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31.05.2022

35 Jahre Schulpsychologie: zehn Modelle

31.05.2022
35 Jahre Schulpsychologie - Erkenntnisse in zehn Gedankenmodellen Peter Müller
PM
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Von Peter Müller*


Liebe Leserin, lieber Leser

Während den fünfunddreissig Jahren «im Geschäft» haben sich so manche Erkenntnisse verdichtet. Davon berichte ich. Vielleicht kennen Sie die Gedankenmodelle von Krogerus und Tschäppeler. Von ihnen habe ich die Idee. Sie stellen Sachverhalte grafisch dar und erklären in kurzen, einfachen Worten. Es sind Vereinfachungen und doch: Sie regen zum Denken an. Nehmen Sie sich Zeit für die Gedankenmodelle. Lesen Sie sie nicht auf einmal. Holen Sie sie immer wieder einmal hervor. Vielleicht helfen sie Ihnen, unterschiedliche Situationen in der Schule mit Ihren Schülerinnen und Schüler, vielleicht auch mit uns Schulpsychologinnen und Schulpsychologen besser zu verstehen 😉

Solarmobil der Persönlichkeit

Von den Voraussetzungen damit das Kind «Gas geben» kann.

Solarmobil Peter Müller
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Ein Kind ist wie ein Solarmobil. Es läuft nur mit wärmendem Sonnenlicht. Das Sonnenlicht kommt von der «Tankstelle» Eltern, Lehr- und Fachpersonen. Sie laden die Batterie des Kindes mit Beziehung, mit «das Kind mögen», mit Mitgefühl, mit Beachtung schenken, mit Anerkennung. Diese Energiequellen, ergänzt durch den mächtigsten Kraftstoff «Erziehung», sind Voraussetzungen, damit das Solarmobil Kind läuft. Erst dann kann es in der Schule «Gas geben». Jedes Kind läuft anders. Das eine verfügt über einen schnellen V8-Motor, das andere über einen soliden, eher trägen, aber starken Traktormotor. Dann ist da noch der Fahrer, die Fahrerin selbst. Er oder sie muss sein Auto steuern, lenken. Vielleicht braucht es Fahrstunden vom Schulischen Heilpädagogen oder der Schulischen Heilpädagogin, weil das Solarmobil immer wieder aneckt. Die Schule ist die Fahrbahn. Sie muss dem Auto eine geeignete Unterlage bieten, sonst holpert es und kommt nicht vom Fleck. Auch muss der Weg klar sein. Damit das Kind das Fahrziel finden kann, braucht es unterwegs Gebots- und Verbotsschilder. Es braucht von den Eltern, Lehr- und Fachpersonen auch ein «Navi». Das Gerät weist den Weg. Auch die anderen Verkehrsteilnehmer wirken auf den Kurs ein. Das Kind braucht die Peergroup, die Vorbilder, die Kollegen und die Kolleginnen um sich gut zu fühlen und Leistung erbringen zu können.   

Die Individualisierungsfalle

Weshalb die immer zahlreicheren Therapien und Massnahmen in eine Sackgasse führen.

