Navigieren auf Schulinfo Zug

Inhaltsnavigation auf dieser Seite

Navigation
  • Balance
  • Was Geschichten aus der Kindheit sagen
26.03.2025

Was Geschichten aus der Kindheit sagen

26.03.2025
Wie Kindheitserinnerungen das Leben prägen und moralische Entscheidungen beeinflussen.
xy
Bild Legende:

Ein Junge steht vor einem Dilemma: Soll er dem Lehrer die Wahrheit sagen oder seinen Vater schützen? Andreas Iten erzählt, wie prägende Kindheitserinnerungen unser Leben und unsere Entscheidungen beeinflussen. Überlegungen vom Autor persönlich zu seinem neuen Buch «Lebensacker» und dann das Kapitel zum Lehrer.

Von Andreas Iten*

Die ersten Wahrnehmungen, die den Buben tief beeindruckten, blieben ein Leben lang haften. Sie waren nicht die routinierten, die er täglich erlebte, sondern sie waren einzelne reine, sozusagen unbefleckte mit herausragender bildhafter Wirkung. Sie wiederholten sich nicht, aber als Erinnerungen gaben sie Halt und dem Leben eine Richtung. Da sie nicht verschwommen blieben, beeinflussten sie den Lebenslauf. Sie waren bei Entscheidungen nicht stumm, sondern behielten ihr wirkende Kraft. Sie sind es, die dem Leben eine Ordnung geben und beitragen zur Wahl des Berufs und der Interessen, die im Leben bestimmend werden. Sie geben Antwort auf wichtige Fragen. Sie sind der Spiegel, in dem der Mensch sich wiederfindet, wenn er die Frage stellt, wer er sei und warum er geworden wie er ist. Warum habe ich mich für den Beruf entschieden? Und später entschlossen gewählt, was zu mir passte? Erinnerungsgeschichten helfen jedem und jeder verstehen, warum sein Leben so verlaufen ist und nicht anders. Mich hat das Schreiben der Geschichten darauf geführt, dass es richtig ist, wenn von der Zeit als Dauer gesprochen ist. In den Geschichten bleibt die frühe Zeit bis ins Alter aufbewahrt, wenn auch anders als ursprünglich. Tief erlebte Wahrnehmungen verschwinden nicht aus dem Bewusstsein. Sie haben an dem, was einer geworden ist, mitgewirkt. Viele von ihnen sind präsent als Aphorismen, als dauernde Erkenntnis, als Lebenswissen und sie verändern die Erfahrung. Mir scheint, dass dies den Wert des Buches ausmacht.

Auszug aus dem Buch «Lebensacker», Kapitel «Der Lehrer»
Der Lehrer spazierte am Mittwochnachmittag über Land und kam auf dem Wiesenweg an der Stelle vorbei, wo Vater mit dem Karrer, seinen Söhnen und einigen freiwilligen Helfern Heu erntete. Sie standen alle im Schatten eines Baumes, tranken zum Zvieri sauren Apfelsaft, und die Kinder schlürften kalten Tee. Vater zeigte mit der Hand auf den Lehrer und alle drehten sich zu ihm: «Die haben es gut, die Lehrer: Während wir arbeiten, spazieren sie.» Und was er noch sagte, verdrängte der Bub – auch wenn er es noch wüsste, würde er es hier nicht preisgeben.

Als der Bub am anderen Tag nach dem Heuet in die Schule kam, hielt ihn der Lehrer in der Pause zurück.

«Was habt ihr gestern beim Heuen besprochen?»

«Ich weiss es nicht.»

«Ihr habt über mich gelacht.»

«Nein, das haben wir nicht.»

«Über mich geredet. Ich habe gesehen, wie dein Vater mit der Hand auf mich gezeigt hat.»

«Nein, das haben wir nicht», beharrte der Bub.

«Doch, das habt ihr getan. Ich habe es klar gesehen.»

«Nein, Herr Lehrer, wir haben nicht über Sie geredet.»

«Du lügst!» Der Lehrer wurde zornig und schnauzte: «Sag es!»

Der Bub blieb bei seiner Lüge.

