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25.03.2025

Dialekt: «Role models» für die Schule!?

25.03.2025
Diskussion über Mundart und Hochdeutsch in der Schweiz: Herkunft des Begriffs «Mundart» Rolle der Schriftsprache im Unterricht, Sprachgebrauch im Alltag und Einfluss der Standardsprache auf den Dialekt.
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Helen Christen (Foto: Mirjam Oertli)

In der Schule kommen Dialekt und Standardsprache zusammen. Ein Spannungsfeld, das sich nicht nur im Kanton Zug auch schon politisch entladen hat. Ist gar der Dialekt daran schuld, dass 25 % der Schweizer Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nur ungenügend lesen können? Oder ist es viel eher zum Weinen, dass nicht wenige Kinder heute "ich ha müesse weine" statt "brüele" sagen? Antworten von der Schweizer Linguistin Helen Christen.

 

Prof. Helen Christen*, der Begriff «Mundart» kommt mir sehr hochdeutsch vor. Täusche ich mich?
Nein, Sie täuschen sich nicht. Die Herkunft verrät schon das Wort «Mund», das im Dialekt ja «Muu» oder «Muul» lauten würde. Das Wort «Mundart» mit der ursprünglichen Bedeutung «Art des Sprechens» ist im 17. Jahrhundert als Übersetzung des griechischen Wortes «dialectos» im Deutschen als Bezeichnung für landschaftlich-regionale Sprachformen üblich geworden. Interessanterweise ist es aber das Fremdwort «Dialekt», das sich zur heutigen Alltagsbezeichnung entwickelt hat, während «Mundart» etwas gelehrt und gestelzt klingt. Im Idiotikon, dem Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache, findet sich denn auch ein Eintrag zu «Dialekt», nicht aber zu «Mundart» – «Dialekt» heisst also im Dialekt «Dialekt»!

Nach dem PISA-Schock vor bald 25 Jahren wurde an den Zuger Volksschulen die Standardsprache, also Hochdeutsch, als verbindliche Unterrichtssprache in allen Fächern vorgeschrieben. Nicht wenige sahen nämlich die Schweizer Dialektsituation als Ursprung für das unbefriedigende Abschneiden im Lesen. Eine Zürcher Professorin soll gefordert haben, dass Lehrpersonen am besten in allen Situationen, also auch auf dem Pausenplatz – sie hätte wohl «Schulhof» bevorzugt – oder auf der Schulreise, Standardsprache sprechen würden. Wie haben Sie diese Diskussion damals erlebt?
Ich wurde damals tatsächlich sehr oft auf die «schlechten» PISA-Ergebnisse angesprochen und auf den Dialekt als deren mutmasslichem «Verursacher». Erstaunlicherweise hat sich niemand gewundert, dass die Ergebnisse in den anderssprachigen Landesteilen der Schweiz, wo die Dialekte eine weniger prominente oder gar keine Rolle spielen, ja nicht besser waren. Und niemand machte darauf aufmerksam, dass im Süden Deutschlands bessere Resultate verzeichnet wurden als im Norden. Wäre nämlich der Dialekt der Sündenbock, wäre gerade der umgekehrte Sachverhalt zu erwarten, da es in Deutschland ein Süd-/Nord-Gefälle hinsichtlich von Dialektkompetenz und -gebrauch gibt. Die Forderung nach mehr gesprochener Standardsprache über das Schulzimmer hinaus erschien mir als ein etwas hilfloser Reflex ohne genaues Wissen darüber, ob und wie sich denn das Sprechen auf das Leseverstehen – nur dieses wurde im Rahmen von PISA untersucht! –, auswirkt. Wer ausserdem fordert, dass selbst auf der Schulreise Standarddeutsch zu sprechen sei, dem ist offensichtlich die Deutschschweizer Sprachgebrauchskonvention nicht ganz geheuer und der bevorzugt sprachliche Verhältnisse, wie sie in Deutschland gang und gäbe sind.

