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09.05.2018

Lasst jedes Kind gut dastehen!

09.05.2018
Lasst die Kinder gut dastehen und stellt sie niemals bloss. Das sagt Esther Huber* im Gespräch mit Martina Krieg. Das Gesprächsthema: «Herausfordernde Kinder und Jugendliche». Von Martina Krieg** ...
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Lasst die Kinder gut dastehen und stellt sie niemals bloss. Das sagt Esther Huber* im Gespräch mit Martina Krieg. Das Gesprächsthema: «Herausfordernde Kinder und Jugendliche».

Von Martina Krieg**

MK: Esther Huber, Du befasst Dich mit Deiner Fachgruppe Besondere Förderung mit dem Thema «Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten». Ist dieses Thema im Moment besonders aktuell?
EH: In den letzten Jahren hört man vermehrt Klagen von Lehrpersonen über Kinder, die schwierig sind und einen guten Unterricht für die Klasse und die Lehrperson verunmöglichen. Sie beanspruchen während dem Unterricht durch ihr Verhalten viel Zeit und Energie.

Wir alle kennen Kinder und Jugendliche, die wild sind, die noch kaum gelernt haben Regeln zu befolgen und die sich nicht selber kontrollieren können. Aber auch die ängstlichen und scheuen, passiven Kinder und Jugendlichen, die sich nicht aktiv am Unterricht beteiligen. Viele Schulen sind im Umgang mit solchen Schülerinnen und Schülern gefordert und teileweise stark belastet. Wir stellten uns die Frage: Wie können wir als Schule, als Heilpädagogen und Heilpädagoginnen angemessen auf das Verhalten dieser Kinder reagieren.

Können Strafen wie, vor die Türe gehen, zusätzliche Arbeiten schreiben oder am Mittwochnachmittag nachsitzen eine Verhaltensänderung beim Kind bewirken?
Kaum ein Unterricht verläuft ohne Störungen. Es sind alltägliche Begleiterscheinungen. Strafen von störendem Verhalten bringen keine Veränderung bei einem Schüler. Strafen, die in aufgeladenen emotionalen Situationen ausgesprochen werden, sind oft von Machtspielen geprägt und erzeugen beim Schüler eine Gegenwehr. So kann leicht ein Teufelskreis entstehen, Rachegefühle und weitere Provokationen können darauf folgen Es bewirkt viel mehr, die Situation etwas abkühlen zu lassen und mit dem Schüler nach der Schule ein Gespräch zu führen. Dabei soll das fehlbare Kind selbst vorschlagen, wie es sein Fehlverhalten wieder in Ordnung bringen kann. Dies erfordert im Gegensatz zur angeordneten Strafe eine Auseinandersetzung des Schülers mit sich selbst, mit seiner Tat und seinen Gefühlen. Durch das Wiedergutmachen kommt zudem die Beziehungsebene wieder in Ordnung.

Kinder mit auffälligem Verhalten wurden früher in Kleinklassen für verhaltensauffällige Kinder unterrichtet. Heute sind diese Kinder in die Regelklassen integriert. Siehst Du darin einen Vorteil?
Früher sprach man auch von verhaltensauffälligen Kindern und meinte damit, dass das Problem im Kind selbst angelegt ist. Doch jeder Mensch verhält sich entsprechend seinem Umfeld anders. Dies bedeutet, dass das Verhalten mit den Menschen in seiner Umwelt in Zusammenhang steht. Die Umwelt nimmt das Verhalten als störend oder herausfordernd wahr. Ein Schüler zum Beispiel, der im Unterricht dauernd reinschwatzt, tut dies nicht in der Absicht zu stören, es wird aber von der einen Lehrperson so wahrgenommen, während eine andere Lehrperson diesen Schüler als sehr aktiv und interessiert beschreibt.
Unsere persönliche Geschichte, mit ihren Beziehungen, Erlebnissen und Erfahrungen, bildet Muster und Strukturen, aufgrund derer wir handeln und urteilen.

Bei der Separation in Sonderklassen besteht die Gefahr einer Stigmatisierung. Es gibt jedoch kein Patentrezept für die Integration von Kindern mit auffälligem Verhalten in Regelklassen. Sie ist eine Herausforderung für die ganze Schule und fordert viel Kraft von Lehrpersonen und ein gutes Einvernehmen zwischen Eltern und Schule. Eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Heilpädagogen, Fachlehrern und der SSA ist ebenfalls Voraussetzung für das Gelingen.
Sind in einer Regelklasse mehrere Kinder mit auffälligem Verhalten, braucht es zusätzliche Ressourcen, damit ein guter Unterricht gewährleistet werden kann und die Lehrperson entlastet wird.

