanti als auch aus der Handelsschule geworfen hatte, endlich durchstarten, eine gradlinige, erfolgreiche Schulkarriere hinlegen.

Wobei ich dann als Seminarist, aufgenommen unter der Bedingung, zehn Bücher zu lesen und zu jedem Buch ein Lektüreerlebnis zu schreiben, schon bald merkte, dass es an dieser Schule eben nicht um das Vermeiden oder Sammeln irgendwelcher Punkte ging: transparent und für jeden nachprüfbar auf eine Art „Cumulus-Karte" gebucht; Punkte, die einem das Weiterkommen garantieren würden. Es ging um ein freies, selbstständiges, dafür aber umso strengeres Leben und Lernen, um das Suchen und Erkunden eigener Wege – was oft, meistens sogar, hiess: Um- und Irrwege in Kauf zu nehmen. Es ging ums Menschsein. Denn: Menschsein ist schon ein Beruf (siehe Kasten zum gleichnamigen Buch von Werner Hegglin).

Den Kampf annehmen
Dieses Suchen und Ausprobieren führte auch zu Konflikten. Im heissblütigen Alter von sechzehn, siebzehn Jahren schoss man oft übers Ziel hinaus. Man musste lernen, dass es beides brauchte: Widerstand und Anpassung. An einer „freien" Schule zu sein, meinte nicht, dass wir tun und lassen konnten, was wir gerade wollten. (Die Mädchen von den Seminarien Heilig Kreuz, Cham und Bernarda, Menzingen beneideten uns zwar oft: Wir „Micheler" mussten unsere Übungslektionen nicht minutengenau durchstrukturieren. Ein paar wenige, aber vielsagende Sätze genügten.) „Frei" bedeutete vor allem: die Fähigkeit entwickeln, sich ohne Angst den täglichen Aufgaben und Pflichten zu stellen; Gegensätze und Durststrecken auszuhalten; selber zu merken, was los war; wie viel Widerstand, wie viel Anpassung die jeweilige Situation von einem forderte – und dadurch immer mutiger und stärker zu werden.

Genauso wie der lebensgross gemalte Erzengel Michael im Besinnungsraum, so scheute sich auch Werner Hegglin nicht, den Kampf anzunehmen – es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Konflikten auszuweichen oder sie bloss oberflächlich glattzubügeln. Wer sich allerdings an das Bild des Engels erinnert, der weiss: sein Schwert ist kaum sichtbar, irgendwie verwischt – er tritt dem Betrachter nicht als schwerbewaffneter Krieger entgegen, sondern als aufrechter Mensch.

Trotz meiner Vorsätze blieb ich ein aufmüpfiger Schüler, der oft mit anderen zusammenstiess. Und das war nicht mal so schlecht. Denn Reibung bedeutete Nähe, bot die Möglichkeit, zusammenzufinden, Bindungen und Beziehungen einzugehen.
Und Werner Hegglin war im Umgang mit „verhaltensoriginellen" Klienten ein wahrer Künstler; ein völlig furchtloser, vertrauender Erzieher. Weshalb jemand, der Vitalität besitzt, der Temperament zeigt, durch Einschüchterungen und Drohungen zum Erstarren bringen, auf Distanz halten?

Gubel by Andreas Busslinger
Bild Legende:

Fragen stellen und zuhören
Mein auffälliges, manchmal auch ausfälliges Verhalten führte also dazu, dass ich oft mit Werner Hegglin ins Gespräch kam; dass ich sogar, geleitet vom Gefühl, dieser Mensch könne mich in meiner Widersprüchlichkeit verstehen, seine Nähe zu suchen begann. Werner Hegglins Freude am Fragen stellen, am Zuhören war eine Einladung zum Erzählen. Und weil ich wusste, dass er ein Leser war, ein Mensch, für den Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke nicht Prüfungsstoff, sondern Lebensmittel waren, begann ich zuhause in Willisau meine Diebestouren zu erweitern: Ich klaute nicht mehr nur aus dem Keller des Elternhauses ab und an eine Flasche Wein oder Schnaps, um damit bei älteren Seminaristen zu punkten. Ich interessierte mich nun auf einmal auch für das Büro meines Vaters, zog aus den langen Regalen dieses und jenes Buch, nahm es mit ins Seminar. – Im Schummerlicht des Raucherraums auf der Dachterrasse, von Stunde zu Stunde mehr und mehr berauscht, las ich beispielsweise an einem Wochenende „Schuld und Sühne" von Dostojewski – um dann, einige Tage später, beim Schlüsselholen im Direktorenzimmer mit dem Chef, der sich als Chef dadurch auszeichnete, immer anwesend zu sein, wie zufällig über das Gelesene ins Gespräch zu kommen.

Ich kenne kaum einen Menschen, der so aufmerksam, so anregend zuhören kann wie Werner Hegglin; und der nicht sofort in Versuchung gerät, besserwisserisch einzugreifen, den anderen mit seinem Wissen zu übertrumpfen. Wie soll einer denken, erzählen lernen, wenn seine Gedanken sofort korrigiert werden?
Meine Ungezogenheit erwies sich also nicht als Unglück, sondern als Glück.

Zudem gehörte Werner Hegglin zu denjenigen Menschen, die nicht vergassen, was man ihnen erzählt hatte. Er erinnerte sich sehr genau daran, auch Jahre danach; und so wuchs die Zahl der Anknüpfungspunkte zwischen Chef und Seminarist stetig an.