Individualisierungsfalle Peter Müller
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Früher gab es keine Kindheit. Sie staunen? Ja, das ist wirklich so. Es gab «nur» kleine und grosse Menschen. Die Kindheit wurde im 18. Jahrhundert (Jhd.). erfunden. Bis ins späte 19. Jhd. waren alle Kinder «gleich». Im 20. Jhd. verschob sich der Fokus auf einige Kinder, «die anders waren». Für sie entstanden die ersten speziellen, separativen Angebote, z. B. die Kleinklassen und die Sonderschulen. Der Angebotsboom mit Therapien folgte im 21. Jhd. Es ging nun um das einzelne Kind, das «wie kein anderes» ist. Heute schauen wir in dieses Einzelkind und diagnostizieren einzelne Hirnfunktionen. In jedem Kind stecken verschiedene Kinder. Mittlerweile gibt es eine enorme Fülle von Therapien, zugeschnitten auf jeden Teilleistungsbereich. Wie geht die Geschichte weiter? Ich glaube sie endet jetzt. Es gibt keine kleineren Einheiten mehr. Mit dieser Individualisierung tappen wir in die Falle. Deshalb nenne ich die Grafik die «Individualisierungsfalle». Wie denn weiter - fragen Sie sich. Wenn wir in eine Sackgasse fahren, müssen wir umkehren. Wir müssen die Probleme nicht als Problem des Einzelkindes oder der Funktion dieses Einzelkindes sehen. Wir müssen wieder auf das Ganze fokussieren. Für die Unterstützungssysteme, z. B. für die Schuldienste, hiesse das, die Ressourcen zu bündeln und sie in den Klassen im Alltag der Lehrpersonen zur Verfügung zu stellen. Die Schuldienste würden zu Unterstützungsteams der Regelschule und könnten nicht mehr als Reparaturwerkstätten gesehen werden.   

Hardfact- und Softfactbehinderungen

Von der scheinbaren Objektivität der Beurteilung einer Behinderung

Behinderungen Peter Müller
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Um Massnahmen zu begründen, z. B. bei der Sonderschulung, müssen wir kategorisieren. Wir unterscheiden die Behinderungsarten «Sprachbehinderung», «geistige Behinderung», «Verhaltensbehinderung», «Körper- und Sinnesbehinderung». Bei dieser Kategorisierung unterscheide ich die Hardfact- von den Softfactbehinderungen. Klar, beobachtbar, mess- und objektivierbar sind die geistige Behinderung, die Körper- und die Sinnesbehinderung. Bei der Sprach- und der Verhaltensbehinderung sind die Fakten «soft». Der Bedarf kann nur interpretiert und vermutet werden. Er ist abhängig vom Untersucher und seinen Messinstrumenten. Die Fakten sind schwammig und unklar. Das hat die Konsequenz, dass bei dieser Fachperson das Kind Sonderschulmassnahmen erhält, bei der anderen Fachperson die Massnahme aber nicht zugesprochen wird. Dazu kommt, dass bei allen Behinderungen verborgene Anteile mitsteuern. Es sind dies vorab die Lebensumstände, in denen das Kind aufwächst. Je nach Behinderung sind diese Anteile unterschiedlich gross. Es ist die grosse Herausforderung für uns in der Schulpsychologie, auch bei den Softbehinderungen die verborgenen Anteile aufzuspüren, sichtbar zu machen und aufzuzeigen, wie diese den Eisberg mitsteuern.

Normalverteilung und Intelligenz

Weshalb die IQ-Testresultate interpretiert werden müssen

Normalverteilung Peter Müller
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Eine geistige Behinderung liegt vor, wenn der IQ 70 und tiefer liegt. Früher galt der Grenzwert 75 und tiefer! D. h. heute sind weniger Menschen geistig behindert, nur weil die Invalidenversicherung den Grenzwert verschob. Sie sehen nur schon an dieser Tatsache, dass wir von etwas sehr Relativem sprechen. Von einer Lernbehinderung sprechen wir im Bereich IQ 71 bis 84. Darauf folgt die normale Begabung (IQ 85 bis 114). Von einer guten bis sehr guten Begabung sprechen wir bei einem IQ zwischen 115 und 129. Danach, ab IQ 130, folgt die Hochbegabung. Regelmässig, je nach verwendetem Verfahren, Testzeitpunkt, Untersucher und Laune des Kindes liegen die Werte extrem auseinander. Im Fallbeispiel in der Grafik, dieses Kind gibt es wirklich, lagen die an verschiedenen Zeitpunkten gemessenen Werte zwischen IQ 58 (geistige Behinderung) und IQ 89 (normale Begabung). Die Geschichte hat mich gelehrt: Alles ist relativ, auch die scheinbar objektivsten Tests. Es reicht nicht, ein Testresultat einzusehen. Es braucht nach wie vor den Menschen, der mit Vernunft und Augenmass beurteilt und die Resultate interpretiert.