Wo liegen die Ursachen, dass Kinder sich im Unterricht anders verhalten, als von ihnen erwartet wird?
Kinder handeln nicht absichtlich gegen uns, sondern sie verhalten sich so, weil sie aufgrund ihrer Persönlichkeit versuchen eine für sie überfordernde Situation zu bewältigen.

Die Entwicklung kann beeinträchtigt sein und emotionale und soziale Verhaltensweisen sind noch nicht dem Alter entsprechend aufgebaut. Wichtig sind in den ersten Lebensmonaten Fürsorge und emotionale Zuwendung durch die Bezugspersonen. Dies ist für eine gesunde Entwicklung bedeutsam.

In den ersten 24-36 Monaten bauen Säuglinge und Kleinstkinder ihr «Selbst» auf. Dyadische Spiegelungen mit erwachsenen Bezugspersonen ermöglichen dem Kind, sein Selbst entstehen zu lassen. Ohne dieses Selbst kann es später auch keine Selbstkontrolle geben. Eine Struktur im Stirnlappen des Gehirns, der präfontale Cortex, ist für die Selbststeuerung zuständig. Die neuronalen Netzwerke befähigen den Menschen zu intellektuellen Leistungen. Ich erwähne hier die Aufmerksamkeitslenkung, das Erkennen von geltenden Regeln sowie die rasche Umstellung auf eventuelle neue Regeln. Auch die Handlungsplanung und das vergleichendes Abwägen mehrerer Handlungsziele werden durch Netzwerke von Synapsen entwickelt. Der präfontale Cortex ist aber auch in der Lage, Informationen darüber zu speichern, wie sich Dinge, die ich selber tue, aus der Sicht anderer Menschen darstellen. Dies ermöglicht, dass wir einen Perspektivenwechsel vollziehen und andere verstehen können. Ohne diese Entwicklung kann die Fähigkeit zur Empathie nicht entstehen.
Untersuchungen aus der Psychologie und Hirnforschung haben gezeigt, dass Menschen mit einer gut entwickelten Selbstregulation, mehr Erfolg haben und sich einer besseren körperlichen und psychischen Gesundheit erfreuen.

Esther Huber

Wie zeigt sich, dass die Selbstregulation noch nicht genügend entwickelt ist?
Kinder, welche keine sichere oder ungenügende Bindung erfahren konnten, zeigen dies häufig im Schulalter. Es sind Kinder, die Mühe haben sich an Regeln zu halten, eigene Impulse zu steuern, Arbeiten zu planen. Unter anderem bereitet es ihnen auch Mühe sich in eine Gruppe einzuordnen, eigene Gefühle zu regulieren und Konflikte lösungsorientiert anzugehen. Oft können sie Beziehungsangebote der Lehrperson nicht annehmen. Sie meiden die Person oder klammern sich ängstlich an sie. Dies konnte ich bei der achtjährigen Lea über Wochen beobachten. Wenn die Lehrerin sie ansprach und mit ihr das Gespräch suchte, wich sie aus, wandte sich von der Lehrperson ab und begann, sich mit etwas auf ihrem Pult zu beschäftigen. Hingegen lief sie blitzschnell los, um im Klassenkreis den Stuhl neben der Lehrperson zu erwischen, wobei sie ihren Arm auf die Lehne des Lehrerstuhls legte.
Hinter solchen Verhaltensmustern steckt häufig Angst - Angst zu scheitern, Angst nicht angenommen oder wahrgenommen zu werden, Angst, hilflos und ohnmächtig zu sein.

