Eine bittersüsse Zeitrechnung

Der Schulanfang nach den grossen Ferien ist jedes Jahr wieder eine stille Initiation und der Übertritt in ein neues Selbstverständnis.
Von Silvano Cerutti*
In den letzten Tagen vor Schulbeginn im August steigt jeweils die Nervosität. Waren die Ferienerlebnisse cool genug, um auf dem Pausenplatz zu bestehen? Nicht nur Prüfungen müssen an der Schule bestanden werden, sondern fast mehr noch der Alltag. Haben die anderen sich verändert? Habe ich mich verändert? Wird es dumme Sprüche wegen meines neuen Lieblings-T-Shirts geben?
Gleichzeitig flirrt Vorfreude mit. Endlich wieder geregelte Verhältnisse statt gestresster Eltern. Die maulen doch nur herum, sie hätten eben nicht so viele Ferien. Endlich wieder ausreichend Zugang zu Gleichaltrigen, also zu normalen Menschen.
Vor allem aber ist der Start des neuen Schuljahres der wichtigste Tag im Selbstverständnis. Klar, am Geburtstag gibt’s eine Kerze mehr, Geschenke, Party, Trallala. Aber der Übertritt in ein neues Schuljahr ist der Tag, an dem ein neuer Abschnitt beginnt, denn nichts strukturiert das Denken so sehr, wie die Zahl des Schuljahres.
Viertklässlerinnen und -klässler können mehr als jene in der Ersten, Zweiten, Dritten, und es ist immer ein bittersüsses Mehr. Die Freiheiten, die es mit sich bringt, wurden ersehnt, gleichzeitig besteht leise Angst vor den neuen Pflichten. Vom Dreimeter springen? Ist doch «bubi» in der Vierten!
Dass das totaler Quatsch ist, und der Sprung vom Dreimeter für manche auch Ü50 noch nicht bubi sein wird, diese Einsicht kommt erst später – in einer Zeitrechnung, in der die runden Geburtstage den sommerlichen Schulbeginn längst abgelöst haben.