Lern- und Leistungsstörungen

Weshalb wir bei Auffälligkeiten genau hinschauen

Lern- und Leistungsstörungen Peter Müller
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Wenn das Lernen und Leisten nicht funktionieren, müssen wir genau hinschauen. Ich unterscheide drei Formen von Lern- und Leistungsschwierigkeiten. In der Schule zeigen sie oft die gleichen Symptome. Die erste Form ist die «Lernhinderung». Das Kind ist normalbegabt, beim Lernen aber gehindert. Meist sind die Aufwachsbedingungen katastrophal. Vielleicht hat es noch gar keine Schule besucht. Es kommt in ein neues Land, muss die fremde Sprache, unsere Kultur lernen. Nur teilweise kann es seine Defizite aufholen. Dann die «Lernstörung». Die Auffälligkeiten zeigen sich in einzelnen Teilleistungsbereichen. Durch gezielte Therapie kann den Lern- und Leistungsschwierigkeiten begegnet werden. In vielen Fällen, können die Schwierigkeiten überwunden werden. Die «allgemeine Lernbehinderung» ist eine «Normvariante». Nicht jedes Kind lernt gleich schnell. Es gibt Kinder die «einfach» langsamer lernen. Bei dieser Form bleiben die Schwierigkeiten bestehen. Es gilt genau hinzuschauen. Nur so können wir das Kind verstehen und die richtigen Massnahmen einleiten. Das ist die Kunst, die wir in unserem Beruf alltäglich anzuwenden versuchen.

Lernstörung – Teilleistungsstörung – Behinderung

Wie der Förderbedarf zunehmen kann und wo wir eingreifen

Teilleistungsstörungen Peter Müller
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Ein Beispiel eines Zweitklässlers: Die Lehrperson beobachtet die stagnierenden Lernfortschritte. Sie unterstützt das Kind bestmöglich in der Regelklasse. Am Ende der zweiten Klasse treten die Auffälligkeiten, z. B. in der Rechtschreibung, sichtbarer auf. Die Lehrperson zieht die Schulische Heilpädagogik, später dann auch die Logopädin bei. Die Fachpersonen sehen einen zunehmenden Bedarf. Ein gezieltes Training setzt in diesem Teilleistungsbereich ein. Mithilfe der Unterstützung überwinden einige Kinder ihre Lernstörung. Bei einigen Kindern aber stagniert der Lernerfolg, trotz intensiver zusätzlicher Förderung. Die Lernstörung bleibt und erreicht langfristig den Grad einer Behinderung. Gegen Ende des zweiten Zyklus, in der fünften oder sechsten Klasse, stellt sich die Frage nach einem Nachteilsausgleich. Der SPD wird beigezogen.

Teilleistungsstörungen und Nachteilsausgleich

Weshalb wir lange mit Anträgen für Nachteilsausgleichsmassnahmen zuwarten

Nachteilsausgleich Peter Müller
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Lernfortschritte verlaufen sprunghaft und sind oft nicht voraussehbar. Auffälligkeiten zeigen sich erst allmählich. Durch Massnahmen der besonderen Förderung vor Ort (Schulische Heilpädagogik, Schuldienste) wird versucht, die Lernfortschritte positiv zu beeinflussen. Wenn die Fortschritte langfristig, trotz der getroffenen Massnahmen, ausbleiben, stellt sich die Frage nach einer Behinderung. Der Schulpsychologische Dienst kann dann Nachteilsausgleichsmassnahmen, meist am Ende des zweiten Zyklus, prüfen.