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Später kam es zu politischem Streit rund um die Unterrichtssprache. In Zürich wurde mittels Volksinitiative Schweizerdeutsch als Unterrichtssprache im Kindergarten gesetzlich vorgeschrieben. Im Kanton Zug gilt im Kindergarten grundsätzlich Schweizerdeutsch, in der Schule grundsätzlich Standardsprache. Diese Formulierung war ein Gegenvorschlag auf eine abgelehnte Mundartinitiative, welche Schweizerdeutsch in Fächern wie etwa Werken oder Turnen festschreiben wollte. Ist der Streit um Dialekt und Standardsprache eine Deutschschweizer Besonderheit?
Ein solcher Streit kann nur dort vom Zaune brechen, wo beide Sprachformen, Dialekt und Standardsprache, gesellschaftlich unangefochten verankert sind und über ein gleichermassen hohes Ansehen verfügen. Die Selbstverständlichkeit des Dialektsprechens in der Deutschschweiz hat zur Folge, dass man festlegen muss, unter welchen Bedingungen doch die gesprochene Standardsprache zum Zuge kommen soll – aus guten Gründen etwa im Unterricht. «Grundsätzlich» heisst dabei wohl, dass ein paar Schlupflöcher bleiben, bei denen sich etwa die Lehrerin im Dialekt von den Schulkindern verabschiedet oder der Lehrer einem Schüler in einem Seitengespräch die Rechenaufgabe auf Dialekt erklärt. Und «grundsätzlich» heisst für den Kindergarten, dass eine Geschichte auch mal auf Standarddeutsch vorgelesen werden «darf». Ganz anders in Deutschland, wo nicht mehr alle oder sogar fast keine Kinder über einen Dialekt verfügen. Im niederdeutschen Sprachgebiet im Norden Deutschlands, wo das Platt beinahe verschwunden ist, besinnt man sich auf dieses abgehende Kulturgut. Und fordert nun – mit ungewissem Ausgang –, dass Platt im Schulunterricht seinen Platz erhält und kreiert Sprachlehrmittel wie «Paul un Emma snackt plattdüütsch», um die Kinder mit Niederdeutsch vertraut zu machen.

Ich «muess weine», «muess arbeite» … «Träppe» statt «Stäge», «Pferd» statt «Ross», sogar «Leich» statt «Liich»: Lehrpersonen können viele solche Sprachmüsterchen von Schülerinnen und Schülern aufzählen. Drängt die Standardsprache ins Schweizerdeutsch?
Mit vielen grammatischen und lautlichen Eigenheiten halten die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer die Grenze zwischen Dialekt und Standardsprache aufrecht – «ich bi im Kino gsii» und nicht «ich bi im Kino gwese». Aber die Grenze zwischen den beiden Sprachformen ist durchlässig und vor allem der standardsprachliche Wortschatz bildet eine Art von Reservoir, dessen man sich bedienen kann. Dieses Reservoir ermöglicht es, dass man über «alles» – von der Strickanleitung über die Bundesratswahl bis zur Quantenphysik [Kchwantefüsiikch] – im Dialekt sprechen kann. Durch die beträchtliche Präsenz der Standardsprache in der Schriftlichkeit, aber auch in den gesprochensprachlichen Medien, bekommen aber selbst – eigentlich unnötige – standardsprachliche Alternativen zu bestehenden Mundartwörtern Aufwind – eben «Pferd» statt «Ross». Meist werden zwar lautliche Einpassungen gemacht (z. B. je nach Dialektgebiet «Träppe» und nicht «Treppe»), insgesamt ist aber eine Vereinheitlichung des Wortschatzes nicht zu übersehen, und Wörter wie «Pferd» oder «Schmetterling» werden vom Wallis bis nach Schleswig-Holstein zunehmend gängig.

Kann man Schweizerdeutsch überhaupt pflegen?
Pflege des Schweizerdeutschen kann nicht – wie in anderen deutschsprachigen Regionen – bedeuten, den Dialekten mehr Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen. Sie sind ja die selbstverständliche Wahl aller Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer für fast den gesamten Bereich der Mündlichkeit. Unter diesen Umständen ist mit Pflege des Schweizerdeutschen – ausgesprochen oder unausgesprochen – eine Pflege des «richtigen», des «guten» Schweizerdeutschen angesprochen. Wer aber weiss und bestimmt darüber, was «richtig», was «gut» ist? Und sind entsprechende Auffassungen nicht durch den Zeitgeist bestimmt? Das gegenwärtige Einvernehmen besteht darin, dass alles, was nicht nach Standardsprache «riecht», als «guter/richtiger» Dialekt oder was für «alt» gehalten wird, als «guter/richtiger» Dialekt zu gelten hat. Glücklicherweise kann niemand «guten/richtigen» Dialekt verordnen. Wer es jedoch mag und sich nicht davon abhalten lässt, einen Dialekt mit zugeschriebenen Eigenschaften wie Standardferne oder Altertümlichkeit zu gebrauchen (und nicht den Versuchungen von «Pferd» und «Träppe» erliegt), der oder die kann vielleicht zum sprachlichen «Role model» werden und mit etwas Glück zum Erhalt geliebter dialektaler Eigenheiten beitragen. Insofern kann man Schweizerdeutsch pflegen.

Soll man es?
Man darf es.


*Prof. Dr. Helen Christen ist aufgewachsen im Kanton Luzern. Matura an der Kantonsschule Sursee. Studium in Freiburg/Schweiz, Assistenzstellen in Freiburg und München. Promotion und Habilitation im Bereich Dialektologie/Variationslinguistik. Chargée de cours am Département d’allemand in Genf. Lehraufträge an verschiedenen Schweizer Universitäten. Von 2002 bis zur Emeritierung im Jahr 2021 Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg.

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