Der Lehrer verlor die Geduld, jagte ihn erregt aus dem Zimmer und rief ihm nach: «Du lügst!»

Das, was der Lehrer Lügen nannte, hiess für den Buben Verteidigung des Vaters. Darum stritt er ab, was er gesehen und gehört hatte.

Es geht in dieser Geschichte nicht um die Schule, noch weniger um eine Charakterisierung des Lehrers, sondern um die Lüge des Buben, der damals die dritte Klasse besuchte.

Der Bub war in einem Dilemma. Wäre er auf der Seite des Lehrers gestanden, hätte ihn das Gefühl geplagt, den Vater verraten zu haben. Instinktiv log er. Seine Lüge war das kleinere Übel. Ob ihm dies bewusst war? Musste er immer die Wahrheit sagen, wie er es im Religionsunterricht eingehämmert bekam? Durfte er Vater verteidigen, obwohl er wusste, dass der Lehrer die Geste des Vaters richtig interpretiert hatte? War es Sünde, was er tat? Er durfte die Lüge ja beichten. Dann war er befreit.

xy
Bild Legende:
Beim Heuen (hier in Menzingen). Ob die Lehrerin vorbeispaziert? Bild: Andreas Busslinger.

Überlegungen des Autors
Ich habe im Leben erfahren, dass es in gewissen Situationen durchaus geboten ist, zu lügen. Schon manche Ehe ist an der Wahrheit gescheitert. Ist es eine Lüge, etwas zu verschweigen? Das Dilemma des Buben hatte mich ein Leben lang beschäftigt. Eine Notlüge, kam ich zum Schluss, ist unter bestimmten Umständen erlaubt. Ich kann mich dabei sogar auf den in moralischen Fragen strengen Immanuel Kant berufen, der erläutert, in welchen Fällen die Lüge der Wahrheit vorzuziehen sei. In Kants Argumentation geht es aber um Leben und Tod. Dennoch darf ich sagen, dass der Bub pragmatisch reagierte und sich in der Zwickmühle bewährte. Für ihn war klar, dass er Vater nicht verraten durfte. Also log er. In eine solche Situation gerät der Mensch oft, und er wird abwägen müssen, was das kleinere Übel darstellt: lügen oder die Wahrheit sagen.

Allerdings hasse ich inzwischen die Lügengespinste die man verharmlosend Fake News nennt. Auch dass man auf Plattformen Leute verunglimpfen darf, ohne dass der Lügner belangt werden kann, finde ich schäbig. Die Lüge ist das grosse moderne Spiel der Neuzeit. Gerade auf der grossen Bühne der Welt erleben wir immer wieder, wie Täter sich als Opfer darstellen. Das alltägliche Lügen mit Verschwörungstheorien zerstört die Moral, aber es scheint selbstverständlich zu werden. Mich als Buben aber verurteile ich wegen meiner Lüge in der dritten Klasse heute noch nicht.


* Andreas Iten (1936) — war Seminarlehrer für Psychologie und Pädagogik. Forschte zur Bedeutung von Sonnenzeichnungen von Kindern und veröffentlichte den Test «Die Sonnenfamilie». 1970 wurde er Gemeindepräsident von Unterägeri, dann Zuger Regierungs- und später Ständerat. Er ist Schriftsteller und schreibt regelmässig Kolumnen.

www.andreas-iten.ch

Das Buch: Lebensacker. Psycho-archäologische Geschichten
Psychologie und Pädagogik in Geschichten. Der Autor schildert, was sein Held, der Bub, in der Kindheit erlebt hat und betrachtet dies aus der Sicht des alten Mannes. Der Bub hat Erfahrungen gemacht, die ihn sein Leben lang begleiteten. Er erhielt Ratschläge, die zu gültigen Sinnsprüchen für sein Leben wurden und im Alter noch gelten. Ein bereicherndes Buch, das aufzeigt, wie Eltern oder auch Lehrerinnen und Lehrer die Kinder zwischen Freiheit und Grenzen ins Erwachsenenleben führen.

Das Buch kann unter diesem Link bestellt werden.

Weitere Informationen

hidden placeholder

behoerden

Fusszeile