Stufenmodelle bei Verhaltensauffälligkeit

Von leichten zu schweren Auffälligkeiten in sieben Stufen

Luzerner Stufenmodell Peter Müller
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Das Modell ist der Stadt Luzern abgeschaut und auf die Verhältnisse im Kanton Zug angepasst. Massnahmen für verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler werden entweder vor Ort im Rahmen der besonderen Förderung (bF) oder als verstärkte Massnahmen (vM) angeboten. Der Kanton beteiligt sich an den Kosten bei der bF durch eine Pauschale, bei vM finanziert er die individuellen Sonderschulkosten zu 50% mit. Die Stufen zeigen eine zunehmende Dramatisierung. Bevor verstärkte Massnahme geprüft werden, müssen die möglichen Unterstützungsmassnahmen vor Ort eingeleitet und evaluiert werden.

Der Schulpsychologe, die Schulpsychologin: Matrose oder Kapitän?

Wie die Schulpsychologie das Schiff in unterschiedlichen Rollen steuern hilft

Matrose oder Kapitän
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Als Schulpsychologe habe ich zwei Rollen. In der einen berate ich schulnah und «packe mit an». Ich nehme teil an der Förderplanung und helfe an Deck vor Ort mit. Ich trage Mitverantwortung und bin ein Teil der Crew der besonderen Förderung. Wenn das Schiff, das kann die Regelklasse mit SuS mit deutlichen besonderen Bedürfnissen sein, trotz dieser Massnahmen vom Kurs abkommt und in unruhiges Gewässer fährt, stellt sich die Fragen nach weitergehenden, «verstärkten» Massnahmen. Sobald es um diese Massnahmen geht, muss ich meine Rolle wechseln. Ich bin dann Kapitän und muss das Steuer übernehmen. Meine Aufgabe ist zu beurteilen, mit welchen Massnahmen wir das Schiff wieder auf Kurs bringen. In dieser Rolle bin ich dem Flottenkapitän, dem Regierungsrat, verpflichtet. Für ihn beurteile ich die Sachlage und beantrage vielleicht die notwendigen Kurskorrekturen mittels sehr teurer Massnahmen. Vielleicht muss ich aber auch die Mannschaft coachen, ihr mitteilen, dass es keine zusätzlichen Mittel für die Kurskorrektur gibt. Das ist oft hart, schwierig und für uns meist «gar nicht attraktiv».

Was der Schulpsychologe, die Schulpsychologin tut

Wie wir heute arbeiten und unsere Rolle verstehen

Der Schulpsychologe Peter Müller
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Viele denken: «Der Schulpsychologe, die Schulpsychologin klärt Schülerinnen und Schüler ab.» Das war einmal. Heute begleiten wir vom Kindergarten bis zum Ende der Lehrzeit. Der Lernweg ist oft «ein Auf und Ab». Zentral ist nicht der Einzeltest, der Hinweise auf die Gründe der Lernschwierigkeiten gibt, sondern die langfristige Beratung und Begleitung. Im obigen Fall fanden Beratungen in Form von Schulbesuchen, testdiagnostischen Sitzungen, Besprechungen mit den Beteiligten im Kindergarten, in der zweiten, dritten und sechsten Klasse statt. Diese Arbeit führen wir während der Ausbildung weiter. Wir begleiten das Kind und seine Eltern oft bis zum Abschluss der ersten beruflichen Ausbildung.

Ein Berufsleben für die Schulpsychologie

*Peter Müller, geb. 23.7.1959, Dr. phil., Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie.
Verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Töchtern, aufgewachsen in Cham.

  • 1975 - 1980, Lehrerseminar St. Michael Zug
  • 1981 - 1985, Studium Universität Zürich
  • 1983 - 1990, Psychotherapeutische, psychoanalytische Ausbildung
  • 1985 - 1993, Dissertation Universität Zürich mit Promotion
  • 1985 - 1993, Tätigkeit in eigener psychotherapeutischer Praxis in Zug
  • 1986 - 1993, Schulpsychologe in Herrliberg Kanton Zürich
  • 1993 - 2002, Sonderschulinspektor Kanton Zug  
  • 1993 bis heute, Schulpsychologe
  • seit 2006, Leitung Schulpsychologischer Dienst des Kantons Zug
  • 31.7.2022, Pensionierung

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