Ein Schweizer Trumpf, den es zu erhalten gilt

Das durchlässige duale Bildungssystem der Schweiz bietet zwei wesentliche Vorteile: Es gewährleistet eine hohe Passgenauigkeit auf dem Arbeitsmarkt und stellt einen Schlüsselfaktor für die gesellschaftlichen Aufstiegschancen dar.
Von Melanie Häner-Müller*
Bis heute ist die Berufslehre bei den Schweizer Auszubildenden beliebt. Nach wie vor entscheiden sich zwei Drittel der Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit für eine berufliche Grundbildung. Im Vergleich zum umliegenden Ausland sind unsere Maturitätsquoten entsprechend tief.
Das Schweizer Berufsbildungssystem zeichnet durch herausragende Leistungen aus: Regelmässig werden die Schweizer Lernenden bei der WorldSkills – der Weltmeisterschaft der Berufe – prämiert. Und das in den unterschiedlichsten Disziplinen. Im vergangenen Jahr wurden in Lyon gar sieben Goldmedaillen gewonnen: von der Automobil-Mechatronikerin, über den Gärtner bis hin zur Hotel-Kommunikationsfachfrau – die Schweiz setzte sich in zahlreichen Berufssparten durch.
Dass eine qualitativ hochwertige Bildungslandschaft gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Vorteile mit sich bringt, ist offensichtlich. Doch weshalb gilt gerade dieses durchlässige duale Bildungssystem der Schweiz auch international gerne als das Nonplusultra? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe.
Passgenau auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zugeschnitten
Erstens zeigt sich der Erfolg unserer Bildungslandschaft in der hohen Passgenauigkeit zu den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Dies äussert sich im Aggregat in einer niedrigen Arbeitslosenquote, insbesondere auch bei den Jugendlichen.
Um die Übereinstimmung zwischen ausgebildeten und nachgefragten Fähigkeiten genauer zu beurteilen, lohnt sich der Blick in die sogenannten «Mismatch»-Studien. Diese erfassen die Diskrepanz zwischen den individuellen Qualifikationen und den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Für die Schweiz belegen diese Studien einerseits, dass die berufliche Ausbildung den Vorteil hat, gezielte Fähigkeiten zu vermitteln, die den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern und mit überdurchschnittlich hohen Einstiegsgehältern verbunden sind. Andererseits zeigen sich Personen mit stark spezialisierten beruflichen Qualifikationen als weniger flexibel bei einem Stellenwechsel und haben bei einem Stellenverlust ein höheres Risiko, längere Zeit arbeitslos zu bleiben. Dennoch sind die Lohneinbussen, die durch eine starke Berufsspezialisierung entstehen, in der Schweiz insgesamt vergleichsweise gering. Das Berufsbildungssystem lässt sich daher als gut auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts abgestimmt bezeichnen.
Auch im Tertiärbereich sind die Arbeitsmarktchancen intakt. Dabei zeigt sich, dass Personen, die nach einer Berufsmaturität einen Tertiärabschluss erwerben, nach ihrem Abschluss seltener arbeitslos sind als jene, die über den allgemeinbildenden Schulweg an die Hochschule gelangten. Generell sind auch die Bildungsrenditen für gemischte Ausbildungspfade höher als bei rein akademischen oder rein beruflichen Wegen.
Ein weiteres wichtiges Mass für den Tertiärbereich ist der Anteil an sogenannt inadäquat Beschäftigten – also der Absolventinnen und Absolventen, die Tätigkeiten ausüben, die keinen entsprechenden Abschluss erfordern und die damit über- oder zumindest unpassend qualifiziert sind. Die niedrigsten Werte finden sich bei den ausgebildeten Lehrkräften und Medizinabsolventen, mit unter zwei Prozent inadäquat Beschäftigter. Das ist kaum erstaunlich, da diese Abschlüsse klar auf ein späteres Berufsprofil zugeschnitten sind. Umgekehrt geht mehr als ein Fünftel der Kulturwissenschaftler und Historiker einer beruflichen Tätigkeit nach, für die sie keinen entsprechenden Abschluss benötigen würden. Auch beim eidgenössischen Fachausweis gibt es noch Luft nach oben: 10 Prozent der Absolventinnen und Absolventen mit eidgenössischem Fachausweis üben eine Tätigkeit aus, die nicht deren Ausbildung entspricht. Über die Gründe kann auch der Schweizer Bildungsbericht nur spekulieren: Es sei denkbar, dass diese Personen trotz des höheren Bildungsabschlusses häufig in ihrem ursprünglichen Beruf weiterarbeiten.