Wie kann die Schule auf diese Entwicklung Einfluss nehmen?
Zuerst im Kindergarten. Neben vielen anderen Aufgaben, die eine Kindergärtnerin zu leisten hat, ist der weitere Aufbau der Selbstregulation sehr wichtig. Kinder können ab 3 Jahren schrittweise lernen zu warten, zu teilen, ihre Impulse zu dämpfen, kleinere Spielvorhaben und Arbeiten zu planen und darüber zu sprechen. Im Kindergartenalltag beim Znüniessen wie beim Spielen können auch soziale Regeln erlernt werden: Sich in eine Gruppe einzufügen und andere Kinder in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen. Aber auch hier können unterschiedliche Entwicklungsstufen beobachtet werden, und die Heilpädagogen können mit spezifischen Angeboten die Kinder in ihrer Entwicklung fördern.
Dieses Lernen endet aber nicht mit dem Eintritt in die Schule, sondern soll während der ganzen Schulzeit weitergeführt werden.
Mit spielerischer Förderung der exekutiven Funktionen können dabei auf lustvolle Art Erfolge bei Kinder und Jugendlichen erzielt werden. Sie muss jedoch über einen längeren Zeitraum angeboten werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Es eignen sich zum Beispiel Fex-Spiele, die man mit ganzen Klassen in Schulräumen und im Freien durchführen kann.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Auffälligkeit im Verhalten und Lernschwierigkeiten?
Häufig kovariieren Lernschwierigkeiten und auffallendes Verhalten. Oft ist nicht zu erkennen, welche Störung am Beginn des Prozesses stand. Es können sich ebenfalls beide Störungen in einem gemeinsamen Prozess entwickeln.
Hat ein Schulkind zum Beispiel Lernschwierigkeiten versucht es diese zu kompensieren. Werden diese Kompensationsversuche aber von der Umwelt nicht akzeptiert, kann das Kind mit auffälligem Verhalten darauf reagieren. Auch für die Heilpädagogin ist es oft nicht ersichtlich, wo sie in dieser komplexen Situation die Förderung ansetzen soll.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit: Mirco ist ein 10 jähriger Junge. In der Einzel- oder Gruppenarbeit arbeitet er praktisch nichts. Er geht umher und stört andere Kinder beim Arbeiten. Seine Hausaufgaben erledigt er selten. Er beteiligt sich aktiv an Klassengesprächen und stellt viele Fragen. In der Pause ist er dauernd in Konflikte mit anderen Kindern involviert. Seine Schulnoten sind ungenügend. Sobald die Heilpädagogin oder Lehrperson neben ihm sitzt, arbeitet er fleissig und zügig voran. Oft fragt er dann auch nach: „Habe ich heute gut gearbeitet?" Sobald er wieder alleine weiterarbeiten soll, beginnt er wieder umherzugehen und andere zu stören. Es ist schwierig bei ihm zu erkennen, ob eine Lernstörung vorliegt oder ob er Mühe hat, seine Impulse zu regulieren. Nach einem Besuch und einem Beratungsgespräch mit der Schulpsychologin haben wir uns im Einverständnis mit den Eltern für eine Abklärung entschieden.
Nach langjähriger Praxiserfahrung habe ich den Eindruck, dass der Druck auf Lehrpersonen und Kinder zugenommen hat. Eltern, die von ihren Kindern bestmögliche Schulnoten erwarten, die zunehmende Heterogenität der Schulklassen und der Auftrag der Lehrperson, allen Schüler und Schülerinnen gerecht zu werden, belasten den Unterrichtsalltag zusätzlich.

Welche Handlungsmöglichkeiten haben Schulen? Wie können Lehrpersonen Kinder mit herausforderndem Verhalten unterstützen?
Ich gehe vom systemisch-konstruktivistischen Ansatz aus, wonach niemand einen anderen Menschen gegen seinen Willen ändern kann. Wir Lehrpersonen, Heilpädagogen können nur unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitern.
Eine gute Möglichkeit ist dabei, das Reframing (Umdeutung von Situationen). Man schaut dabei welchen positiven Nutzen sein Verhalten für den Schüler hat? Dabei wird dem Erlebten eine andere Bedeutung gegeben. Auch können wir versuchen, mögliche Gründe für das Verhalten zu sehen, um adäquater zu handeln. Der Fokus soll auf Lösungen konzentriert sein und nicht auf die Ursache des Problems. Kleine Ziele, die zu „schaffen" sind, werden mit dem Schüler vereinbart. Dazu gibt es ein tolles Trainingsbuch „Ich schaffs!" von Ben Fuhrmann.
Für ein erfolgreiches Lernen in der Klasse benötigt es klare und kurze Regeln, die allen Beteiligten bekannt sind und die auch für die Lehrpersonen gelten.
Viele nützliche Tipps findet man im Buch „Classroom Management" von Bill Rogers, das ja mittlerweile Pflichtlektüre in der Lehrer-und Lehrerinnenausbildung geworden ist.

Für mich ist zentral, dass die Lehrpersonen jedes einzelne Kind in der Klasse gut dastehen lassen, es bestärken und es niemals blossstellen; denn jeder Mensch hat das Bedürfnis, für einen anderen Menschen Bedeutung zu haben, gesehen zu werden und Wertschätzung zu erfahren. Nur so kann das Motivationssystem aktiviert werden, das zentral für das Lernen ist.

*Esther Huber unterrichtet seit 1990 als Kindergärtnerin und seit 2004 als Schulische Heilpädagogin an den Stadtschulen Zug. Seit 2015 leitet sie die kantonale Fachgruppe Besondere Förderung. Von 2004 bis 2017 stellte sie ihr Wissen als Praktikumsleiterin und Prüfungsexpertin der Hochschule für Heilpädagogik Zürich zur Verfügung. Im Jahr 2012 erwarb sie ein Diplom als systemischer Coach.
**Martina Krieg ist Leiterin der Abteilung Schulentwicklung im Amt für gemeindliche Schulen und Redaktorin bei www.schulinfozug.ch.

 

 

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