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28.02.2024

Psyche: Ängste gehören zum Menschen

28.02.2024
Interview mit Prof. Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder-​ und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
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Prof. Susanne Walitza. Bild: Frank Brüderli.

Seit zehn Jahren steigt das Therapiebedürfnis bei Kindern und Jugendlichen. Dafür gibt es Gründe. Stabile Beziehungen sind ein Mittel dagegen. Sowieso beobachten Kinder und Jugendliche die Erwachsenen und deren Umgang mit Krisen sehr genau.

Von Lukas Fürrer

Vom amerikanischen Psychiater Allen Frances gibt's das Buch «Saving normal». Wenn ich mich richtig erinnere, beklagt er darin die Pathologisierung oder Krankmachung der Gesellschaft, weil es Jahr für Jahr mehr verschiedene Diagnosen gäbe. Selber hat er lange Zeit an an dieser Diagnosensammlung mitgearbeitet notabene. Aber hat er einen Punkt? 
Susanne Walitza*: Allen Frances bezog sich mit seinen Aussagen vor allem auf US-amerikanische Verhältnisse. Er exponierte sich mit der Aussage, dass psychische Erkrankungen viel zu früh und zu oberflächlich diagnostiziert würden. Er sagte aber auch in einem Interview in der Zeitschrift Focus aus dem Jahr 2013. Ich zitiere: Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Letzte, was ich will, ist, dass jemand, der eine Therapie braucht, sie nicht bekommt oder seine Medikamente absetzt. Psychiatrie ist äußerst effektiv. Im Jahr 2013 erschien auch sein Buch, von dem Sie sprechen. In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein gewachsen, dass psychische Erkrankung sorgfältig abgeklärt werden müssen und die Diagnose und Therapieplanung ebenso sorgfältig getroffen werden müssen. Zudem weiss man auch, dass eine frühe Behandlung eine Chronifizierung der Störungen vorbeugen kann. Insofern ist seine damals in einigen Fällen berechtigte Kritik heute nicht mehr zielführend.

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Selbstwirksamkeit erleben und Lebensfreude weitergeben: zum Beispiel als Leiterin oder Leiter in der Pfadi.

Der Jugend geht es psychisch schlecht. Das hört und liest man heute viel. «Die Jugend» ist eine etwas gar heterogene Gruppe. Können Sie noch etwas spezifischer Auskunft zu den Befunden geben?
Ich würde auch nicht die Jugend, über einen Kamm scheren. Wir unterscheiden zwischen verschiedenen Altersgruppen, zwischen Mädchen und Jungen, zwischen Kindern und Jugendlichen und es gibt auch sogenannte Risikogruppen (z. B. Kinder psychisch kranker Eltern). Tatsache ist aber, dass das Bundesamt für Statistik im Dezember 2022 bei der Bekanntgabe der neuesten Zahlen zur psychischen Gesundheit von Schweizer Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen von einem Anstieg der psychiatrischen Hospitalisierungen bei den 10- bis 24-Jährigen berichtete. Das hat mehrere Gründe: Ein Grund ist die Entwicklung, sagen wir auch das Alter selbst: Kinder und Jugendliche verfügen über weniger Bewältigungsstrategien als Erwachsene und haben in Krisensituationen schnell das Gefühl, dass etwas ausser Kontrolle gerät. Das belastet und weckt Ängste. Sie beobachten auch genau, wie Eltern oder Lehrpersonen mit Krisen umgehen. Geraten die Erwachsenen in Stress, der kaum noch bewältigt werden kann, ist das für die Kinder besonders bedrohlich. Hinzu kommt, dass unsere Kinder und Jugendlichen lange schon mit Krisen konfrontiert sind: das begann mit dem Reaktorunfall in Fukushima, der Klimakrise, der Corona-Pandemie, den Kriegen. Die hohe psychische Belastung bei jungen Leuten hängt sicher auch mit persönlichen Erwartungen an die Zukunft zusammen. Fest steht, dass wir seit mehr als 10 Jahren einen Anstieg sehen, der sich seit der Pandemie weiter akzentuiert hat. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie benötigten wir nochmals deutlich mehr Therapieplätze als in den Jahren zuvor.

Pfadi 2023
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Einerseits ist es gut, wenn psychische Problem offener und rascher angesprochen werden als früher. Das führt auch zu mehr Diagnosen. Andererseits können sich Jugendliche auch rasch in einer Art Blase verfangen, wo es nur noch um das psychische Leiden geht. Das kann auch ansteckend sein. Wie damit umgehen?
Ich würde nicht von einer Blase sprechen, das wird den Sorgen und Nöten der Kinder und Jugendlichen nicht gerecht. Wir beobachten seit mehr als zehn Jahren, dass unsere Hilfsangebote vermehrt in Anspruch genommen werden. Die Zunahme liegt zum Teil an der Destigmatisierung psychischer Krankheiten, – denn heute holen sich Jugendliche und Eltern eher Hilfe als früher. Es ist aber nicht nur damit zu erklären; wir konnten feststellen, dass mit den globalen Krisen der Bedarf an Unterstützung stark anstieg. Dies betrifft nicht nur die Schweiz, es ist eine weltweite Entwicklung.