Entsprechend gilt es für die Schweizer Bildungspolitik auch in Zukunft sicherzustellen, dass Tertiärabschlüsse nicht «auf Vorrat» erworben werden, die für die spätere Tätigkeit nicht erforderlich sind. Es bleibt wichtig, die symbiotische Beziehung zwischen dem Schweizer Arbeitsmarkt und dem hiesigen Bildungssystem zu pflegen.
Schlüssel für gesellschaftlichen Aufstieg
Neben dieser Passgenauigkeit ist das durchlässige duale Bildungssystem auch ein Schlüsselfaktor für die gesellschaftlichen Aufstiegschancen. In einer neuen Studie, in der ich gemeinsam mit Jonas Bühler und Christoph Schaltegger über 1 Million Lohndaten aus der AHV-Statistik auswertete, konnten wir zeigen, dass der familiäre Hintergrund lediglich 15 Prozent des eigenen Einkommens erklärt. Das ist im internationalen Vergleich ein äusserst niedriger Wert: In den USA entfallen beinahe 50 Prozent, in Deutschland über 40 Prozent und in Dänemark rund 20 Prozent der Einkommensunterschiede auf die Familie. Die Schweiz darf sich damit als Chancenland bezeichnen.
Gleichzeitig bewegen wir uns bei der akademischen Bildungsmobilität im OECD-Mittelfeld. Akademikerkinder sind an den Schweizer Hochschulen übervertreten. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Unter allen Studentinnen und Studenten stammen beinahe die Hälfte aus einem Akademikerhaushalt, während unter allen 25- bis 35-Jährigen nur knapp ein Viertel aller Eltern einen Hochschulabschluss haben.
Ein wichtiger Faktor für diesen Unterschied ist das stark ausgebaute duale Bildungssystem in der Schweiz. Es ist hierzulande möglich, auch ohne universitäre Bildung die Einkommensleiter emporzuklettern. Zudem erlaubt die Durchlässigkeit des Systems auch den Erwerb späterer Tertiärabschlüsse nach erfolgreichem Abschluss der Berufslehre, was insbesondere für Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten ein grosser Vorteil ist, um während der Weiterbildung ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Ein wichtiges Credo der Bildungspolitik sollte es sein, sogenannte «verlorene Einsteins» zu vermeiden. Kinder mit den entsprechenden Interessen und Fähigkeiten sollten nicht aufgrund ihres Elternhauses daran gehindert werden, einen Hochschulabschluss zu erlangen. Gleichzeitig sollte jedoch auch nicht für alle einen Gymnasialabschluss angestrebt werden – unabhängig von deren Elternhaus. Deshalb gilt es auch in Zukunft dem dualen Bildungssystem Sorge zu tragen – der Passgenauigkeit auf den Arbeitsmarkt und den gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten zuliebe.
* Dr. Melanie Häner-Müller leitet den Bereich Sozialpolitik und ist Bildungsverantwortliche des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern. Ausserdem ist sie als Dozentin an den Universitäten Luzern und Basel tätig. Nebst wissenschaftlichen Forschungsinhalten erstellt sie gemeinsam mit ihrem Team volkswirtschaftliche Lerninhalte – etwa die Videoserie «VWL-Classics» – und bietet Projektwochen für Gymnasien und Berufsschulen an, um die Forschung ins Klassenzimmer zu bringen.