Den eigenen Weg geschwommen
«Ich nicht sprechen deutsch» waren ihre ersten Worte in der Schweiz. Heute ist sie eine Art Role model für begabte und leistungsbereite Jugendliche mit Migrationsgeschichte. Die packende Lernbiografie der Gymnasiallehrerin Beatriz oder: Warum Förderprogramme Leben verändern können.
Von Jürg Schoch*
Beatriz. Sie war nicht ganz 15, als sie mit ihren Eltern und zwei kleineren Geschwistern in die Schweiz kam. «Meine Grossmutter hatte mir einen einzigen Satz beigebracht, damit wir auf dem Spielplatz nicht als asozial angeschaut wurden», sagt sie rückblickend: «Ich nicht sprechen deutsch.»
Das erste halbe Jahr verbrachte sie vormittags in der Deutsch-Einführungsklasse der Schulgemeinde. Den Nachmittag in einer Regelklasse. «Ich hatte von nichts eine Ahnung. Einmal musste ich eine Französisch-Voci-Prüfung schreiben. Ein zu übersetzendes Wort war «schwanger». Ich verstand das Wort nicht einmal auf Deutsch. Auf meine Frage zeigte die Lehrerin einfach einen grossen Bauch. Das war lieb. Geholfen hat es mir wenig.»
Später wurde Beatriz trotz Sprachmangel in ein anspruchsvolleres Sekundarniveau eingeteilt. Man hatte erkannt: Das Mädchen hat Potenzial – intellektuell und in Sachen Zielstrebigkeit. Tatsächlich schaffte sie parallel zur 3. Sekundarklasse den Sprung in ein Förderprogramm für begabte und motivierte Jugendliche mit Migrationsgeschichte. «Ich hatte riesiges Glück, dass es das gab. Es hat mein Leben verändert», sagt sie heute. Sie bestand danach die Aufnahmeprüfung in die Kantonsschule, arbeitete weiter hart in allen Fächern. Sie machte ihre Matur, nahm ein Ingenieurstudium an der ETH in Angriff. Und sie gab zurück, was sie bekommen hatte. Als Assistentin und Begleiterin von nächsten begabten Migranten und Migrantinnen im Förderprogramm. «Ja, wahrscheinlich wurde ich da zu einer Art Role model. Einmal sagte mir eine junge Sekundarschülerin, an mir sehe sie, dass man es schaffen könne.»
Samstag für Samstag engagierte sie sich so als Hilfslehrerin. Mehr und mehr spürte sie, dass es sie zum Lehrberuf hinzog, nicht in die Ingenieurwissenschaften. «Mathematik und Physik interessierten mich. Und die jungen Menschen. Ihnen wollte ich die Begeisterung für diese Fächer weitergeben.»
Wie diesen Entscheid aber der Familie beibringen? Sie lebten alle fünf am Existenzminimum, der Vater jobbte temporär auf Baustellen, verdiente denkbar wenig. Sie gestand ihm: «Das Ingenieurstudium ist nicht das Richtige für mich. Ich möchte noch etwas anderes studieren.» Sie ahnte die Opfer, die der Vater dafür erbringen müsste. Aber er zeigte Verständnis. «Wir sind nicht bis an den Strand geschwommen, um dort zu sterben», zitierte er ein Sprichwort aus seinem Heimatland. Beatriz vollendete den Bachelor in Engineering. Und studierte dann nochmals vier Semester Mathematik. Seit dem Sommer ist sie Gymnasiallehrerin. Jetzt finanziert sie das Studium ihrer beiden kleinen Geschwister.
Eines ist sicher: Das Projekt «Chance Zug» wird in Zukunft genau solche Wege ermöglichen.
Herzliche Gratulation!
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Das Projekt Chance Zug ist ein Förderprogramm für leistungsbereite talentierte Jugendliche, welche eingeschränkte familiäre Unterstützungsmöglichkeiten haben. Chance Zug soll diese Jugendlichen auf ihrem Weg an eine weiterführende Mittelschule oder in einen schulisch anspruchsvollen Lehrberuf unterstützen. |
*Jürg Schoch (*1955), Dr. phil., Prof. ZFH, Sohn eines Heimleiterehepaars, Sekundarlehrer phil. I und Jugendarbeiter. Studium der Sozialpädagogik, Psychologie und Theologie. Assistent und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Bis 2020 Direktor am Gymnasium und Institut Unterstrass in Zürich. Kontakt unter diesem Link.