Alles Denken und Tun um einen Punkt konzentrieren
Am Seminar war Lehrerbildung fest verbunden mit Persönlichkeits- und Menschenbildung. Und dazu brauchte es eben nicht nur einen Stundenplan, Fächer und Stoff und Prüfungen. Es brauchte auch das Zusammenleben im Internat, in der Studierkoje, im Schlafzimmer, im Speisesaal. Es brauchte, um selbständiges Handeln und das Übernehmen von Verantwortung zu lernen, das Leben neben dem Schulzimmer. Zeltlager, Langlauflager, Skilager, Skitourenlager. Wallfahrten und Schülerversammlungen. Das Fussballspielen im Schöpfli, die von Seminaristen selber organisierten Feste und Konzerte. Auch die unvermeidbaren Auseinandersetzungen, Pannen und zeitweilen chaotischen Zustände zeichneten das „Freie katholische Lehrerseminar" aus.

Abschliessend lässt sich sagen: Sowohl die Schüler als auch die Lehrerinnen und Lehrer am Seminar St. Michael waren nicht besser als an anderen Schulen. Aber der Chef sorgte täglich dafür, dass alle das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verloren, vertrauend und wagemutig blieben. Er war der Magnet, der uns zu binden, zu halten vermochte. Er war derjenige, der all seine Gedanken und all sein Handeln um jene kleinen, aber weitreichenden Wörter kreisen liess: „frei" und „katholisch".

„Menschsein ist schon ein Beruf" – Gesammelte Briefe von Werner Hegglin
Werner Hegglin ist nicht nur vielen Menschen in der Zentralschweiz in eindrücklicher Erinnerung, sondern auch weit darüber hinaus: Von 1975 bis 1995 war er Direktor des katholischen Lehrerseminars St. Michael in Zug. Danach, bis im Sommer 2013, leitete er zusammen mit Sr. Hildegard Willi das Bildungshaus Stella Matutina, Hertenstein.
Während seiner Zeit in Hertenstein, 2006, begann er, wöchentlich einen sogenannten „Sonntagsbrief" für die „Wochen-Zeitung" aus Vitznau zu schreiben. Obwohl Werner Hegglin inzwischen auf dem Berg Sion in Horw lebt, bleibt er seiner Arbeit treu: Nach wie vor schreibt er Woche für Woche einen Brief, der jeweils auf der Homepage der Schönstatt-Patres erscheint; nun allerdings als „Samstagsbrief" (www.schoenstatt.ch).

Rund vierhundert dieser Briefe hat Christoph Schwyzer gesammelt, gesichtet und mit einem Vorwort versehen als Buch herausgegeben. Jeder Brief versucht nichts mehr und nichts weniger, als die grossen Fragen zu entfalten, vor denen sich kein Mensch dauerhaft verschliessen kann: Wie findet der ans Zeitliche gebundene Mensch zum Ewigen? Wie wird unser Leben durchscheinend – von Gott her und auf Gott hin? Wie entgehen wir der Gefahr, in einem von Waren- und Medienkonsum, von ausgeklügelter Technik in Schwung gehaltenen Alltag, zu einfallslosen, mutlosen Massenmenschen zu werden? Kurz und bündig: Es geht um Bildung, um Menschenbildung.

Welthaltig sind Werner Hegglins Briefe, vielfältig, nichts ausser acht lassend, katholisch im eigentlichen Sinne des Wortes: die Zaubernuss, Hamamelis, die mitten im Winter blüht; der See, sein Wellenglanz, die knapp übers Wasser sirrenden Schwalben; das Kirchenjahr mit Fasten- und Festzeiten; die Stadt am Horizont, Häuser und Strassen – und dazwischen, mittendrin, die Menschen: verstorbene und lebende, grosse Heilige und solche, die unerkannt ein heiligmässiges Leben führen; Menschen, die uns etwas zu sagen haben.

Werner Hegglin, «Menschsein ist schon ein Beruf», erweiterte Neuauflage November 2020, 640 Seiten, gebunden, farbiger Innenteil, CHF 45.- (plus Porto und Verpackung). Das Buch ist nicht über den Buchhandel, sondern direkt über den Herausgeber, Christoph Schwy­zer, zu beziehen: chris.schwyzer@bluemail.ch.

 

Zum Herausgeber
*Christoph Schwyzer, 1974 in Luzern geboren und in Willisau aufgewachsen, lebt mit seiner Familie in Luzern. Ausbildung zum Primarlehrer am Lehrerseminar St. Michael, Zug; Unterricht auf der Mittelstufe. Diplomstudiengang Journalismus am Medienausbildungszentrum in Luzern; abgebrochenes Studium „Kreatives Schreiben", Hildesheim D. Redaktor bei diversen Zeitungen und Zeitschriften. Heute arbeitet er als Herausgeber, Autor und Rezitator.

Veröffentlichungen (Auswahl): „Der Staubwedel muss mit", Limmat Verlag, Zürich 2019; „Chasch dänkä! – Lina Fedier: Über Schneestürme, Schmetterlingskinder und Gottvertrauen", Limmat Verlag, Zürich 2014; „Jakob und der Wolldeckenvogel", Verlag Martin Wallimann, Alpnach 2013; „Valendas – Die Welt im Dorf", Limmat Verlag, Zürich 2011.

 

 

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