Stabile Beziehungen und gute Bezugspersonen sind wichtig für die Kinder und Jugendlichen. Halt und Vertrauen auch. Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, welche solche Werte oder auch Familie gerne einmal als konservativ schubladisiert. Mit welcher Brille blickt eine Kinder- und Jugendpsychiaterin auf die Wertedebatte?
Stabile Beziehungen, – ob in einer Kleinfamilie, Patchworkfamilie oder anderer Konstellationen, die Halt und Vertrauen vermitteln, sind für Kinder und Jugendliche enorm wichtig, ich sehe da keine Schubladisierung, wie Sie sagen. Jugendliche suchen genau das, stabile Beziehungen und Menschen, mit denen sie ihre Sorgen und Nöte besprechen können.

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Vom Zuger Jugendstaatsanwalt weiss ich, dass Eltern früher Strafen ihrer Kinder unterstützten und als Weg zur Besserung akzeptierten. Heute würden Eltern Strafen bekämpfen. Ähnliches höre ich manchmal aus den Schulen, wenn es um Problemverhalten geht. Auf Bayern 3 haben Hörerinnen und Hörer die Frage diskutiert, ob Eltern noch ein zweites Kind haben sollen, wenn das erste Kind dagegen ist. Es gab Pro und Kontra. Ich bin fast gegen einen Baum gefahren. Und dann kenne ich einen Kinderarzt, der einem Kind ein Medikament verschrieb, worauf die Mutter das Kind fragte, ob es das Medikament nehmen möchte oder nicht. Was lösen solche Erwachsenen aus?
Das sind extreme Beispiele. Befürworten Sie körperliche Strafen? Das wäre nicht akzeptabel. Oder körperliche Strafen sind nicht akzeptabel. Dass Eltern und auch Lehrpersonen mehr auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen, halte ich für eine gute Entwicklung. Natürlich müssen auch Grenzen gesetzt werden. Aber auch in den Leitlinien zu Behandlung spielt die Partizipation der Eltern und Kinder eine immer grössere Rolle.

Die familienexterne Betreuung ist eine Schnittmenge vieler politischer Parteien. Die Angebote werden ausgebaut und subventioniert. Das sei ein Bedürfnis der Eltern und der Wirtschaft. Von den Bedürfnissen der Kinder ist weniger die Rede. Welche haben sie?
Ich bin keine Politikerin und kann dazu keine fundierte Auskunft geben, bin aber überzeugt, dass unsere Politikerinnen und Politiker die Bedürfnisse der Kinder durchaus berücksichtigen. Für viele Kinder ist die familienexterne Betreuung eine Möglichkeit zur Förderung und Entfaltung. Viele Präventivmassnahmen könnten aus meiner Sicht an Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen geknüpft werden.

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Wenn wir schon bei Kindern sind: wir hören von Kindergärtnerinnen, dass es zunehmend Kinder gibt, deren Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr ausreicht, um einer Geschichte zu lauschen oder ein Bilderbuch anzuschauen. Ist etwas dran an der veränderten Aufmerksamkeitsspanne?
Die Häufigkeit von ADHS ist gemäss Studien im Kindes- und Jugendalter seit mehr als 30 Jahren relativ stabil und liegt bei  5 % in der Allgemeinbevölkerung, wenn die Symptome der ADHS weiter gefasst werden. Das heisst nicht, dass 5 % eine intensive Behandlung brauchen. Eine Abklärung ist angebracht, wenn bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen folgende Symptome auftreten: Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und Konzentration oder erhöhte Unruhe oder Impulsivität. Aber auch bei Entwicklungs-, Lern-/Leistungs- oder Verhaltensproblemen. Eine Behandlung ist angebracht, wenn diese genannten Symptome zu schweren Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung führen.

Es gibt ein Asterix-Heft, in welchem ein Mann Angst hat, dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Der Psychiater empfiehlt ihm, auf den Händen zu gehen, um sich sicher zu fühlen. Seine Angst ist verflogen. Gibt es einen Königsweg für die Lösung psychischer Probleme?
Den Königsweg gibt es wohl nicht. Was die Ängste betrifft: Sie gehören zum Menschsein. Sie begleiten Entwicklungsschritte bei Kindern und Jugendlichen und können sogar stärker machen. Bereits mit Grundschulkindern kann man über Ängste sprechen und darüber, wie man Ängsten begegnen kann. Mutig ist nicht, wer keine Angst hat, sondern wer sich seiner Angst stellt.

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Susanne Walitza. Bild: Frank Brüderli.

* Prof. Dr. Susanne Walitza ist Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

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